§ 21. Apriorität des Kausalitätsbegriffes. – Intellektualität der empirischen Anschauung. – Der Verstand.

[65] In der Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren wird man noch immer finden, daß die Anschauung der Außenwelt Sache der Sinne sei; worauf dann ein Langes und Breites über jeden der fünf Sinne folgt. Hingegen die Intellektualität der Anschauung, nämlich daß sie in der Hauptsache das Werk des Verstandes sei, welcher mittelst der ihm eigenthümlichen Form der Kausalität und der dieser untergelegten der reinen Sinnlichkeit, also Zeit und Raum, aus dem rohen Stoff einiger Empfindungen in den Sinnesorganen diese objektive Außenwelt allererst schafft und hervorbringt, davon ist keine Rede. Und doch habe ich die Sache, in ihren Hauptzügen, bereits in der ersten Auflage gegenwärtiger Abhandlung, vom J. 1813, S. 53-55 aufgestellt und bald darauf, im J. 1816, in meiner Abhandlung über das Sehn und die Farben sie völlig ausgeführt, welcher Darstellung der Prof. Rosas in Wien seinen Beifall dadurch bezeugt hat, daß er sich durch sie zum Plagiat verleiten ließ; worüber das Nähere zu ersehn im »Willen in der Natur« S. 19. Hingegen haben die Philosophieprofessoren so wenig von dieser, wie von andern großen und wichtigen Wahrheiten, welche darzulegen, um sie dem menschlichen Geschlechte auf immer anzueignen, die Aufgabe und Arbeit meines ganzen Lebens gewesen ist, – irgend Notiz genommen: ihnen mundet das nicht; es paßt alles nicht in ihren Kram; es führt zu keiner Theologie; es ist ja auf gehörige Studentenabrichtung zu höchsten Staatszwecken gar nicht ein Mal angelegt; kurzum, sie wollen von mir nichts lernen, und sehn nicht, wie sehr viel sie von mir zu lernen hätten: alles Das nämlich, was ihre Kinder, Enkel und Urenkel von mir lernen werden. Statt Dessen setzt Jeder von ihnen sich hin, um in einer lang ausgesponnenen Metaphysik das Publikum mit seinen Originalgedanken zu bereichern. Wenn Finger dazu berechtigen, so ist er berechtigt. Aber wahrlich, Machiavelli hat Recht, wenn er, – wie schon vor ihm Hesiodus (erga, 293) –, sagt : »Es giebt dreierlei Köpfe: erstlich solche, welche aus eigenen Mitteln Einsicht und Verstand von den Sachen erlangen; dann solche, die das Rechte erkennen,[66] wenn Andere es ihnen darlegen; endlich solche, welche weder zum Einen noch zum Andern fähig sind. « (il principe, c. 22.)

Man muß von allen Göttern verlassen seyn, um zu wähnen, daß die anschauliche Welt da draußen, wie sie den Raum in seinen drei Dimensionen füllt, im unerbittlich strengen Gange der Zeit sich fortbewegt, bei jedem Schritte durch das ausnahmslose Gesetz der Kausalität geregelt wird, in allen diesen Stücken aber nur die Gesetze befolgt, welche wir, vor aller Erfahrung davon, angeben können, – daß eine solche Welt da draußen ganz objektiv-real und ohne unser Zuthun vorhanden wäre, dann aber, durch die bloße Sinnesempfindung, in unsern Kopf hineingelangte, woselbst sie nun, wie da draußen, noch ein Mal dastände. Denn was für ein ärmliches Ding ist doch die bloße Sinnesempfindung! Selbst in den edelsten Sinnesorganen ist sie nichts mehr, als ein lokales, specifisches, innerhalb seiner Art einiger Abwechselung fähiges, jedoch an sich selbst stets subjektives Gefühl, welches als solches gar nichts Objektives, also nichts einer Anschauung Ähnliches enthalten kann. Denn die Empfindung jeder Art ist und bleibt ein Vorgang im Organismus selbst, als solcher aber auf das Gebiet unterhalb der Haut beschränkt, kann daher, an sich selbst, nie etwas enthalten, das jenseit dieser Haut, also außer uns läge. Sie kann angenehm oder unangenehm seyn, – welches eine Beziehung auf unsern Willen besagt, – aber etwas Objektives liegt in keiner Empfindung. Die Empfindung in den Sinnesorganen ist eine durch den Zusammenfluß der Nervenenden erhöhte, wegen der Ausbreitung und der dünnen Bedeckung derselben leicht von außen erregbare und zudem irgend einem speciellen Einfluß, – Licht, Schall, Duft, – besonders offen stehende; aber sie bleibt bloße Empfindung, so gut wie jede andere im Innern unsers Leibes, mithin etwas wesentlich Subjektives, dessen Veränderungen unmittelbar bloß in der Form des innern Sinnes, also der Zeit allein, d.h. successiv, zum Bewußtsein gelangen. Erst wenn der Verstand, – eine Funktion, nicht einzelner zarter Nervenenden, sondern des so künstlich und räthselhaft gebauten, drei, ausnahmsweise aber bis fünf Pfund wiegenden Gehirns, – in Thätigkeit geräth und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird. Er nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen[67] Form, also a priori, d.i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf (ein Wort, welches er allein versteht), die als solche nothwendig eine Ursache haben muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellekt, d.i. im Gehirn, prädisponirt liegende Form des äußern Sinnes zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch erst entsteht ihm das Außerhalb, dessen Möglichkeit eben der Raum ist; so daß die reine Anschauung a priori die Grundlage der empirischen abgeben muß. Bei diesem Proceß nimmt nun der Verstand, wie ich bald näher zeigen werde, alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entsprechend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren. Diese (übrigens von Schelling, im I. Band seiner philos. Schriften, v. 1809, S. 237, 38, desgleichen von Fries, in seiner Kritik d. Vernunft, Bd. I. S. 52-56 und 290 d. ersten Aufl. ausdrücklich geleugnete) Verstandesoperation ist jedoch keine diskursive, reflektive, in abstracto, mittelst Begriffen und Worten, vor sich gehende; sondern eine intuitive und ganz unmittelbare. Denn durch sie allein, mithin im Verstande und für den Verstand, stellt sich die objektive, reale, den Raum in drei Dimensionen füllende Körperwelt dar, die alsdann, in der Zeit, dem selben Kausalitätsgesetze gemäß, sich ferner verändert und im Raume bewegt. – Demnach hat der Verstand die objektive Welt erst selbst zu schaffen: nicht aber kann sie, schon vorher fertig, durch die Sinne und die Öffnungen ihrer Organe, bloß in den Kopf hineinspazieren. Die Sinne nämlich liefern nichts weiter, als den rohen Stoff, welchen allererst der Verstand, mittelst der angegebenen einfachen Formen, Raum, Zeit und Kausalität, in die objektive Auffassung einer gesetzmäßig geregelten Körperwelt umarbeitet. Demnach ist unsere alltägliche, empirische Anschauung eine intellektuale, und ihr gebührt dieses Prädikat, welches die philosophischen Windbeutel in Deutschland einer vorgeblichen Anschauung erträumter Welten, in welchen ihr beliebtes Absolutum seine Evolutionen vornähme, beigelegt haben. Ich aber will jetzt zunächst die große Kluft zwischen Empfindung und Anschauung näher nachweisen, indem ich darlege, wie roh der Stoff ist, aus dem das schöne Werk erwächst.

Der objektiven Anschauung dienen eigentlich nur zwei Sinne:[68] das Getast und das Gesicht. Sie allein liefern die Data, auf deren Grundlage der Verstand, durch den angegebenen Proceß, die objektive Welt entstehn läßt. Die andern drei Sinne bleiben in der Hauptsache subjektiv: denn ihre Empfindungen deuten zwar auf eine äußere Ursache, aber enthalten keine Data zur Bestimmung räumlicher Verhältnisse derselben. Nun ist aber der Raum die Form aller Anschauung, d.i. der Apprehension, in welcher allein Objekte sich eigentlich darstellen können. Daher können jene drei Sinne zwar dienen, uns die Gegenwart der uns schon anderweitig bekannten Objekte anzukündigen; aber auf Grundlage ihrer Data kommt keine räumliche Konstruktion, also keine objektive Anschauung zu Stande. Aus dem Geruch können wir nie die Rose konstruiren; und ein Blinder kann sein Leben lang Musik hören, ohne von den Musikern, oder den Instrumenten, oder den Luftvibrationen, die mindeste objektive Vorstellung zu erhalten. Das Gehör hat dagegen seinen hohen Werth als Medium der Sprache, wodurch es der Sinn der Vernunft ist, deren Name sogar von ihm stammt; sodann als Medium der Musik, des einzigen Weges komplicirte Zahlenverhältnisse, nicht bloß in abstracto, sondern unmittelbar, also in concreto, aufzufassen. Aber der Ton deutet nie auf räumliche Verhältnisse, führt also nie auf die Beschaffenheit seiner Ursache; sondern wir bleiben bei ihm selbst stehn: mithin ist er kein Datum für den die objektive Welt konstruirenden Verstand. Dies sind allein die Empfindungen des Getasts und Gesichts: daher würde ein Blinder ohne Hände und Füße zwar den Raum in seiner ganzen Gesetzmäßigkeit a priori sich konstruiren können, aber von der objektiven Welt nur eine sehr unklare Vorstellung erhalten. Dennoch aber ist was Getast und Gesicht liefern noch keineswegs die Anschauung, sondern bloß der rohe Stoff dazu: denn in den Empfindungen dieser Sinne liegt so wenig die Anschauung, daß dieselben vielmehr noch gar keine Ähnlichkeit haben mit den Eigenschaften der Dinge, die mittelst ihrer sich uns darstellen; wie ich sogleich zeigen werde. Nur muß man hiebei Das, was wirklich der Empfindung angehört, deutlich aussondern von Dem, was in der Anschauung der Intellekt hinzugethan hat. Dies ist Anfangs schwer; weil wir so sehr gewohnt sind, von der Empfindung sogleich zu ihrer Ursache überzugehen, daß diese sich uns darstellt, ohne daß wir die Empfindung, welche hier gleichsam die Prämissen zu jenem Schlusse des Verstandes liefert, an und für sich beachten.[69]

Getast und Gesicht nun also haben zuvörderst jedes seine eigenen Vortheile; daher sie sich wechselseitig unterstützen. Das Gesicht bedarf keiner Berührung, ja keiner Nähe: sein Feld ist unermeßlich, geht bis zu den Sternen. Sodann empfindet es die feinsten Nuancen des Lichts, des Schattens, der Farbe, der Durchsichtigkeit: es liefert also dem Verstande eine Menge fein bestimmter Data, aus welchen er, nach erlangter Übung, die Gestalt, Größe, Entfernung und Beschaffenheit der Körper konstruirt und sogleich anschaulich darstellt. Hingegen ist das Getast zwar an den Kontakt gebunden, giebt aber so untrügliche und vielseitige Data, daß es der gründlichste Sinn ist. Die Wahrnehmungen des Gesichts beziehn sich zuletzt doch auf das Getast; ja, das Sehn ist als ein unvollkommenes, aber in die Ferne gehendes Tasten zu betrachten, welches sich der Lichtstrahlen als langer Taststangen bedient: daher eben ist es vielen Täuschungen ausgesetzt, weil es ganz auf die durch das Licht vermittelten Eigenschaften beschränkt, also einseitig ist; während das Getast ganz unmittelbar die Data zur Erkenntniß der Größe, Gestalt, Härte, Weiche, Trockenheit, Nässe, Glätte, Temperatur, u, s. w. liefert und dabei unterstützt wird theils durch die Gestalt und Beweglichkeit der Arme, Hände und Finger, aus deren Stellung beim Tasten der Verstand die Data zur räumlichen Konstruktion der Körper entnimmt; theils durch die Muskelkraft, mittelst welcher er die Schwere, Festigkeit, Zähigkeit oder Spröde der Körper erkennt: Alles mit geringster Möglichkeit der Täuschung.

Bei allen Dem geben diese Data durchaus noch keine Anschauung; sondern diese bleibt das Werk des Verstandes. Drücke ich mit der Hand gegen den Tisch, so liegt in der Empfindung, die ich davon erhalte, durchaus nicht die Vorstellung des festen Zusammenhangs der Theile dieser Masse, ja gar nichts dem Ähnliches; sondern erst indem mein Verstand von der Empfindung zur Ursache derselben übergeht, konstruirt er sich einen Körper, der die Eigenschaft der Solidität, Undurchdringlichkeit und Härte hat. Wenn ich im Finstern meine Hand auf eine Fläche lege, oder aber eine Kugel von etwan drei Zoll Durchmesser ergreife: so sind es, in beiden Fällen, die selben Theile der Hand, welche den Druck empfinden: bloß aus der verschiedenen Stellung, die, im einen, oder im andern Fall, meine Hand annimmt, konstruirt mein Verstand die Gestalt des Körpers, mit welchem in Berührung gekommen zu seyn die Ursache der[70] Empfindung ist, und er bestätigt sie sich dadurch, daß ich die Berührungsstellen wechseln lasse. Betastet ein Blindgeborener einen kubischen Körper, so sind die Empfindungen der Hand dabei ganz einförmig und bei allen Seiten und Richtungen die selben: die Kanten drücken zwar einen kleinern Theil der Hand: doch liegt in diesen Empfindungen durchaus nichts einem Kubus Ähnliches. Aber von dem gefühlten Widerstande macht sein Verstand den unmittelbaren und intuitiven Schluß auf eine Ursache desselben, die jetzt, eben dadurch, sich als fester Körper darstellt; und aus den Bewegungen, die, beim Tasten, seine Arme machen, während die Empfindung der Hände die selbe bleibt, konstruirt er, in dem ihm a priori bewußten Raum, die kubische Gestalt des Körpers. Brächte er die Vorstellung einer Ursache und eines Raumes, nebst den Gesetzen desselben, nicht schon mit; so könnte nimmermehr aus jener successiven Empfindung in seiner Hand das Bild eines Kubus hervorgehn. Läßt man durch seine geschlossene Hand einen Strick laufen; so wird er als Ursache der Reibung und ihrer Dauer, bei solcher Lage seiner Hand, einen langen, cylinderförmigen, sich in Einer Richtung gleichförmig bewegenden Körper konstruiren. Nimmermehr aber könnte ihm aus jener bloßen Empfindung in seiner Hand die Vorstellung der Bewegung, d.i. der Veränderung des Ortes im Raum, mittelst der Zeit, entstehn: denn so etwas kann in ihr nicht liegen, noch kann sie allein es jemals erzeugen. Sondern sein Intellekt muß, vor aller Erfahrung, die Anschauungen des Raumes, der Zeit, und damit der Möglichkeit der Bewegung, in sich tragen, und nicht weniger die Vorstellung der Kausalität, um nun von der allein empirisch gegebenen Empfindung überzugehn auf eine Ursache derselben und solche dann als einen sich also bewegenden Körper, von der bezeichneten Gestalt, zu konstruiren. Denn, wie groß ist doch der Abstand zwischen der bloßen Empfindung in der Hand und den Vorstellungen der Ursächlichkeit, Materialität und der durch die Zeit vermittelten Bewegung im Raum! Die Empfindung in der Hand, auch bei verschiedener Berührung und Lage, ist etwas viel zu Einförmiges und an Datis Ärmliches, als daß es möglich wäre, daraus die Vorstellung des Raumes, mit seinen drei Dimensionen, und der Einwirkung von Körpern auf einander, nebst den Eigenschaften der Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Kohäsion, Gestalt, Härte, Weiche, Ruhe und Bewegung, kurz, die Grundlage der[71] objektiven Welt, zu konstruiren: sondern Dies ist nur dadurch möglich, daß im Intellekt selbst der Raum als Form der Anschauung, die Zeit als Form der Veränderung, und das Gesetz der Kausalität als Regulator des Eintritts der Veränderungen präformirt seien. Das bereits fertige und aller Erfahrung vorhergängige Daseyn dieser Formen macht eben den Intellekt aus. Physiologisch ist er eine Funktion des Gehirns, welche dieses so wenig erst aus der Erfahrung erlernt, wie der Magen das Verdauen, oder die Leber die Gallenabsonderung. Nur hieraus ist es erklärlich, daß manche Blindgeborene eine so vollständige Kenntniß der räumlichen Verhältnisse erlangen, daß sie dadurch den Mangel des Gesichts in hohem Grade ersetzen und erstaunliche Leistungen vollbringen; wie denn vor hundert Jahren der von Kindheit auf blinde Saunderson zu Cambridge Mathematik, Optik und Astronomie gelehrt hat. (Ausführlichen Bericht über Saunderson giebt Diderot: Lettre sur les aveugles.) Und eben so nur ist der umgekehrte Fall der Eva Lauk erklärlich, welche, ohne Arme und Beine geboren, durch das Gesicht allein, eben so bald wie andere Kinder, eine richtige Anschauung der Außenwelt erlangt hat. (Den Bericht über sie findet man in der »Welt als Wille und Vorstellung« Bd. 2, Kap. 4.) Alles Dieses also beweist, daß Zeit, Raum und Kausalität weder durch das Gesicht, noch durch das Getast, sondern überhaupt nicht von außen in uns kommen, vielmehr einen innern, daher nicht empirischen, sondern intellektuellen Ursprung haben; woraus wieder folgt, daß die Anschauung der Körperwelt im Wesentlichen ein intellektueller Proceß, ein Werk des Verstandes ist, zu welchem die Sinnesempfindung bloß den Anlaß und die Data, zur Anwendung im einzelnen Falle, liefert.

Jetzt will ich das Selbe am Sinne des Gesichts nachweisen. Das unmittelbar Gegebene ist hier beschränkt auf die Empfindung der Retina, welche zwar viele Mannigfaltigkeit zuläßt, jedoch zurückläuft auf den Eindruck des Hellen und Dunkeln, nebst ihren Zwischenstufen, und den der eigentlichen Farben. Diese Empfindung ist durchaus subjektiv, d.h. nur innerhalb des Organismus und unter der Haut vorhanden. Auch würden wir, ohne den Verstand, uns jener nur bewußt werden als besonderer und mannigfaltiger Modifikationen unserer Empfindung im Auge, die nichts der Gestalt, Lage, Nähe oder Ferne von Dingen[72] außer uns Ähnliches wären. Denn, was beim Sehn die Empfindung liefert ist nichts weiter, als eine mannigfaltige Affektion der Retina, ganz ähnlich dem Anblick einer Palette, mit vielerlei bunten Farbenklexen: und nicht mehr als Dies ist es, was im Bewußtseyn übrig bleiben würde, wenn man Dem, der vor einer ausgebreiteten, reichen Aussicht steht, etwan durch Lähmung des Gehirns, plötzlich den Verstand ganz entziehn, jedoch die Empfindung übrig lassen könnte: denn Dies war der rohe Stoff, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf.

Daß nun aus einem so beschränkten Stoff, wie Hell, Dunkel und Farbe, der Verstand, durch seine so einfache Funktion des Beziehns der Wirkung auf eine Ursache, unter Beihülfe der ihm beigegebenen Anschauungsform des Raums, die so unerschöpflich reiche und vielgestaltete sichtbare Welt hervorbringen kann, beruht zunächst auf der Beihülfe, die hier die Empfindung selbst liefert. Diese besteht darin, daß, erstlich, die Retina, als Fläche, ein Nebeneinander des Eindrucks zuläßt; zweitens, daß das Licht stets in geraden Linien wirkt, auch im Auge selbst geradlinigt gebrochen wird, und endlich, daß die Retina die Fähigkeit besitzt, auch die Richtung, in der sie vom Lichte getroffen wird, unmittelbar mit zu empfinden, welches wohl nur dadurch zu erklären ist, daß der Lichtstrahl in die Dicke der Retina eindringt. Hiedurch aber wird gewonnen, daß der bloße Eindruck auch schon die Richtung seiner Ursache anzeigt, also auf den Ort des das Licht aussendenden, oder reflektirenden, Objekts geradezu hindeutet. Allerdings setzt der Übergang zu diesem Objekt als Ursache schon die Erkenntniß des Kausalverhältnisses, wie auch der Gesetze des Raums voraus: diese Beiden aber sind eben die Ausstattung des Intellekts, der auch hier wieder aus der bloßen Empfindung die Anschauung zu schaffen hat. Sein Verfahren hiebei wollen wir jetzt näher betrachten.

Das Erste, was er thut, ist, daß er den Eindruck des Objekts, welcher verkehrt, das Unterste oben, auf der Retina eintrifft, wieder aufrecht stellt. Jene ursprüngliche Umkehrung entsteht bekanntlich dadurch, daß, indem jeder Punkt des sichtbaren Objekts seine Strahlen geradlinigt nach allen Seiten aussendet, die von dessen oberm Ende kommenden Strahlen sich, in der engen Öffnung der Pupille, mit den vom untern Ende kommenden kreuzen, wodurch diese oben, jene unten, und eben so[73] die von der rechten Seite kommenden auf der linken, eintreffen. Der dahinter liegende Brechungsapparat im Auge, also humor aqueus, lens et corpus vitreum, dient bloß, die vom Objekt ausgehenden Lichtstrahlen so zu koncentriren, daß sie auf dem kleinen Raum der Retina Platz finden. Bestände nun das Sehn im bloßen Empfinden; so würden wir den Eindruck des Gegenstandes verkehrt wahrnehmen; weil wir ihn so empfangen: sodann aber würden wir ihn auch als etwas im Innern des Auges Befindliches wahrnehmen, indem wir eben stehn bleiben bei der Empfindung. Wirklich hingegen tritt sogleich der Verstand mit seinem Kausalgesetze ein, bezieht die empfundene Wirkung auf ihre Ursache, hat von der Empfindung das Datum der Richtung, in welcher der Lichtstrahl eintraf, verfolgt also diese rückwärts zur Ursache hin, auf beiden Linien: die Kreuzung wird daher jetzt auf umgekehrtem Wege wieder zurückgelegt, wodurch die Ursache sich draußen, als Objekt im Raum, aufrecht darstellt, nämlich in der Stellung wie sie die Strahlen aussendet, nicht in der wie sie eintrafen (siehe Fig. 1). Die reine Intellektualität der Sache, mit Ausschließung aller anderweitigen, namentlich physiologischen, Erklärungsgründe, läßt sich auch noch dadurch bestätigen, daß, wenn man den Kopf zwischen die Beine steckt, oder am Abhange, den Kopf nach unten, liegt, man dennoch die Dinge nicht verkehrt, sondern ganz richtig erblickt, obgleich den Theil der Retina, welchen gewöhnlich das Untere der Dinge traf, jetzt das Obere trifft, und Alles umgekehrt ist, nur der Verstand nicht.


Fig. 1
Fig. 1

Das Zweite, was der Verstand bei seiner Umarbeitung der Empfindung in Anschauung leistet, ist, daß er das zwei Mal Empfundene zu einem einfach Angeschauten macht; da jedes Auge für sich, und sogar in einer etwas verschiedenen Richtung, den Eindruck: vom Gegenstand erhält, dieser aber doch als nur Einer sich darstellt; welches nur im Verstande geschehn kann. Der Proceß, durch den Dies zu Stande kommt, ist folgender. Unsere Augen stehn nur dann parallel, wenn wir in die Ferne, d.h. über 200 Fuß weit, sehn: außerdem aber richten wir sie beide auf den zu betrachtenden Gegenstand, wodurch sie konvergiren und die beiden, von jedem Auge bis zum genau fixirten Punkte des Objekts gezogenen Linien daselbst einen Winkel schließen, den man den optischen, sie selbst aber die Augenaxen nennt. Diese treffen, bei gerade vor uns liegendem[74] Objekt, genau in die Mitte jeder Retina, mithin auf zwei in jedem Auge einander genau entsprechende Punkte. Alsbald erkennt der Verstand, als welcher zu Allem immer nur die Ursache sucht, daß, obwohl hier der Eindruck doppelt ist, derselbe dennoch von nur einem äußern Punkte ausgeht, also nur eine Ursache ihm zum Grunde liegt: demnach stellt nunmehr diese Ursache sich als Objekt und nur einfach dar. Denn Alles, was wir anschauen, schauen wir als Ursache an, als Ursache empfundener Wirkung, mithin im Verstande. Da wir indessen nicht bloß Einen Punkt, sondern eine ansehnliche Fläche des Gegenstandes mit beiden Augen und doch nur einfach auffassen; so ist die gegebene Erklärung noch etwas weiter fortzuführen. Was im Objekt seitwärts von jenem Scheitelpunkte des optischen Winkels liegt, wirft seine Strahlen nicht mehr gerade in den Mittelpunkt jeder Retina, sondern eben so seitwärts von demselben, jedoch, in beiden Augen, auf die nämliche, z.B. die linke, Seite der Retina: daher sind die Stellen, welche die Strahlen daselbst treffen, eben so gut wie die Mittelpunkte, einander symmetrisch entsprechende, oder gleichnamige Stellen. Der Verstand lernt diese bald kennen und dehnt demnach die obige Regel seiner kausalen Auffassung auch auf sie aus, bezieht folglich nicht bloß die auf den Mittelpunkt jeder Retina fallenden Lichtstrahlen, sondern auch die, welche die übrigen einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen treffen, auf einen und den selben solche aussendenden Punkt im Objekt, schaut also auch alle diese Punkte, mithin das ganze Objekt, nur einfach an. Hiebei nun ist wohl zu merken, daß nicht etwan die äußere Seite der einen Retina der äußern Seite der andern und die innere der Innern, sondern die Seite der rechten Retina der rechten Seite der andern entspricht u.s.f., die Sache also nicht im physiologischen, sondern im geometrischen Sinne zu verstehn ist. Deutliche und mannigfaltige, diesen Vorgang und alle damit zusammenhängenden Phänomene erläuternde Figuren findet man in Robert Smith's Optics, auch zum Theil in Kästner's Deutscher Übersetzung, von 1755.


Fig. 2
Fig. 2

Ich habe, Fig 2. nur eine gegeben, welche eigentlich einen weiterhin beizubringenden speciellen Fall darstellt, jedoch auch dienen kann, das Ganze zu erläutern, wenn man vom Punkte R ganz absieht. Wir richtendem gemäß beide Augen allezeit gleichmäßig[75] auf das Objekt, um die von den selben Punkten ausgehenden Strahlen mit den einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen aufzufangen. Bei der Bewegung der Augen seitwärts, aufwärts, abwärts und nach allen Richtungen, trifft nun der Punkt des Objekts, welcher vorhin den Mittelpunkt jeder Retina traf, jedesmal eine andere, aber stets, in beiden Augen, eine gleichnamige, der im andern entsprechende, Stelle. Wenn wir einen Gegenstand mustern (perlustrare), lassen wir die Augen hin und her darauf gleiten, um jeden Punkt desselben successive mit dem Centro der Retina, welches am deutlichsten sieht, in Kontakt zu bringen, betasten also das Objekt mit den Augen. Hieraus wird deutlich, daß das Einfachsehn mit zwei Augen sich im Grunde eben so verhält, wie das Betasten eines Körpers mit 10 Fingern, deren jeder einen andern Eindruck und auch in anderer Richtung erhält, welche sämmtlichen Eindrücke jedoch der Verstand als von Einem Körper herrührend erkennt, dessen Gestalt und Größe er danach apprehendirt und räumlich konstruirt. Hierauf beruht es, daß ein Blinder ein Bildhauer seyn kann: ein solcher war seit seinem fünften Jahre der im J.1853 in Tyrol gestorbene, rühmlich bekannte Joseph KleinhannsA1. Denn die Anschauung geschieht immer durch den Verstand; gleichviel, von welchem Sinn er die Data erhält.

Wie nun aber, wenn ich eine Kugel mit gekreuzten Fingern betaste, ich sofort zwei Kugeln zu fühlen glaube, weil mein auf die Ursache zurückgehender und diese den Gesetzen des Raumes gemäß konstruirender Verstand, die natürliche Lage der Finger voraussetzend, zwei Kugelflächen, welche die äußeren Seiten des Mittel- und des Zeigefingers zugleich berühren, durchaus zweien verschiedenen Kugeln zuschreiben muß; eben so nun wird mir ein gesehenes Objekt doppelt erscheinen, wenn meine Augen[76] nicht mehr, gleichmäßig konvergirend, den optischen Winkel an einem Punkte desselben schließen, sondern jedes in einem andern Winkel nach demselben schaut, d.h. wenn ich schiele. Denn jetzt werden nicht mehr von den aus einem Punkte des Objekts ausgehenden Strahlen auf den beiden Retinen die einander symmetrisch entsprechenden Stellen getroffen, welche mein Verstand, durch fortgesetzte Erfahrung, kennen gelernt hat; sondern ganz verschiedene Stellen, welche, bei gleichmäßiger Lage der Augen, nur von verschiedenen Körpern also afficirt werden können: daher sehe ich jetzt zwei Objekte; weil eben die Anschauung durch den Verstand und im Verstande geschieht. – Das Selbe tritt auch ohne Schielen ein, wenn nämlich zwei Gegenstände in ungleicher Entfernung vor mir stehn und ich den entfernteren fest ansehe, also an ihm den optischen Winkel schließe: denn jetzt werden die vom näher stehenden Gegenstande ausgehenden Strahlen auf einander nicht symmetrisch entsprechende Stellen in beiden Retinen treffen, mein Verstand wird daher sie zweien Gegenständen zuschreiben, d.h. ich werde das näher stehende Objekt doppelt sehn. (Hiezu Fig. 3 ) Schließe ich hingegen an diesem letzteren den optischen Winkel, indem ich es fest ansehe; so wird, aus dem nämlichen Grunde, das entferntere Objekt mir doppelt erscheinen. Man darf, um dies zu erproben, nur etwan einen Bleistift zwei Fuß vom Auge halten und abwechselnd bald ihn, bald ein weit dahinter liegendes Objekt ansehn.

Aber das Schönste ist, daß man auch das umgekehrte Experiment machen kann; so daß man, zwei wirkliche Gegenstände gerade und nahe vor beiden, offenen Augen habend, doch nur einen sieht; welches am schlagendesten beweist, daß die Anschauung keineswegs in der Sinnesempfindung liegt, sondern durch einen Akt des Verstandes geschieht. Man lasse zwei pappene Röhren, von etwan 8 Zoll Länge und 1 1/2 Zoll Durchmesser, vollkommen parallel, nach Art des Binokularteleskops, zusammenfügen, und befestige vor der Öffnung eines jeden derselben ein Achtgroschenstück. Wenn man jetzt, das andere Ende an die Augen legend, durchschaut, wird man nur ein Achtgroschenstück, von einer Röhre umschlossen, wahrnehmen. Denn, durch die Röhren, zur gänzlich parallelen Lage genöthigt, werden beide Augen von beiden Münzen gerade im Centro der Retina und den dieses umgebenden, einander folglich[77] symmetrisch entsprechenden Stellen ganz gleichmäßig getroffen; daher der Verstand, die, bei nahen Objekten sonst gewöhnliche, ja nothwendige, konvergirende Stellung der Augenaxen voraussetzend, ein einziges Objekt als Ursache des also zurückgestrahlten Lichtes annimmt, d.h. wir nur Eines sehn: so unmittelbar ist die kausale Apprehension des Verstandes.

Die versuchten physiologischen Erklärungen des Einfachsehns einzeln zu widerlegen ist hier kein Raum. Ihre Falschheit geht aber schon aus folgenden Betrachtungen hervor, 1) Wenn die Sache auf einem organischen Zusammenhange beruhte, müßten die auf beiden Retinen einander entsprechenden Stellen, von denen nachweislich das Einfachsehn abhängt, die im organischen Sinne gleichnamigen seyn: allein sie sind es, wie schon erwähnt, bloß im geometrischen. Denn organisch entsprechen einander die beiden innern und die beiden äußern Augenwinkel und Alles demgemäß: hingegen zum Behuf des Einfachsehns entspricht umgekehrt die rechte Seite der rechten Retina der rechten Seite der linken Retina u.s.w.; wie Dies aus den angeführten Phänomenen unwiderleglich erhellt. Eben weil die Sache intellektual ist, haben auch nur die verständigsten Thiere, nämlich die obern Säugethiere, sodann die Raubvögel, vorzüglich die Eulen, u.a.m., so gestellte Augen, daß sie beide Axen derselben auf Einen Punkt richten können, 2) Die zuerst von Neuton (Optics, querry 15th) aufgestellte Hypothese aus dem Zusammenfluß oder partieller Kreuzung der Sehnerven, vor ihrem Eintritt ins Gehirn, ist schon darum falsch, weil alsdann das Doppeltsehn durch Schielen unmöglich wäre: zudem haben bereits Vesalius und Caesalpinus anatomische Fälle angeführt, in denen gar keine Vermischung, ja, kein Kontakt der Sehnerven daselbst Statt fand, die Subjekte aber nichtsdestoweniger einfach gesehn hatten. Endlich spricht gegen jene Vermischung des Eindrucks Dieses, daß, wenn man, das rechte Auge fest zuhaltend, mit dem linken in die Sonne sieht, man das, nachher lange anhaltende Blendungsbild nur im linken, nie im rechten Auge haben wird, oder vice versa.

Das Dritte, wodurch der Verstand die Empfindung in Anschauung umarbeitet, ist, daß er aus den bis hieher gewonnenen bloßen Flächen Körper konstruirt, also die dritte Dimension hinzufügt, indem er die Ausdehnung der Körper in derselben, in dem ihm a priori bewußten Raume, nach Maaßgabe der Art[78] ihrer Einwirkung auf das Auge und der Gradationen des Lichtes und Schattens, kausal beurtheilt. Während nämlich die Objekte den Raum in allen dreien Dimensionen füllen, können sie auf das Auge nur mit zweien wirken: die Empfindung beim Sehn ist, in Folge der Natur des Organes, bloß planimetrisch, nicht stereometrisch. Alles Stereometrische der Anschauung wird vom Verstande allererst hinzugethan: seine alleinigen Data hiezu sind die Richtung, in der das Auge den Eindruck erhält, die Gränzen desselben und die verschiedenen Abstufungen des Hellen und Dunkeln, welche unmittelbar auf ihre Ursachen deuten und wonach wir erkennen, ob wir z.B. eine Scheibe, oder eine Kugel vor uns haben. Auch diese Verstandesoperation wird, gleich den vorhergehenden, so unmittelbar und schnell vollzogen, daß von ihr nichts, als bloß das Resultat, ins Bewußtseyn kommt. Daher eben ist die Projektionszeichnung eine so schwierige, nur nach mathematischen Principien zu lösende Aufgabe und muß erst erlernt werden, obgleich sie nichts weiter zu leisten hat, als die Darstellung der Empfindung des Sehns, wie solche dieser dritten Verstandesoperation als Datum vorliegt, also des Sehns in seiner bloß planimetrischen Ausdehnung, zu deren allein gegebenen zwei Dimensionen, nebst den besagten Datis in ihnen, der Verstand alsbald die dritte hinzuthut, sowohl beim Anblick der Zeichnung, wie bei dem der Realität. Eine solche Zeichnung ist nämlich eine Schrift, welche, gleich der gedruckten. Jeder lesen, hingegen Wenige schreiben können; weil eben unser anschauender Verstand die Wirkung bloß auffaßt, um aus ihr die Ursache zu konstruiren, sie selbst aber, über dieser, alsbald ganz außer Acht läßt. Daher erkennen wir z.B. einen Stuhl augenblicklich, in jeder ihm möglichen Stellung und Lage; aber ihn in irgend einer zu zeichnen ist Sache derjenigen Kunst, die von dieser dritten Verstandesoperation abstrahirt, um bloß die Data zu derselben dem Beschauer, zu eigener Vollziehung, vorzulegen. Dies ist, wie gesagt, zunächst die Projektions-Zeichnenkunst, dann aber, im Alles umfassenden Sinn, die Malerkunst. Das Bild liefert Linien, nach perspektivischen Regeln gezogen, helle und dunkle Stellen, nach Maaßgabe der Wirkung des Lichtes und Schattens, endliche Farbenflecke, in Qualität und Intension der Erfahrung abgelernt. Der Beschauer liest Dies ab, indem er zu gleichen Wirkungen die gewohnten Ursachen setzt. Die Kunst des Malers[79] besteht darin, daß er die Data der Empfindung beim Sehn, wie sie vor dieser dritten Verstandesoperation sind, mit Besonnenheit festzuhalten weiß; während wir Andern, sobald wir von ihnen den besagten Gebrauch gemacht haben, sie wegwerfen, ohne sie in unser Gedächtniß aufzunehmen. Wir werden die hier betrachtete dritte Verstandesoperation noch genauer kennen lernen, indem wir jetzt zu einer vierten übergehn, welche, als ihr sehr nahe verwandt, sie mit erläutert.

Diese vierte Verstandesoperation besteht nämlich im Erkennen der Entfernung der Objekte von uns: diese aber ist eben die dritte Dimension, von der oben die Rede war. Die Empfindung beim Sehn liefert uns zwar, wie schon gesagt, die Richtung, in welcher die Objekte liegen, aber nicht die Entfernung, also nicht ihren Ort. Die Entfernung muß also erst durch den Verstand herausgebracht werden, folglich aus lauter kausalen Bestimmungen sich ergeben. Von diesen nun ist die vornehmste der Sehewinkel, unter dem das Objekt sich darstellt: dennoch ist dieser durchaus zweideutig und kann für sich allein nichts entscheiden. Er ist wie ein Wort von zwei Bedeutungen: man muß erst aus dem Zusammenhang abnehmen, welche gemeint sei. Denn, bei gleichem Sehewinkel, kann ein Objekt klein und nahe, oder groß und fern seyn. Nur wenn uns seine Größe anderweitig schon bekannt ist, können wir aus dem Sehewinkel seine Entfernung erkennen, wie auch umgekehrt, wenn uns diese anderweitig gegeben ist, seine Größe. Auf der Abnahme des Sehewinkels in Folge der Entfernung beruht die Linearperspektive, deren Grundsätze sich hier leicht ableiten lassen. Weil nämlich unsere Sehkraft nach allen Seiten gleich weit reicht, sehn wir eigentlich Alles wie eine Hohlkugel, in deren Centro das Auge stände. Diese Kugel nun hat erstlich unendlich viele Durchschnittskreise nach allen Richtungen, und die Winkel, deren Maaß die Theile dieser Kreise abgeben, sind die möglichen Sehewinkel. Zweitens wird diese Kugel, je nachdem wir ihren Radius länger oder kürzer annehmen, größer oder kleiner: wir können sie daher auch als aus unendlich vielen koncentrischen und durchsichtigen Hohlkugeln bestehend denken. Da alle Radien divergiren, so sind die koncentrischen Hohlkugeln, in dem Maaße, als sie ferner von uns stehn, größer, und mit ihnen wachsen die Grade ihrer Durchschnittskreise, also auch die wahre Größe der diese Grade einnehmenden Objekte. Diese[80] sind daher, je nachdem sie von einer größern, oder kleinern Hohlkugel den gleichen Theil, z.B. 10°, einnehmen, größer oder kleiner, während ihr Sehewinkel, in beiden Fällen, der selbe bleibt, also unentschieden läßt, ob es 10° einer Kugel von 2 Meilen, oder von 10 Fuß Durchmesser sind, die sein Objekt einnimmt. Steht umgekehrt die Größe dieses Objekts fest; so wird die Zahl der Grade, die es einnimmt, abnehmen, in dem Maaße, als die Hohlkugel, auf die wir es versetzen, entfernter und daher größer ist: in gleichem Maaße werden mithin alle seine Gränzen zusammenrücken. Hieraus folgt die Grundregel aller Perspektive: denn da demnach, in stetiger Proportion mit der Entfernung, die Objekte und ihre Zwischenräume abnehmen müssen, wodurch alle Gränzen zusammenrücken; so wird der Erfolg seyn, daß, mit der wachsenden Entfernung, alles über uns Liegende herab, alles unter uns Liegende herauf, alles zu den Seiten Liegende zusammenrückt. So weit wir eine ununterbrochene Folge sichtbarlich zusammenhängender Gegenstände vor uns haben, können wir aus diesem allmäligen Zusammenlaufen aller Linien, also aus der Linearperspektive, allerdings die Entfernung erkennen. Hingegen aus dem bloßen Sehewinkel, für sich allein, können wir es nicht; sondern alsdann muß der Verstand immer noch ein anderes Datum zu Hülfe nehmen, welches gleichsam als Kommentar des Sehewinkels dient, indem es den Antheil, den die Entfernung an ihm hat, bestimmter bezeichnet. Solcher Data sind hauptsächlich vier, die ich jetzt näher angeben werde. Vermöge ihrer geschieht es, selbst wo mir die Linearperspektive fehlt, daß, obwohl ein Mensch, der 100 Fuß von mir steht, mir in einem 24 Mal kleinern Sehewinkel, als wenn er 2 Fuß von mir stände, erscheint, ich dennoch, in den meisten Fällen, seine Größe sogleich richtig auffasse; welches Alles abermals beweist, daß die Anschauung intellektual und nicht bloß sensual ist. – Ein specieller und interessanter Beleg zu dem hier dargelegten Fundament der Linearperspektive, wie auch der Intellektualität der Anschauung überhaupt, ist folgender. Wenn ich, in Folge des langem Ansehns eines gefärbten Gegenstandes von bestimmtem Umriß, z.B. eines rothen Kreuzes, dessen physiologisches Farbenspektrum, also ein grünes Kreuz, im Auge habe; so wird mir dieses um so größer erscheinen, je entfernter die Fläche ist, auf die ich es fallen lasse, und um so kleiner, je näher diese. Denn das Spektrum selbst nimmt einen bestimmten und[81] unveränderlichen Theil meiner Retina, die zuerst vom rothen Kreuz erregte Stelle, ein, schafft also, indem sie nach außen geworfen, d. h. als Wirkung eines äußern Gegenstandes aufgefaßt wird, einen ein für alle Mal gegebenen Sehewinkel desselben, nehmen wir an 2° : verlege ich nun diesen (hier, wo aller Kommentar zum Sehewinkel fehlt) auf eine entfernte Fläche, mit der ich ihn unvermeidlich, als zu ihrer Wirkung gehörig, identificire; so sind es 2° einer entfernten, also sehr großen Kugel, die es einnimmt, mithin ist das Kreuz groß: werfe ich hingegen das Spektrum auf einen nahen Gegenstand; so füllt es 2° einer kleinen Kugel, ist mithin klein. In beiden Fällen fällt die Anschauung vollkommen objektiv aus, ganz gleich der eines äußern Gegenstandes, und belegt dadurch, indem sie ja von einem völlig subjektiven Grunde (das ganz anderweitig erregte Spektrum) ausgeht, die Intellektualität aller objektiven Anschauung. – Über diese Thatsache (welche im Jahre 1815 zuerst bemerkt zu haben ich mich lebhaft und umständlich erinnere) findet sich in den Comptes rendus vom 2. August 1858 ein Aufsatz von Mr. Séguin, der die Sache als eine neue Entdeckung auftischt und allerlei schiefe und alberne Erklärungen derselben giebt. Die Herrn illustres confrères häufen bei jedem Anlaß Experimente auf Experimente, und je komplicirter, desto besser. Nur expérience! ist ihre Losung; aber ein wenig richtiges und aufrichtiges Nachdenken über die beobachteten Phänomene ist höchst selten anzutreffen: expérience, expérience! und albernes Zeug dazu.

Zu den erwähnten subsidiarischen Datis also, die den Kommentar zum gegebenen Sehewinkel liefern, gehören erstlich die mutationes oculi internae, vermöge welcher das Auge seinen optischen Brechungsapparat, durch Vermehrung oder Verminderung der Brechung, verschiedenen Entfernungen anpaßt. Worin nun aber diese Veränderungen physiologisch bestehn, ist noch immer unausgemacht. Man hat sie in der Vermehrung der Konvexität bald der Cornea, bald der Lens gesucht; aber die neueste, in der Hauptsache jedoch schon von Kepler ausgesprochene Theorie, wonach die Linse beim Fernesehn zurücktritt, beim Nahesehn aber vorgeschoben, und dabei durch Seitendruck stärker gewölbt wird, ist mir die wahrscheinlichere: denn danach wäre der Hergang dem Mechanismus des Opernkukers[82] ganz analog. Diese Theorie findet man ausführlich dargelegt in A. Hueck's Abhandlung »Die Bewegung der Krystallinse«, 1841. Jedenfalls haben wir von diesen innern Veränderungen des Auges, wenn auch keine deutliche Wahrnehmung, doch eine gewisse Empfindung, und diese benutzen wir unmittelbar zur Schätzung der Entfernung. Da aber jene Veränderungen nur dienen, von etwan 7 Zoll bis auf 16 Fuß weit, das vollkommen deutliche Sehn möglich zu machen; so ist auch das besagte Datum für den Verstand nur innerhalb dieser Entfernung anwendbar.

Darüber hinaus findet dagegen das zweite Datum Anwendung, nämlich der bereits oben, beim Einfachsehn, erklärte, von den beiden Augenaxen gebildete, optische Winkel. Offenbar wird er kleiner, je ferner, und größer, je näher das Objekt liegt. Dieses verschiedene Richten der Augen gegen einander ist nicht ohne eine gewisse, leise Empfindung davon, die aber auch nur sofern ins Bewußtsein kommt, als der Verstand sie, bei seiner intuitiven Beurtheilung der Entfernung, als Datum gebraucht. Dieses Datum läßt zudem nicht bloß die Entfernung, sondern auch genau den Ort des Objekts erkennen, vermöge der Parallaxe der Augen, die darin besteht, daß jedes derselben das Objekt in einer etwas andern Richtung sieht, weshalb es zu rücken scheint, wenn man ein Auge schließt. Daher wird man, mit einem geschlossenen Auge, nicht leicht das Licht putzen können; weil dann dies Datum wegfällt. Da aber, sobald der Gegenstand 200 Fuß, oder weiter, abliegt, die Augen sich parallel richten, also der optische Winkel ganz wegfällt; so gilt dieses Datum nur innerhalb der besagten Entfernung.

Über diese hinaus kommt dem Verstande die Luftperspektive zu Hülfe, als welche durch das zunehmende Dumpfwerden aller Farben, das Erscheinen des physischen Blau vor allen dunkeln Gegenständen (Goethes vollkommen wahrer und richtiger Farbenlehre gemäß) und das Verschwimmen der Kontoure, ihm eine größere Entfernung ankündigt. Dieses Datum ist in Italien, wegen der großen Durchsichtigkeit der Luft, äußerst schwach; daher es uns daselbst leicht irre führt: z.B. von Fraskati aus gesehn scheint Tivoli sehr nahe. Hingegen erscheinen uns im Nebel, welcher eine abnorme Vermehrung dieses Datums ist, alle Gegenstände größer, weil der Verstand sie entfernter annimmt.[83]

Endlich bleibt uns noch die Schätzung der Entfernung mittelst der uns intuitiv bekannten Größen der dazwischen liegenden Gegenstände, wie Felder, Ströhme, Wälder u.s.w. Sie ist nur bei ununterbrochenem Zusammenhang, also nur auf irdische, nicht auf himmlische Objekte anwendbar. Überhaupt sind wir mehr eingeübt, sie in horizontaler, als perpendikularer Richtung zu gebrauchen; daher die Kugel auf einem Thurm von 200 Fuß Höhe uns viel kleiner erscheint, als wenn sie auf der Erde 200 Fuß von uns liegt; weil wir hier die Entfernung richtiger in Anschlag bringen. So oft Menschen irgendwie uns so zu Gesicht kommen, daß das zwischen ihnen und uns Liegende großen Theils verborgen bleibt, erscheinen sie uns auffallend klein.

Theils dieser letztern Schätzungsart, sofern sie, gültig, nur auf irdische Objekte und in horizontaler Richtung anwendbar ist, theils der nach der Luftperspektive, die sich im selben Fall befindet, ist es zuzuschreiben, daß unser anschauender Verstand, nach dem Horizont hin, Alles für entfernter, mithin für größer hält, als in der senkrechten Richtung. Daher kommt es, daß der Mond am Horizont so viel größer erscheint, als im Kulminationspunkt, während doch sein wohlgemessener Sehewinkel, also das Bild, welches er ins Auge wirft, alsdann durchaus nicht größer ist; wie auch, daß das Himmelsgewölbe sich abgeplattet darstellt, d.h. horizontal weiter, als perpendikular, ausgedehnt. Beides ist also rein intellektual, oder cerebral; nicht optisch oder sensual. Die Einwendung, daß der Mond, auch wenn kulminirend, bisweilen getrübt und doch nicht größer erscheine, ist dadurch zu widerlegen, daß er daselbst auch nicht roth erscheint, weil die Trübung durch gröbere Dünste geschieht und daher anderer Art, als die durch die Luftperspektive ist; wie auch dadurch, daß wir, wie gesagt, diese Schätzung nur in der horizontalen, nicht in der perpendikularen Richtung anwenden, auch in dieser Stellung andere Korrektive eintreten. Saussüre soll, vom Montblanc aus, den aufgehenden Mond so groß gesehn haben, daß er ihn nicht erkannte und vor Schreck ohnmächtig ward.

Hingegen beruht auf der isolirten Schätzung nach dem Sehewinkel allein, also der Größe durch die Entfernung, und der Entfernung durch die Größe, die Wirkung des Teleskops und der Loupe; weil hier die vier andern, supplementarischen Schätzungsmittel ausgeschlossen sind. Das Teleskop[84] vergrößert wirklich, scheint aber bloß näher zu bringen; weil die Größe der Objekte uns empirisch bekannt ist und wir nun ihre vermehrte scheinbare Größe aus der geringern Entfernung erklären: so erscheint z.B. ein Haus, durch das Teleskop gesehn, nicht 10 Mal größer, sondern 10 Mal näher. Die Loupe hingegen vergrößert nicht wirklich, sondern macht es uns nur möglich, das Objekt dem Auge so nahe zu bringen, wie wir dies außerdem nicht könnten, und dasselbe erscheint nur so groß, wie es, in solcher Nähe, auch ohne Loupe erscheinen würde. Nämlich die zu geringe Konvexität der Lens und Cornea gestattet uns kein deutliches Sehn in größerer Nähe, als 8 – 10 Zoll vom Auge: vermehrt nun aber die Konvexität der Loupe, statt jener, die Brechung; so erhalten wir, selbst bei 1/2 Zoll Entfernung vom Auge, noch ein deutlicheres Bild. Das in solcher Nähe und ihr entsprechender Größe gesehene Objekt versetzt unser Verstand in die natürliche Entfernung des deutlichen Sehns, also 8 – 10 Zoll vom Auge, und schätzt nun nach dieser Distanz, unter dem gegebenen Sehewinkel, seine Größe.

Ich habe alle diese das Sehn betreffenden Vorgänge so ausführlich dargelegt, um deutlich und unwiderleglich darzuthun, daß in ihnen vorwaltend der Verstand thätig ist, welcher dadurch, daß er jede Veränderung als Wirkung auffaßt und sie auf ihre Ursache bezieht, auf der Unterlage der apriorischen Grundanschauungen des Raums und der Zeit, das Gehirnphänomen der gegenständlichen Welt zu Stande bringt, wozu ihm die Sinnesempfindung bloß einige Data liefert. Und zwar vollzieht er dieses Geschäft allein durch seine eigene Form, welche das Kausalitätsgesetz ist, und daher ganz unmittelbar und intuitiv, ohne Beihülfe der Reflexion, d.i. der abstrakten Erkenntniß, mittelst Begriffen und Worten, als welche das Material der sekundären Erkenntniß, d.i. des Denkens, also der Vernunft, sind.

Diese Unabhängigkeit der Verstandeserkenntniß von der Vernunft und ihrer Beihülfe erhellt auch daraus, daß, wenn ein Mal der Verstand zu gegebenen Wirkungen eine unrichtige Ursache setzt, und mithin diese geradezu anschaut, wodurch der falsche Schein entsteht; die Vernunft immerhin den wahren Thatbestand in abstracto richtig erkennen mag, ihm damit jedoch nicht zu Hülfe kommen kann; sondern, ihrer bessern Erkenntniß ungeachtet, der falsche Schein unverrückt stehn[85] bleibt. Dergleichen Schein ist z.B. das oben erörterte Doppeltsehn und Doppelttasten, in Folge der Verrückung der Sinneswerkzeuge aus ihrer normalen Lage; imgleichen der erwähnte, am Horizont größer erscheinende Mond; ferner das sich ganz als schwebender, solider Körper darstellende Bild im Brennpunkt eines Hohlspiegels; das gemalte Rilievo, welches wir für ein wirkliches ansehn; die Bewegung des Ufers, oder der Brücke, worauf wir stehn, während ein Schiff durchfährt; hohe Berge, die viel näher erscheinen, als sie sind, wegen des Mangels der Luftperspektive, welcher eine Folge der Reinheit der Atmosphäre, in der ihre hohen Gipfel liegen, ist; und hundert ähnliche Dinge, bei welchen allen der Verstand die gewöhnliche, ihm geläufige Ursache voraussetzt, diese also sofort anschaut, obgleich die Vernunft den richtigen Thatbestand auf andern Wegen ermittelt hat, damit aber jenem, als welcher ihrer Belehrung unzugänglich, weil in seinem Erkennen ihr vorhergängig, ist, nicht beikommen kann; wodurch der falsche Schein, d.i. der Trug des Verstandes, unverrückbar stehn bleibt, wenn gleich der Irrthum, d.i. der Trug der Vernunft, verhindert wird. – Das vom Verstande richtig Erkannte ist die Realität; das von der Vernunft richtig Erkannte die Wahrheit, d.i. ein Urtheil, welches Grund hat: jener ist der Schein (das fälschlich Angeschaute), dieser der Irrthum (das fälschlich Gedachte) entgegengesetzt.

Obgleich der rein formale Theil der empirischen Anschauung, also das Gesetz der Kausalität, nebst Raum und Zeit, a priori im Intellekt liegt; so ist ihm doch nicht die Anwendung desselben auf empirische Data zugleich mitgegeben: sondern diese erlangt er erst durch Übung und Erfahrung. Daher kommt es, daß neugeborene Kinder zwar den Licht- und Farbeneindruck empfangen, allein noch nicht die Objekte apprehendiren und eigentlich sehn; sondern sie sind, die ersten Wochen hindurch, in einem Stupor befangen, der sich alsdann verliert, wann ihr Verstand anfängt, seine Funktion an den Datis der Sinne, zumal des Getasts und Gesichts, zu üben, wodurch die objektive Welt allmälig in ihr Bewußtsein tritt. Dieser Eintritt ist am Intelligentwerden ihres Blicks und einiger Absichtlichkeit in ihren Bewegungen deutlich zu erkennen, besonders wenn sie zum ersten Mal durch freundliches Anlächeln an den Tag legen, daß sie ihre Pfleger erkennen. Man kann auch beobachten, daß[86] sie noch lange mit dem Sehn und Tasten experimentiren, um ihre Apprehension der Gegenstände unter verschiedener Beleuchtung, Richtung und Entfernung derselben, zu vervollkommnen, und so ein stilles, aber ernstes Studium treiben, bis sie alle die oben beschriebenen Verstandesoperationen des Sehns erlernt haben. Viel deutlicher jedoch ist diese Schule an spät operirten Blindgeborenen zu konstatiren; da diese von ihren Wahrnehmungen Bericht erstatten. Seit Cheselden's berühmt gewordenem Blinden (über welchen der ursprüngliche Bericht in den Philosophical transactions Vol. 35 steht) hat der Fall sich oft wiederholt und es sich jedesmal bestätigt, daß diese spät den Gebrauch der Augen erlangenden Leute zwar gleich nach der Operation Licht, Farben und Umrisse sehn, aber noch keine objektive Anschauung der Gegenstände haben: denn ihr Verstand muß erst die Anwendung seines Kausalgesetzes auf die ihm neuen Data und ihre Veränderungen lernen. Als Cheselden's Blinder zum ersten Mal sein Zimmer mit den verschiedenen Gegenständen darin erblickte, unterschied er nichts daran, sondern hatte nur einen Totaleindruck, wie von einem, aus einem einzigen Stücke bestehenden Ganzen: er hielt es für eine glatte, verschieden gefärbte Oberfläche. Es fiel ihm nicht ein, gesonderte, verschieden entfernte, hinter einander geschobene Dinge zu erkennen. Bei solchen hergestellten Blinden muß das Getast, als welchem die Dinge schon bekannt sind, diese dem Gesicht erst bekannt machen, gleichsam sie präsentiren und einführen. Über Entfernungen haben sie Anfangs gar kein Unheil, sondern greifen nach Allem. Einer konnte, als er sein Haus von außen sah, nicht glauben, daß alle die großen Zimmer in dem kleinen Dinge da seyn sollten. Ein Anderer war hocherfreut, als er, mehrere Wochen nach der Operation, die Entdeckung machte, daß die Kupferstiche an der Wand allerlei Gegenstände vorstellten. Im Morgenblatt vom 23. October 1817 steht Nachricht von einem Blindgeborenen, der im 17. Lebensjahre das Gesicht erhielt. Er mußte das verständige Anschauen erst lernen, erkannte keinen ihm vorher durch das Getast bekannten Gegenstand sehend wieder, hielt daher Ziegen für Menschen u.s.w. Der Tastsinn mußte dem Gesichtssinn erst jeden einzelnen Gegenstand bekannt machen. So auch hatte er gar kein Urtheil über die Entfernungen der gesehenen Objekte, sondern griff nach Allem. – Franz, in seinem Buche: The eye: a treatise on[87] the art of preserving this organ in healthy condition, and of improving the sight (London, Churchill 1839) sagt pag. 34-36: »A definite idea of distance, as well as of form and size, is only obtained by sight and touch, and by reflecting on the impressions made on both senses; but for this purpose we must take into account the muscular motion and voluntary locomotion of the individual. – Caspar Hauser4, in a detailed account of his own experience in this respect states, that upon his first liberation from confinement, whenever he looked through the window upon external objects, such as the street, garden etc., it appeared to him as if there were a shutter quite closeto his eye, and covered with confused colours of all kinds, in which he could recognise or distinguish nothing singly. He says farther, that he did not convince himself till after some time during his walks out of doors, that what had at first appeared to him as a shutter of various colours, as well as many other objects, were in reality very different things; and that at length the shutter disappeared, and he saw and recognised all things in their just proportions. Persons born blind who obtain their sight by an operation in later years only, sometimes imagine that all objects touch their eyes, and lie so near to them that they are afraid of stumbling against them; sometimes they leap towards the moon, supposing that they can lay hold of it; at other times they run after the clouds moving along the sky, in order to catch them, or commit other such extravagancies.... Since ideas are gained by reflection upon sensation, it is further necessary in all cases, in order that an accurate idea of objects may be formed from the sense of sight, that the powers oft the mind should be unimpaired, and undisturbed in their exercise. A proof of this is afforded in the instance related by Haslam5, of a boy who had no defect of sight, but was weak in understanding, and who in his seventh year was unable to estimate the distances of objects, especially as to height; he would extend his hand frequently towards a nail on the ceiling, or towards the moon, to catch it. It ist therefore the judgment which corrects and makes clear this idea, or perception of visible objects.«[88]

Physiologische Bestätigung erhält die hier dargelegte Intellektualität[89] der Anschauung durch Flourens: De la vie et de l'intelligence (Deuxième édition, Paris, Garnier Frères, 1858). Pag. 49 , unter der Überschrift: Opposition entre les tubercules et les lobes cérébraux, sagt Flourens: »Il faut faire une grande distinction entre les sens et l'intelligence. L'ablation d'un tubercule détermine la perte de la sensation, du sens de la vue; la rétine devient insensible, l'iris devient immobile. L'ablation d'un lobe cérébral laisse la sensation, le sens, la sensibilité de la rétine, la mobilité de l'iris; elle ne détruit que la perception seule. Dans un cas, c'est un fait sensorial; et, dans l'autre, un fait cérébral; dans un cas, c'est la perte du sens; dans l'autre, c'est la perte de la perception. La distinction des perceptions et des sensations est encore un grand résultat; et il est démontré aux yeux. Il y a deux moyens de faire perdre la vision par l'encéphale: 1° par les tubercules, c'est la perte du sens, de la sensation; 2° par les lobes, c'est la perte de la perception, de l'intelligence. La sensibilité n'est donc pas l'intelligence, penser n'est donc pas sentir; et voilà toute une Philosophie renversée. L'idée n'est donc pas la Sensation; et voilà encore une autre preuve du vice radical de cette Philosophie.«[90] Ferner sagt Flourens pag. 77 unter der Überschrift: Séparation de la Sensibilité et de la Perception: »Il y a une de mes expériences qui sépare nettement la sensibilité de la perception. Quand on enlève le cerveau proprement dit (lobes ou hémisphères cérébraux) à un animal, l'animal perd la vue. Mais, par rapport a l'œil, rien n'est changé: les objets continuent a se peindre sur la rétine; l'iris reste contractile, le nerf optique sensible, parfaitement sensible. Et cependant l'animal ne voit plus; il n'y a plus vision, quoique tout ce qui est Sensation subsiste; il n'y a plus vision, parce qu'il n'y a plus perception. Le percevoir, et non le sentir, est donc le premier élément de l'intelligence. La perception est partie de l'intelligence, car elle se perd avec l'intelligence, et par l'ablation du même organe, les lobes ou hémisphères cérébraux; et la sensibilité rien est point partie, puisqu'elle subsiste après la perte de l'intelligence et l'ablation des lobes ou hémisphères.«

Daß die Intellektualität der Anschauung im Allgemeinen[91] schon von den Alten eingesehn wurde, bezeugt der berühmte Vers des alten Philosophen Epicharmus: Nous horê kai nous akouei t' alla kôpha kai typhla. Plutarch, der ihn (de sollert. animal: c.3) anführt, setzt hinzu: hôs tou perita ommata kai ôta pathous, an mê parê to phronoun, aisthêsin ou poiountos (quia affectio oculorum et aurium nullum affert sensum, intelligentia absente), und sagt kurz zuvor: Stratônos tou physikou logos estin, apodeiknyôn hôs oud' aisthanesthai toparapan aneu tou noein hyparchei (Stratonis physici exstat ratiocinatio, qua ›sine intelligentia sentiri omnino nihil posse‹ demonstrat). Bald darauf aber sagt er: hothen anankê, pasin, hois to aisthanesthai, kai to noein hyparchein, ei tô noein aisthanesthai pephykamen (quare necesse est, omnia, quae sentiunt, etiam intelligere, siquidem intelligendo demum sentiamus). Hiemit wäre denn wieder ein Vers des selben Epicharmus in Verbindung zu setzen, den Diogenes Laertius (III, 16) anführt:


Eumaie, to sophon estin ou kath' hen monon,

all' hosa per zê, panta kai gnôman echei.


(Eumaee, sapientia non uni tantum competit, sed quaecunque vivunt etiam intellectum habent.) Auch Porphyrius (de abstinentia, III, 21) ist bemüht, ausführlich darzuthun, daß alle Thiere Verstand haben.

Daß nun Diesem so sei, folgt aus der Intellektualität der Anschauung nothwendig. Alle Thiere, bis zum niedrigsten herab, müssen Verstand, d.h. Erkenntniß des Kausalitätsgesetzes, haben, wenn auch in sehr verschiedenem Grade der Feinheit und Deutlichkeit; aber stets wenigstens so viel, wie zur Anschauung mit ihren Sinnen erfordert ist: denn Empfindung ohne Verstand wäre nicht nur ein unnützes, sondern ein grausames Geschenk der Natur. Den Verstand der obern Thiere wird Keiner, dem es nicht selbst daran gebricht, in Zweifel ziehn. Aber auch daß ihre[92] Erkenntniß der Kausalität wirklich a priori und nicht bloß aus der Gewohnheit, Dies auf Jenes folgen zu sehn, entsprungen ist, tritt bisweilen unleugbar hervor. Ein ganz junger Hund springt nicht vom Tisch herab, weil er die Wirkung anticipirt. Vor Kurzem hatte ich in meinem Schlafzimmer große, bis zur Erde herabreichende Fenstergardinen anbringen lassen, von der Art, die in der Mitte auseinanderfährt, wenn man eine Schnur zieht: als ich nun Dies zum ersten Mal, Morgens beim Aufstehn, ausführte, bemerkte ich, zu meiner Überraschung, daß mein sehr kluger Pudel ganz verwundert dastand und sich, aufwärts und seitwärts, nach der Ursache des Phänomens umsah, also die Veränderung suchte, von der er a priori wußte, daß sie vorhergegangen seyn müsse: das Selbe wiederholte sich noch am folgenden Morgen. – Aber auch die untersten Thiere, sogar noch der Wasserpolyp, ohne gesonderte Sinneswerkzeuge, wann er, auf seiner Wasserpflanze, um in helleres Licht zu kommen, mit seinen Armen sich anklammernd, von Blatt zu Blatt wandert, hat Wahrnehmung, folglich Verstand.

Und von diesem untersten Verstande ist der des Menschen, den wir jedoch von dessen Vernunft deutlich sondern, nur dem Grade nach verschieden; während alle dazwischen liegenden Stufen von der Reihe der Thiere ausgefüllt werden, deren oberste Glieder, also Affe, Elephant, Hund, uns durch ihren Verstand in Erstaunen setzen. Aber immer und immer besteht die Leistung des Verstandes in unmittelbarem Auffassen der kausalen Verhältnisse, zuerst, wie gezeigt, zwischen dem eigenen Leib und den andern Körpern, woraus die objektive Anschauung hervorgeht; dann zwischen diesen objektiv angeschauten Körpern unter einander, wo nun, wie wir im vorigen § gesehn haben, das Kausalitätsverhältniß unter drei verschiedenen Formen auftritt, nämlich als Ursache, als Reiz und als Motiv, nach welchen Dreien sodann alle Bewegung auf der Welt vorgeht und vom Verstande allein verstanden wird. Sind es nun, von jenen Dreien, die Ursachen, im engsten Sinne, denen er nachspürt; dann schafft er Mechanik, Astronomie, Physik, Chemie, und erfindet Maschinen, zum Heil und zum Verderben: stets aber liegt allen seinen Entdeckungen, in letzter Instanz, ein unmittelbares intuitives Auffassen der ursächlichen Verbindung zum Grunde. Denn dieses ist die alleinige Form und Funktion des Verstandes, keineswegs aber das komplicirte Räderwerk der[93] zwölf Kantischen Kategorien, deren Nichtigkeit ich nachgewiesen habe. – Alles Verstehn ist ein unmittelbares und daher intuitives Auffassen des Kausalzusammenhangs, obwohl es sogleich in abstrakte Begriffe abgesetzt werden muß, um fixirt zu werden. Daher ist Rechnen nicht Verstehn und liefert an sich kein Verständniß der Sachen. Dies erhält man nur auf dem Wege der Anschauung, durch richtige Erkenntniß der Kausalität und geometrische Konstruktion des Hergangs; wie solche Euler besser als irgend jemand gegeben hat; weil er die Sachen von Grund aus verstand. Das Rechnen hingegen hat es mit lauter abstrakten Größenbegriffen zu thun, deren Verhältniß zu einander es feststellt. Dadurch erlangt man nie das mindeste Verständniß eines physischen Vorgangs. Denn zu einem solchen ist erfordert anschauliche Auffassung der räumlichen Verhältnisse, mittelst welcher die Ursachen wirken. Das Rechnen bestimmt das Wieviel und Wiegroß, ist daher zur Praxis unentbehrlich. Sogar kann man sagen: wo das Rechnen anfängt, hört das Verstehn auf: denn der mit Zahlen beschäftigte Kopf ist, während er rechnet, dem kausalen Zusammenhang und der geometrischen Konstruktion des physischen Hergangs gänzlich entfremdet: er steckt in lauter abstrakten Zahlenbegriffen. Das Resultat aber besagt nie mehr, als Wieviel; nie Was. Mit l'experience et le calcul, diesem Waidspruch der französischen Physiker, reicht man also keineswegs aus. – Sind hingegen die Reize der Leitfaden des Verstandes; so wird er Physiologie der Pflanzen und Thiere, Therapie und Toxikologie zu Stande bringen. Hat er endlich sich auf die Motivation geworfen; dann wird er entweder sie bloß theoretisch zum Leitfaden gebrauchen, um Moral, Rechtslehre, Geschichte, Politik, auch dramatische und epische Poesie, zu Tage zu fördern; oder aber sich ihrer praktisch bedienen, entweder bloß um Thiere abzurichten, oder sogar um das Menschengeschlecht nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, nachdem er glücklich an jeder Puppe das Fädchen herausgefunden hat, an welchem gezogen sie sich beliebig bewegt. Ob er nun die Schwere der Körper, mittelst der Mechanik, zu Maschinen so klug benutzt, daß ihre Wirkung, gerade zu rechter Zeit eintretend, seiner Absicht in die Hände spielt; oder ob er eben so die gemeinsamen, oder die individuellen Neigungen der Menschen zu seinen Zwecken ins Spiel versetzt,[94] ist, hinsichtlich der dabei thätigen Funktion, das Selbe. In dieser praktischen Anwendung nun wird der Verstand Klugheit, und, wenn sie mit Überlistung Anderer geschieht, Schlauheit genannt, auch wohl, wenn seine Zwecke sehr geringfügig sind, Pfiffigkeit, auch, wenn sie mit dem Nachtheil Anderer verknüpft sind, Verschmitztheit. Hingegen heißt er im bloß theoretischen Gebrauch Verstand schlechtweg, in den hohem Graden aber alsdann Scharfsinn, Einsicht, Sagacität, Penetration; sein Mangel hingegen Stumpfheit, Dummheit, Pinselhaftigkeit u.s.w. Diese höchst verschiedenen Grade seiner Schärfe sind angeboren und nicht zu erlernen; wiewohl Übung und Kenntniß des Stoffs überall zur richtigen Handhabung erfordert sind; wie wir dies ja selbst an seiner ersten Anwendung, also an der empirischen Anschauung, gesehn haben, Vernunft hat jeder Tropf: giebt man ihm die Prämissen, so vollzieht er den Schluß. Aber der Verstand liefert die primäre Erkenntniß, folglich die intuitive, und da liegen die Unterschiede. Demgemäß ist auch der Kern jeder großen Entdeckung, wie auch jedes welthistorischen Plans, das Erzeugniß eines glücklichen Augenblicks, in welchem, durch Gunst äußerer und innerer Umstände, dem Verstande komplicirte Kausalreihen, oder verborgene Ursachen tausend Mal gesehener Phänomene, oder nie betretene, dunkle Wege, sich plötzlich erhellen. –

Durch die obigen Auseinandersetzungen der Vorgänge beim Tasten und Sehn ist unwidersprechlich dargethan, daß die empirische Anschauung im Wesentlichen das Werk des Verstandes ist, dem dazu die Sinne nur den, im Ganzen ärmlichen Stoff, in ihren Empfindungen, liefern; so daß er der werkbildende Künstler ist, sie nur die das Material darreichenden Handlanger. Durchweg aber besteht dabei sein Verfahren im Übergehn von gegebenen Wirkungen zu ihren Ursachen, welche, eben erst dadurch, sich als Objekte im Raume darstellen. Die Voraussetzung dazu ist das Gesetz der Kausalität, welches eben deshalb vom Verstande selbst hinzugebracht seyn muß; da es nimmermehr ihm von außen hat kommen können. Ist es doch die erste Bedingung aller empirischen Anschauung, diese aber die Form in der alle äußere Erfahrung auftritt: wie also sollte es erst aus der Erfahrung geschöpft seyn, deren wesentliche Voraussetzung es selbst ist? – Eben weil es Dies schlechterdings nicht kann, Locke's Philosophie aber alle Apriorität aufgehoben[95] hatte, leugnete Hume die ganze Realität des Kausalitätsbegriffes. Dabei erwähnte schon er (im 7ten seiner essays on human understanding) zwei falsche Hypothesen, die man in unsern Tagen wieder vorgebracht hat: die eine, daß die Wirkung des Willens auf die Glieder des Leibes; die andere, daß der Widerstand, den die Körper unserm Druck gegen sie entgegensetzen, der Ursprung und Prototyp des Kausalitätsbegriffes sei. Hume widerlegt Beides in seiner Weise und seinem Zusammenhang. Ich aber so: zwischen dem Willensakt und der Leibesaktion ist gar kein Kausalzusammenhang; sondern Beide sind unmittelbar Eins und das Selbe, welches doppelt wahrgenommen wird: ein Mal im Selbstbewußtseyn, oder innern Sinn, als Willensakt; und zugleich in der äußern, räumlichen Gehirnanschauung, als Leibesaktion. (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung.) – Die zweite Hypothese ist falsch, erstlich weil, wie oben ausführlich gezeigt, eine bloße Empfindung des Tastsinnes noch gar keine objektive Anschauung, geschweige den Kausalitätsbegriff liefert: nie kann dieser bloß aus dem Gefühl einer verhinderten Leibesanstrengung hervorgehn, die ja auch oft ohne äußere Ursache eintritt; und zweitens, weil unser Drängen gegen einen äußern Gegenstand, da es ein Motiv haben muß, schon die Wahrnehmung desselben, diese aber die Erkenntniß der Kausalität, voraussetzt. – Die Unabhängigkeit des Kausalitätsbegriffes von aller Erfahrung konnte aber gründlich nur dadurch dargethan werden, daß die Abhängigkeit aller Erfahrung, ihrer ganzen Möglichkeit nach, von ihm, nachgewiesen wurde; wie ich Dies im Obigen geleistet habe. Daß Kants in der selben Absicht aufgestellter Beweis falsch ist, werde ich § 23 darthun.

Hier ist auch der Ort darauf aufmerksam zu machen, daß Kant die Vermittelung der empirischen Anschauung durch das uns vor aller Erfahrung bewußte Kausalitätsgesetz entweder nicht eingesehn, oder, weil es zu seinen Absichten nicht paßte, geflissentlich umgangen hat. In der Kritik d. rein. Vern. kommt das Verhältniß der Kausalität zur Anschauung nicht in der Elementarlehre, sondern an einem Orte, wo man es nicht suchen würde, zur Sprache, nämlich im Kapitel von den Paralogismen der reinen Vernunft, und zwar in der Kritik des vierten Paralogismus der transscendentalen Psychologie, in der ersten Auflage allein, S. 367 ff. Schon daß er[96] jener Erörterung diese Stelle angewiesen, zeigt an, daß er, bei Betrachtung jenes Verhältnisses, immer nur den Übergang von der Erscheinung zum Dinge an sich, nicht aber das Entstehn der Anschauung selbst im Auge gehabt hat. Demgemäß sagt er hier, daß das Daseyn eines wirklichen Gegenstandes außer uns nicht geradezu in der Wahrnehmung gegeben sei, sondern als äußere Ursache derselben hinzugedacht und also geschlossen werden könne. Allein wer Dies thut, ist ihm ein transscendentaler Realist, mithin auf dem Irrwege begriffen. Denn unter dem »äußern Gegenstande« versteht Kant hier schon das Ding an sich. Der transscendentale Idealist hingegen bleibt bei der Wahrnehmung eines empirisch Realen, d.h. im Raume außer uns Vorhandenen, stehn, ohne, um ihr Realität zu geben, erst auf eine Ursache derselben schließen zu müssen. Die Wahrnehmung ist nämlich, bei Kant, etwas ganz Unmittelbares, welches ohne alle Beihülfe des Kausalnexus, und mithin des Verstandes, zu Stande kommt: er identificirt sie geradezu mit der Empfindung. Dies belegt a.a.O. die Stelle S. 371: »Ich habe, in Absicht auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände, eben so wenig nöthig« u.s.w., wie auch, S. 372, diese: »Man kann zwar einräumen, daß«, u.s.w., Aus diesen Stellen geht vollkommen deutlich hervor, daß bei ihm die Wahrnehmung äußerer Dinge im Raum aller Anwendung des Kausalgesetzes vorhergängig ist, dieses also nicht in jene, als Element und Bedingung derselben, eingeht: die bloße Sinnesempfindung ist ihm sofort Wahrnehmung. Bloß sofern man nach Dem, was, im transscendentalen Sinne verstanden, außer uns seyn mag, also nach dem Dinge an sich selbst frägt, kommt bei der Anschauung die Kausalität zur Sprache. Kant nimmt ferner das Kausalgesetz als allein in der Reflexion, also in abstrakter, deutlicher Begriffserkenntniß vorhanden und möglich an, hat daher keine Ahndung davon, daß die Anwendung desselben aller Reflexion vorhergeht, was doch offenbar der Fall ist, namentlich bei der empirischen Sinnesanschauung, als welche außerdem nimmermehr zu Stande käme; wie Dies meine obige Analyse derselben unwiderleglich beweist. Daher muß denn Kant das Entstehn der empirischen Anschauung ganz unerklärt lassen: sie ist, bei ihm, wie durch ein Wunder gegeben, bloß Sache der Sinne, fällt also mit der Empfindung zusammen. Ich wünsche sehr, daß der denkende Leser die angeführte Stelle[97] Kants nachsehe, damit ihm einleuchte, wie sehr viel richtiger meine Auffassung des ganzen Zusammenhanges und Herganges ist. Jene äußerst fehlerhafte Kantische Ansicht hat seitdem in der philosophischen Litteratur immer fortbestanden, weil Keiner sich getraute, sie anzutasten, und ich habe hier zuerst aufzuräumen gehabt, welches nöthig war, um Licht in den Mechanismus unsers Erkennens zu bringen.

Übrigens hat, durch meine Berichtigung der Sache, die von Kant aufgestellte idealistische Grundansicht durchaus nichts verloren; ja, sie hat vielmehr gewonnen; sofern bei mir die Forderung des Kausalgesetzes in der empirischen Anschauung, als ihrem Produkt, aufgeht und erlischt, mithin nicht ferner geltend gemacht werden kann zu einer völlig transscendenten Frage nach dem Ding an sich. Sehn wir nämlich auf meine obige Theorie der empirischen Anschauung zurück; so finden wir, daß das erste Datum zu derselben, die Sinnesempfindung, ein durchaus Subjektives, ein Vorgang innerhalb des Organismus, weil unter der Haut, ist. Daß diese Empfindungen der Sinnesorgane, auch angenommen, daß äußere Ursachen sie anregen, dennoch mit der Beschaffenheit dieser durchaus keine Ähnlichkeit haben können, – der Zucker nicht mit der Süße, die Rose nicht mit der Röthe, – hat schon Locke ausführlich und gründlich dargethan. Allein auch daß sie nur überhaupt eine äußere Ursache haben müssen, beruht auf einem Gesetze, dessen Ursprung nachweislich in uns, in unserm Gehirn liegt, ist folglich zuletzt nicht weniger subjektiv, als die Empfindung selbst. Ja, die Zeit, diese erste Bedingung der Möglichkeit jeder Veränderung, also auch der, auf deren Anlaß die Anwendung des Kausalitätsbegriffs erst eintreten kann; nicht weniger der Raum, welcher das Nach-Außen-verlegen einer Ursache, die sich darauf als Objekt darstellt, allererst möglich macht, ist, wie Kant sicher dargethan hat, eine subjektive Form des Intellekts. Wir finden demnach sämmtliche Elemente der empirischen Anschauung in uns liegend und nichts darin enthalten, was auf etwas schlechthin von uns Verschiedenes, ein Ding an sich selbst, sichere Anweisung gäbe. – Aber noch mehr: unter dem Begriff der Materie denken wir Das, was von den Körpern noch übrig bleibt, wenn wir sie von ihrer Form und allen ihren specifischen Qualitäten entkleiden, welches eben deshalb in allen Körpern ganz gleich, Eins und das Selbe seyn muß. Jene von uns aufgehobenen[98] Formen und Qualitäten nun aber sind nichts Anderes, als die besondere und speciell bestimmte Wirkungsart der Körper, welche eben die Verschiedenheit derselben ausmacht. Daher ist, wenn wir davon absehn, das dann noch Übrigbleibende die bloße Wirksamkeit überhaupt, das reine Wirken als solches, die Kausalität selbst, objektiv gedacht, – also der Widerschein unsers eigenen Verstandes, das nach außen projicirte Bild seiner alleinigen Funktion, und die Materie ist durch und durch lautere Kausalität: ihr Wesen ist das Wirken überhaupt. (Vergl. Welt als W. und V. Bd. I § 4, S. 9; u. Bd. 2 S. 48, 49) Daher eben läßt die reine Materie sich nicht anschauen, sondern bloß denken: sie ist ein zu jeder Realität als ihre Grundlage Hinzugedachtes. Denn reine Kausalität, bloßes Wirken, ohne bestimmte Wirkungsart, kann nicht anschaulich gegeben werden, daher in keiner Erfahrung vorkommen. – Die Materie ist also nur das objektive Korrelat des reinen Verstandes, ist nämlich Kausalität überhaupt und sonst nichts; so wie dieser das unmittelbare Erkennen von Ursache und Wirkung überhaupt und sonst nichts ist. Eben dieserhalb nun wieder kann auf die Materie selbst das Gesetz der Kausalität keine Anwendung finden: d.h. sie kann weder entstehn, noch vergehn, sondern ist und beharrt. Denn da aller Wechsel der Accidenzien (Formen und Qualitäten), d.i. alles Entstehn und Vergehn, nur vermöge der Kausalität eintritt, die Materie aber die reine Kausalität als solche, objektiv aufgefaßt, selbst ist; so kann sie ihre Macht nicht an sich selbst ausüben; wie das Auge Alles, nur nicht sich selbst sehn kann. Da ferner »Substanz« identisch ist mit Materie; so kann man sagen: Substanz ist das Wirken in abstracto aufgefaßt; Accidenz die besondere Art des Wirkens, das Wirken in concreto. – Dies sind nun also die Resultate, zu denen der wahre, d.i. der transscendentale Idealismus leitet. Daß wir zum Dinge an sich selbst, d.i. dem überhaupt auch außer der Vorstellung Existirenden, nicht auf dem Wege der Vorstellung gelangen können, sondern dazu einen ganz andern, durch das Innere der Dinge führenden Weg, der uns gleichsam durch Verrath die Festung öffnet, einschlagen müssen, habe ich durch mein Hauptwerk dargethan. –

Wenn man aber etwan die hier gegebene, ehrliche und tief gründliche Auflösung der empirischen Anschauung in ihre Elemente,[99] welche sich sämmtlich als subjektiv ergeben, vergleichen, oder gar identificiren wollte mit Fichtes algebraischen Gleichungen zwischen Ich und Nicht-Ich, mit seinen sophistischen Scheindemonstrationen, die der Hülle der Unverständlichkeit, ja des Unsinns bedurften, um den Leser zu täuschen, mit den Darlegungen, wie das Ich das Nicht-Ich aus sich selbst herausspinnt, kurz, mit sämmtlichen Possen der Wissenschaftsleere; so würde Dies eine offenbare Schikane und nichts weiter seyn. Gegen alle Gemeinschaft mit diesem Fichte protestire ich, so gut wie Kant öffentlich und ausdrücklich in einer Anzeige ad hoc in der Jena'schen Litteratur-Zeitung dagegen protestirt hat. (Kant: »Erklärung über Fichtes Wissenschaftslehre«, im Intelligenzblatt der Jena'schen Litteratur-Zeitung, 1799, Nr. 109.) Mögen immerhin Hegelianer und ähnliche Ignoranten von einer Kant-Fichte'schen Philosophie reden: es giebt eine Kantische Philosophie und eine Fichte'sche Windbeutelei, – das ist das wahre Sachverhältniß und wird es bleiben, trotz allen Präkonen des Schlechten und Verächtern des Guten, an denen das Deutsche Vaterland reicher ist, als irgend ein anderes.

A1

Über diesen berichtet das Frankfurter Konversationsblatt vom 22. Juli 1853: In Nauders (Tyrol) starb am 10. Juli der blinde Bildhauer Joseph Kleinhanns. In seinem fünften Jahre in Folge der Kuhpocken erblindet, tändelte und schnitzte der Knabe für die Langeweile. Prugg gab ihm Anleitung und Figuren zum Nachbilden, und in seinem zwölften Jahre verfertigte der Knabe einen Christus in Lebensgröße. In der Werkstätte des Bildhauers Nißl in Fügen profitirte er in der kurzen Zeit sehr viel und wurde vermöge seiner guten Anlage und seines Talents der weithin bekannte blinde Bildhauer. Seine verschiedenartigen Arbeiten sind sehr zahlreich. Bloß seine Christusbilder belaufen sich auf vierhundert, und in diesen tritt auch in Anbetracht seiner Blindheit seine Meisterschaft zu Tage. Er verfertigte auch andere anerkennungswerthe Stücke, und vor zwei Monaten noch die Büste des Kaisers Franz Joseph, welche nach Wien übersendet wurde.

4

Feuerbach's Caspar Hauser – Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen, Anspach, 1832. pag 79, etc.

5

Haslam's Observations on Madness and Melancholy, 2. Ed. p. 192.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 65-100.
Lizenz:
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