§ 45. Gedächtniß.

[163] Die Eigenthümlichkeit des erkennenden Subjekts, daß es in Vergegenwärtigung von Vorstellungen dem Willen desto leichter gehorcht, je öfter solche Vorstellungen ihm schon gegenwärtig[163] gewesen sind, d.h. seine Übungsfähigkeit, ist das Gedächtniß. Der gewöhnlichen Darstellung desselben, als eines Behältnisses, in welchem wir einen Vorrath fertiger Vorstellungen aufbewahrten, die wir folglich immer hätten, nur ohne uns derselben immer bewußt zu seyn, – kann ich nicht beistimmen. Die willkürliche Wiederholung gegenwärtig gewesener Vorstellungen wird durch Übung so leicht, daß, sobald ein Glied einer Reihe von Vorstellungen uns gegenwärtig geworden ist, wir alsbald die übrigen, selbst oft scheinbar gegen unsern Willen, hinzurufen. Will man von dieser Eigenthümlichkeit unsers Vorstellungsvermögens ein Bild (wie Plato eines giebt, indem er das Gedächtniß mit einer weichen Masse vergleicht, welche Eindrücke annimmt und bewahrt), so scheint mir das richtigste das eines Tuchs, welches die Falten, in die es oft gelegt ist, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt. Wie der Leib dem Willen durch Übung gehorchen lernt, eben so das Vorstellungsvermögen. Keineswegs ist, wie die gewöhnliche Darstellung es annimmt, eine Erinnerung immer die selbe Vorstellung, die gleichsam aus ihrem Behältniß wieder hervorgeholt wird, sondern jedesmal entsteht wirklich eine neue, nur mit besonderer Leichtigkeit durch die Übung: daher kommt es, daß Phantasmen, welche wir im Gedächtniß aufzubewahren glauben, eigentlich aber nur durch öftere Wiederholung üben, unvermerkt sich ändern, was wir inne werden, wenn wir einen alten bekannten Gegenstand nach langer Zeit wiedersehn und er dem Bilde, das wir von ihm mitbringen, nicht vollkommen entspricht. Dies könnte nicht seyn, wenn wir ganz fertige Vorstellungen aufbewahrten. Eben daher kommt es, daß alle erworbenen Kenntnisse, wenn wir sie nicht üben, allmälig aus unserm Gedächtniß verschwinden; weil sie eben nur aus der Gewohnheit und dem Griffe kommende Übungsstücke sind: so z.B. vergessen die meisten Gelehrten ihr Griechisch, und die heimgekehrten Künstler ihr Italiänisch. Ebenfalls erklärt sich daraus, daß, wenn wir einen Namen, einen Vers oder dergleichen ehemals wohl gewußt, aber in vielen Jahren nicht gedacht haben, wir ihn mit Mühe zurückbringen, aber, wenn dieses gelungen ist, ihn abermals auf einige Jahre zur Disposition haben; weil jetzt die Übung erneuert ist. Daher soll wer mehrere Sprachen versteht in jeder derselben von Zeit zu Zeit etwas lesen; wodurch er seinen Besitz sich erhält.[164]

Hieraus erklärt sich auch, warum die Umgebungen und Begebenheiten unserer Kindheit sich so tief dem Gedächtniß einprägen; weil wir nämlich als Kinder nur wenige und hauptsächlich anschauliche Vorstellungen haben und wir diese daher, um beschäftigt zu seyn, unablässig wiederholen. Bei Menschen, die zum Selbstdenken wenig Fähigkeit haben, ist dieses ihr ganzes Leben hindurch (und zwar nicht nur mit anschaulichen Vorstellungen, sondern auch mit Begriffen und Worten) der Fall, daher solche bisweilen, wenn nämlich nicht Stumpfheit und Geistesträgheit es verhindert, ein sehr gutes Gedächtniß haben. Dagegen hat das Genie bisweilen kein vorzügliches Gedächtniß, wie Rousseau Dies von sich selbst angiebt: es wäre daraus zu erklären, daß dem Genie die große Menge neuer Gedanken und Kombinationen zu vielen Wiederholungen keine Zeit läßt; wiewohl dasselbe sich wohl nicht leicht mit einem ganz schlechten Gedächtniß findet, weil die größere Energie und Beweglichkeit der gesammten Denkkraft hier die anhaltende Übung ersetzt. Auch wollen wir nicht vergessen, daß die Mnemosyne die Mutter der Musen ist. Man kann demnach sagen: das Gedächtniß steht unter zwei einander antagonistischen Einflüssen: dem der Energie des Vorstellungsvermögens einerseits und dem der Menge der dieses beschäftigenden Vorstellungen andererseits. Je kleiner der erste Faktor, desto kleiner muß auch der andere seyn, um ein gutes Gedächtniß zu liefern; und je größer der zweite, desto größer muß auch der andere seyn. Hieraus erklärt sich auch, warum Menschen, die unablässig Romane lesen, dadurch ihr Gedächtniß verlieren; weil nämlich auch bei ihnen, eben wie beim Genie, die Menge von Vorstellungen, die hier aber nicht eigne Gedanken und Kombinationen, sondern fremde, rasch vorüberziehende Zusammenstellungen sind, zur Wiederholung und Übung keine Zeit noch Geduld läßt: und was beim Genie die Übung kompensirt geht ihnen ab. Übrigens unterliegt die ganze Sache noch der Korrektion, daß Jeder das meiste Gedächtniß hat für Das, was ihn interessirt, das wenigste für das Übrige. Daher vergißt mancher große Geist die kleinen Angelegenheiten und Vorfälle des täglichen Lebens, imgleichen die ihm bekannt gewordenen unbedeutenden Menschen, unglaublich schnell; während beschränkte Köpfe das Alles trefflich behalten: nichtsdestoweniger wird Jener für die ihm wichtigen Dinge und für das an[165] sich selbst Bedeutende ein gutes, wohl gar ein stupendes Gedächtniß haben.

Überhaupt aber ist leicht einzusehn, daß wir am besten solche Reihen von Vorstellungen behalten, welche unter sich am Bande einer oder mehrerer der angegebenen Arten von Gründen und Folgen zusammenhängen; schwerer aber die, welche nicht unter sich, sondern nur mit unserm Willen nach dem Gesetze der Motivation verknüpft, d.h. willkürlich zusammengestellt sind. Bei jenen nämlich ist in dem uns a priori bewußten Formalen die Hälfte der Mühe uns erlassen: Dieses, wie überhaupt alle Kenntniß a priori, hat auch wohl Plato's Lehre, daß alles Lernen nur ein Erinnern sei, veranlaßt. –[166]

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 163-167.
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Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde /Über den Willen der Natur