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[30] Wir denken heute in Erdteilen. Nur unsere Philosophen und Historiker haben das noch nicht gelernt. Was können uns da Begriffe und Perspektiven bedeuten, die mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit hervortreten und deren Horizont doch über die geistige Atmosphäre des westeuropäischen Menschen nicht hinausreicht?

Man sehe sich daraufhin unsre besten Bücher an. Wenn Plato von der Menschheit redet, so meint er den Hellenen im Gegensatz zum Barbaren. Das entspricht durchaus dem ahistorischen Stil des antiken Lebens und Denkens und führt unter dieser Voraussetzung zu Ergebnissen, welche für Griechen richtig und bedeutsam sind. Wenn aber Kant philosophiert, über ethische Ideale zum Beispiel, so behauptet er die Gültigkeit seiner Sätze für die Menschen aller Arten und Zeiten. Er spricht das nur nicht aus, weil es für ihn und seine Leser selbstverständlich ist. Er formuliert in seiner Ästhetik nicht das Prinzip der Kunst des Phidias oder der Kunst Rembrandts, sondern gleich das der Kunst überhaupt. Aber was er an notwendigen Formen des Denkens feststellt, sind doch nur die notwendigen Formen des abendländischen Denkens. Ein Blick auf Aristoteles und dessen wesentlich andere Resultate hätte lehren sollen, daß hier nicht ein weniger klarer, sondern ein anders angelegter Geist über sich reflektiert. Dem russischen Denken sind die Kategorien des abendländischen ebenso fremd wie diesem die des chinesischen oder griechischen. Ein wirkliches und restloses Begreifen der antiken Urworte ist uns ebenso unmöglich wie das der russischen20 und indischen, und für den modernen Chinesen und Araber mit ihren ganz anders gearteten Intellekten hat die Philosophie von Bacon bis Kant lediglich den Wert einer Kuriosität.

Das ist es, was dem abendländischen Denker fehlt und gerade ihm nicht fehlen sollte: die Einsicht in den historisch-relativen Charakter seiner Ergebnisse, die selbst Ausdruck eines einzelnen und nur dieses[31] einen Daseins sind, das Wissen um die notwendigen Grenzen ihrer Gültigkeit, die Überzeugung, daß seine »unumstößlichen Wahrheiten« und »ewigen Einsichten« eben nur für ihn wahr und in seinem Weltaspekt ewig sind und daß es Pflicht ist, darüber hinaus nach denen zu suchen, die der Mensch anderer Kulturen mit derselben Gewißheit aus sich heraus entwickelt hat. Das gehört zur Vollständigkeit einer Philosophie der Zukunft. Das erst heißt die Formensprache der Geschichte, der lebendigen Welt verstehen. Es gibt hier nichts Bleibendes und Allgemeines. Man rede nicht mehr von den Formen des Denkens, dem Prinzip des Tragischen, der Aufgabe des Staates. Allgemeingültigkeit ist immer der Fehlschluß von sich auf andere.

Sehr viel bedenklicher wird das Bild, wenn wir uns den Denkern der westeuropäischen Modernität von Schopenhauer an zuwenden, dort, wo der Schwerpunkt des Philosophierens aus dem Abstrakt-Systematischen ins Praktisch-Ethische rückt und an Stelle des Problems der Erkenntnis das Problem des Lebens (des Willens zum Leben, zur Macht, zur Tat) tritt. Hier wird nicht mehr das ideale Abstraktum »Mensch« wie bei Kant, sondern der wirkliche Mensch, wie er in historischer Zeit, als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft gruppiert die Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen, und es ist sinnlos, wenn auch da noch die Struktur der höchsten Begriffe durch das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit und die damit verbundene örtliche Beschränkung bestimmt wird. Aber das ist der Fall.

Betrachten wir den geschichtlichen Horizont Nietzsches. Seine Begriffe der Dekadenz, des Nihilismus, der Umwertung aller Werte, des Willens zur Macht, die tief im Wesen der abendländischen Zivilisation begründet liegen und für ihre Analyse schlechthin entscheidend sind – welches war die Grundlage ihrer Schöpfung? Römer und Griechen, Renaissance und europäische Gegenwart, einen flüchtigen Seitenblick auf die (mißverstandene) indische Philosophie eingerechnet, kurz: Altertum – Mittelalter – Neuzeit. Darüber ist er, streng genommen, nie hinausgegangen und die andern Denker seiner Zeit so wenig wie er.[32]

Aber in welcher Beziehung steht denn sein Begriff des Dionysischen zum Innenleben der hochzivilisierten Chinesen aus der Zeit des Konfuzius oder eines modernen Amerikaners? Was bedeutet der Typus des Übermenschen für die Welt des Islam? Oder was sollen die Begriffe Natur und Geist, heidnisch und christlich, antik und modern als gestaltende Antithese im Seelentum des Inders und Russen bedeuten? Was hat Tolstoi, der aus seiner tiefsten Menschlichkeit heraus die ganze Ideenwelt des Westens als etwas Fremdes und Fernes ablehnte, mit dem »Mittelalter«, mit Dante, mit Luther, was hat ein Japaner mit dem Parsifal und dem Zarathustra, was ein Inder mit Sophokles zu schaffen? Und ist die Gedankenwelt Schopenhauers, Comtes, Feuerbachs, Hebbels, Strindbergs etwa weiträumiger? Ist ihre gesamte Psychologie trotz aller Absichten auf Weltgeltung nicht von rein abendländischer Bedeutung? Wie komisch wirken Ibsens Frauenprobleme, die ebenfalls mit dem Anspruch auf die Aufmerksamkeit der ganzen »Menschheit« auftreten, wenn man an Stelle der berühmten Nora, einer nordwesteuropäischen Großstadtdame, deren Gesichtskreis etwa einer Mietwohnung von 2000 bis 6000 Mark und einer protestantischen Erziehung entspricht, Cäsars Frau, Madame de Sévigné, eine Japanerin oder eine Tiroler Bäuerin setzt? Aber Ibsen selbst besitzt den Gesichtskreis der großstädtischen Mittelklasse von gestern und heute. Seine Konflikte, deren seelische Voraussetzungen etwa seit 1850 vorhanden sind und 1950 kaum überdauern werden, sind weder die der großen Welt noch die der unteren Masse, geschweige denn die von Städten mit nichteuropäischer Bevölkerung.

Alles das sind episodische und örtliche, meist sogar auf die augenblickliche Intelligenz der Großstädte von westeuropäischem Typus beschränkte, nichts weniger als welthistorische und »ewige« Werte, und wenn sie der Generation Ibsens und Nietzsches noch so wesentlich sind, so heißt es eben doch den Sinn des Wortes Weltgeschichte – die keine Auswahl, sondern eine Totalität darstellt – mißverstehen, wenn man die außerhalb des modernen Interesses liegenden Faktoren ihnen unterordnet, sie unterschätzt oder übersieht. Und das ist in einem ungewöhnlich hohen Grade der Fall. Was im Abendlande bisher über die Probleme des Raumes, der Zeit, der Bewegung,[33] der Zahl, des Willens, der Ehe, des Eigentums, des Tragischen, der Wissenschaft gesagt und gedacht worden ist, blieb eng und zweifelhaft, weil man immer darauf aus war, die Lösung der Frage zu finden, statt einzusehen, daß zu vielen Fragenden viele Antworten gehören, daß jede philosophische Frage nur der verhüllte Wunsch ist, eine bestimmte Antwort zu erhalten, die in der Frage schon beschlossen liegt, daß man die großen Fragen einer Zeit gar nicht vergänglich genug fassen kann und daß demnach eine Gruppe historisch bedingter Lösungen angenommen werden muß, deren Übersicht erst – unter Ausschaltung aller eigenen Wertmaßstäbe – die letzten Geheimnisse aufschließt. Für den echten Menschenkenner gibt es keine absolut richtigen oder falschen Standpunkte. Es genügt nicht, angesichts so schwerer Probleme wie dem der Zeit oder der Ehe die persönliche Erfahrung, die innere Stimme, die Vernunft, die Meinung der Vorgänger oder Zeitgenossen zu befragen. So erfährt man, was für den Frager selbst und seine Zeit wahr ist, aber das ist nicht alles. Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.

Man begreift, welcher Erweiterung und Vertiefung die abendländische Weltkritik fähig ist und was alles über den harmlosen Relativismus Nietzsches und seiner Generation hinaus in den Kreis der Betrachtung gezogen, welche Feinheit des Formgefühls, welcher Grad von Psychologie, welche Entsagung und Unabhängigkeit von praktischen Interessen, welche Unumschränktheit des Horizonts erreicht werden muß, bevor man sagen darf, man habe die Weltgeschichte, die Welt als Geschichte, verstanden.

20

Vgl. Bd. II, S. 921 Anm. Die Grundvorstellung des Darwinismus empfindet der echte Russe als ebenso sinnlos wie der echte Araber die des kopernikanischen Systems.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 30-34.
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Ausgewählte Ausgaben von
Der Untergang des Abendlandes
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
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Der Untergang des Abendlandes
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Der Untergang des Abendlandes, II.

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