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[14] Denn der Mensch ist ein Raubtier. Feine Denker wie Montaigne und Nietzsche haben das immer gewußt. Die Lebensweisheit in alten Märchen und Sprichwörtern aller Bauern- und Nomadenvölker, die lächelnde Einsicht großer Menschenkenner- Staatsmänner, Feldherren, Kaufleute, Richter – auf der Höhe eines reichen Lebens, die Verzweiflung gescheiterter Weltverbesserer und das Schelten erzürnter Priester waren weit davon entfernt, das zu verschweigen oder leugnen zu wollen. Nur der feierliche Ernst idealistischer Philosophen und – anderer Theologen besaß nicht den Mut zu dem, was man im stillen recht gut wußte. Ideale sind Feigheiten. Und trotzdem könnte man aus ihren Werken eine hübsche Sammlung von Sprüchen zusammenstellen, die ihnen über die Bestie Mensch gelegentlich entschlüpft sind.

Aber mit dieser Einsicht muß endlich Ernst gemacht werden. Die Skepsis, die letzte philosophische Haltung, die diesem Zeitalter noch möglich, die seiner würdig ist, gestattet kein Vorbeireden mehr. Dennoch und gerade deshalb wende[14] ich mich gegen Ansichten, die von der Naturwissenschaft des vorigen Jahrhunderts her entwickelt worden sind. Die anatomische Betrachtung und Ordnung des Tierreiches wird ihrer Herkunft entsprechend durchaus von materialistischen Gesichtspunkten beherrscht. Wenn das Bild des Leibes, wie er sich dem menschlichen Auge und nur diesem darstellt, noch dazu des zerschnittenen, chemisch präparierten, durch Experimente mißhandelten Leibes zu einem System führte, das Linné begründet und die Schule Darwins paläontologisch vertieft hat, einem System von ruhenden, optischen Einzelheiten, so gibt es daneben noch eine ganz andere, unsystematische Ordnung von Arten des Lebens, die sich nur dem ungelehrten Miterleben, der innerlich gefühlten Verwandtschaft von Ich und Du erschließt, wie sie jeder Bauer kennt, aber auch jeder echte Dichter und Künstler. Ich denke gern über die Physiognomik1 der Arten von tierischem Leben, über die Arten von Tierseelen nach und überlasse die Systematik des Körperbaus den Zoologen. Und dann ergibt sich eine ganz andere Rangordnung des Lebens, nicht des Leibes.

Eine Pflanze lebt, obwohl sie nur im eingeschränkten[15] Sinne ein Lebewesen ist.2 In Wirklichkeit lebt es in ihr oder um sie herum. »Sie« atmet, »sie« nährt sich, »sie« vermehrt sich, und trotzdem ist sie ganz eigentlich nur der Schauplatz dieser Vorgänge, die mit solchen der umgebenden Natur, mit Tag und Nacht, mit Sonnenbestrahlung und der Gärung im Boden eine Einheit bilden, so daß die Pflanze selbst nicht wollen und wählen kann. Alles geschieht mit ihr und in ihr. Sie sucht weder den Standort, noch die Nahrung, noch die andere Pflanze, mit welcher sie die Nachkommen erzeugt. Sie bewegt sich nicht, sondern der Wind, die Wärme, das Licht bewegen sie.

Über diese Art von Leben erhebt sich nun das freibewegliche Leben der Tiere, aber in zwei Stufen. Es gibt eine Art, durch alle anatomischen Gattungen hindurch, vom einzelligen Urtier bis zu Schwimmvögeln und Huftieren, deren Leben auf die unbewegliche Pflanzenwelt als Nahrung angewiesen ist, um sich zu erhalten. Pflanzen fliehen nicht und können sich nicht wehren.

Aber darüber erhebt sich eine zweite Art von Leben, Tiere, die von anderen Tieren leben, deren Leben im Töten besteht. Da ist die Beute selbst sehr beweglich, selbst kämpfend, selbst reich an[16] Listen aller Art. Auch dieses Leben ist über alle Gattungen des Systems verbreitet. Jeder Wassertropfen ist ein Schlachtfeld, und wir, die den Kampf auf dem Lande so beständig vor Augen haben, daß wir seine Selbstverständlichkeit, ja sogar sein Vorhandensein vergessen, sehen heute mit Grauen, wie phantastische Formen der Tiefsee das Leben des Tötens und Getötetwerdens führen.

Das Raubtier ist die höchste Form des freibeweglichen Lebens. Es bedeutet das Maximum an Freiheit von andern und für sich, an Selbstverantwortlichkeit, an Alleinsein, das Extrem der Notwendigkeit, sich kämpfend, siegend, vernichtend zu behaupten. Es gibt dem Typus Mensch einen hohen Rang, daß er ein Raubtier ist.

Ein Pflanzenfresser ist seinem Schicksal nach ein Beutetier und sucht sich diesem Verhängnis durch kampflose Flucht zu entziehen. Ein Raubtier macht Beute. Das eine Leben ist in seinem innersten Wesen defensiv, das andere ist offensiv, hart, grausam, zerstörend. Schon die Taktik der Bewegung unterscheidet sie – auf der einen Seite die Gewohnheit des Fliehens, der schnelle Lauf, das Winkelschlagen, Ausweichen, Sichverstecken, auf der andern die geradlinige Bewegung des Angriffs,[17] der Sprung des Löwen, das Herabstoßen des Adlers. Es gibt eine List, ein Überlisten im Stile des Starken und des Schwachen. Klug im menschlichen Sinne, aktiv klug, sind nur Raubtiere. Pflanzenfresser sind im Vergleich dazu dumm, nicht nur die Tauben »ohne Falsch« und der Elefant, sondern selbst die edelsten Arten der Huftiere: der Stier, das Pferd, der Hirsch, die erst in der blinden Wut und der geschlechtlichen Erregung fähig sind zu kämpfen, und sich sonst zähmen und von einem Kinde leiten lassen.

Zum Unterschied der Bewegungen tritt noch gewaltiger der in den Sinnesorganen. Und mit den Sinnen unterscheidet sich auch die Art, eine »Welt« zu haben. An und für sich lebt jedes Wesen in der Natur, in einer Umgebung, ob es sie nun bemerkt oder sich ihr bemerkbar macht oder nicht. Erst durch die geheimnisvolle und von keinem menschlichen Nachdenken zu erklärende Art der Beziehungen zwischen dem Tier und seiner Umgebung mittels der tastenden, ordnenden, verstehenden Sinne entsteht aus der Umgebung eine Umwelt für jedes einzelne Wesen.3 Die höheren Pflanzenfresser werden neben dem Gehör vor allem durch die Witterung beherrscht,[18] die höheren Raubtiere aber herrschen durch das Auge. Die Witterung ist der eigentliche Sinn der Verteidigung. Die Nase spürt Herkunft und Entfernung der Gefahr und gibt damit der Fluchtbewegung eine zweckmäßige Richtung von etwas fort.

Das Auge der Raubtiere aber gibt ein Ziel. Schon dadurch, daß die Augenpaare der großen Raubtiere wie beim Menschen auf einen Punkt der Umgebung fixiert werden können, gelingt es, das Beutetier zu bannen. Im feindlichen Blick liegt für das Opfer schon das unentrinnbare Schicksal, der Sprung des nächsten Augenblicks. Das Fixieren der nach vorn und parallel gerichteten Augen ist aber gleichbedeutend mit dem Entstehen der Welt in dem Sinne, wie der Mensch sie hat, als Bild, als Welt vor seinen Blicken, als Welt nicht nur des Lichtes und der Farben, sondern vor allem der perspektivischen Entfernung, des Raumes und der in ihm stattfindenden Bewegungen und an bestimmten Orten ruhenden Gegenstände. In dieser Art des Sehens, wie sie nur die edelsten Raubtiere besitzen – Pflanzenfresser, z.B. Huftiere, haben seitwärts stehende Augen, von denen jedes einen anderen, unperspektivischen Eindruck hat –, liegt schon die[19] Idee des Herrschens. Das Weltbild ist die vom Auge beherrschte Umwelt. Das Raubtierauge bestimmt die Dinge nach Lage und Entfernung. Es kennt den Horizont. Es bemißt in diesem Schlachtfeld die Objekte und Bedingungen des Angriffs. Wittern und Spähen – das Reh und der Habicht – verhalten sich wie Sklave-sein und Herr-sein. Ein unendliches Machtgefühl liegt in diesem weiten ruhigen Blick, ein Gefühl der Freiheit, die aus Überlegenheit entspringt und auf der größeren Gewalt beruht, und die Gewißheit, niemandes Beute zu sein. Die Welt ist die Beute, und aus dieser Tatsache ist letzten Endes die menschliche Kultur erwachsen.

Und endlich hat sich diese Tatsache der angeborenen Überlegenheit wie nach außen zur Lichtwelt mit ihren unendlichen Fernen, so nach innen zur Seelenart starker Tiere vertieft. Die Seele, das rätselhafte Etwas, das bei diesem Wort gefühlt wird und dessen Wesen keiner Wissenschaft zugänglich ist, der göttliche Funke in diesem lebendigen Leibe, der in der göttlich grausamen, göttlich unbekümmerten Welt herrschen oder unterliegen muß: was wir Menschen als Seele fühlen, in uns und in andern, ist der Gegenpol der Lichtwelt um uns, in welcher menschliches Denken[20] und Ahnen gern eine Weltseele annimmt. Die Seele ist um so stärker ausgeprägt, je einsamer das Wesen ist, je entschiedener es eine Welt für sich bildet, gegen alle Welt um sich herum. Was ist das Gegenteil der Seele eines Löwen? Die Seele einer Kuh. Pflanzenfresser ersetzen die starke einzelne Seele durch die große Zahl, die Herde, das gemeinsame Fühlen und Tun von Massen. Aber je weniger man die andern braucht, desto mächtiger ist man. Ein Raubtier ist jedermanns Feind. Es duldet in seinem Revier niemand seinesgleichen – der königliche Begriff des Eigentums hat hier seine Wurzel. Eigentum ist der Bereich, in dem man unumschränkte Macht ausübt, erkämpfte, gegen seinesgleichen verteidigte, siegreich behauptete Macht. Es ist kein Recht auf ein bloßes Haben, sondern auf ein selbstherrliches Schalten und Walten damit.

Es gibt, wenn man es richtig versteht, eine Raubtier- und eine Pflanzenfresserethik. Niemand ist imstande, etwas daran zu ändern. Es ist die innere Form, der Sinn, die Taktik des ganzen Lebens. Es ist eine einfache Tatsache. Man kann das Leben vernichten, aber nicht in seiner Art verändern. Ein gezähmtes, gefangenes Raubtier – jeder zoologische Garten bietet Beispiele dafür – ist seelisch[21] verstümmelt, weltkrank, innerlich vernichtet. Es gibt Raubtiere, die freiwillig verhungern, wenn sie gefangen sind. Pflanzenfresser geben nichts auf, wenn sie Haustiere werden.

Das ist der Unterschied zwischen dem Schicksal von Pflanzenfressern und dem Raubtierschicksal. Das eine bedroht nur, das andere spendet auch. Jenes drückt nieder, macht klein und feig, dieses erhebt durch Macht und Sieg, durch Stolz und Haß. Jenes erleidet man, dieses ist man selbst. Der Kampf der Natur drinnen gegen die Natur draußen wird nicht mehr als Elend empfunden – so dachten sich Schopenhauer und Darwin den struggle for life –, sondern als großer Sinn des Lebens, der es adelt – so dachte Nietzsche: amor fati. Und der Mensch gehört zu dieser Art.

1

Unterg. d. Abendl. Bd. I Kap. II §§ 4–5.

2

Unterg. d. Abendl. Bd. II S. 1 ff.

3

v. Üxküll, Biologische Weltanschauung, 1913, S. 67 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 14-22.
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