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[44] Das Tun zu mehreren nennen wir Unternehmen. Sprechen und Unternehmen setzen sich in genau derselben Weise gegenseitig voraus wie früher Hand und Werkzeug. Sprechen zu mehreren hat seine innere, grammatische Form an der Durchführung von Unternehmungen entwickelt, und die Gewohnheit des Unternehmens ist von der Methode des sprachgebundenen Denkens geschult worden. Denn Sprechen heißt, sich anderen denkend mitteilen. Wenn Sprechen ein Tun ist, so ist es ein geistiges Tun mit sinnlichen Mitteln. Es hat die unmittelbare Verbindung mit körperlichem Tun sehr bald nicht mehr nötig. Denn das ist das Neue, welches jetzt, seit dem 5. Jahrtausend v. Chr., Epoche macht: Das[44] Denken, der Geist, der Verstand oder wie man das nennen will, was sich durch die Sprache von der Verbundenheit mit der tätigen Hand emanzipiert hat, tritt der Seele und dem Leben nun als eine Macht für sich entgegen. Die rein geistige Überlegung, die »Berechnung«, welche hier plötzlich, entscheidend, alles verändernd auftaucht, ist diese, daß gemeinsames Tun als Einheit eine Wirkung hat, als ob ein Riese etwas täte. Oder wie es Mephistopheles im Faust ironisch ausdrückt:


Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,

Sind ihre Kräfte nicht die meine?

Ich renne zu und bin ein rechter Mann,

Als hätt' ich vierundzwanzig Beine.


Das Raubtier Mensch will seine Überlegenheit bewußt steigern, weit über die Grenzen seiner Körperkraft hinaus. Es opfert seinem Willen zu größerer Macht einen wichtigen Zug gerade seines Lebens. Das Denken, das Berechnen der größeren Wirkung ist das erste. Ihr zuliebe versteht man sich darauf, ein wenig von seiner persönlichen Freiheit aufzugeben. Innerlich bleibt man ja unabhängig. Aber kein Schritt in der Geschichte läßt sich zurücktun. Die Zeit und also das Leben sind nicht umkehrbar. Einmal an die[45] Tätigkeit zu mehreren gewöhnt und an ihre Erfolge, verwickelt sich der Mensch immer tiefer in diese verhängnisvollen Bindungen. Das unternehmende Denken greift immer stärker in das Seelenleben ein. Der Mensch ist Sklave seines Gedankens geworden.

Der Schritt vom Gebrauch persönlicher Werkzeuge zum Unternehmen von mehreren bezeichnet eine ungeheuer wachsende Künstlichkeit der Verfahren. Das Arbeiten mit künstlichen Stoffen, das Töpfern, Weben und Flechten, will noch nicht viel besagen, obwohl es viel durchgeistigter, viel schöpferischer ist als alles frühere. Aber über zahlreiche Verfahren, von denen wir nichts mehr wissen können, ragen einige von gewaltiger Gedankenkraft hinaus, die Spuren hinterlassen haben. Vor allem sind es die, welche aus dem »Gedanken des Bauens« erwachsen sind. Wir kennen Bergwerke auf Feuerstein, lange vor aller Kenntnis der Metalle, in Belgien, England, Österreich, Sizilien, Portugal, die sicher bis in diese Zeit zurückreichen, mit Schächten und Stollen, Wetterführung und Abstützungen, in denen mit Werkzeugen aus Hirschgeweih gearbeitet wurde.7 Es gibt in »frühneolithischer« Zeit starke Beziehungen zwischen[46] Portugal und Nordwestspanien und der Bretagne unter Umgehung von Südfrankreich, zwischen der Bretagne und Irland, die eine geregelte Schiffahrt und also den Bau von leistungsfähigen Fahrzeugen unbekannter Art voraussetzen. Es gibt in Spanien Megalithbauten aus behauenen Steinen von gewaltiger Größe, mit Deckplatten im Gewicht von mehr als 100000 kg, die oft von weither herangeschafft und mit einer uns unbekannten Technik an ihren Platz gesetzt werden mußten. Macht man sich klar, was zu solchen Unternehmungen nötig ist an Nachdenken, Beratung, Aufsicht, Befehlen, an monate- und jahrelanger Vorbereitung zur Gewinnung und zum Heranbringen des Materials, zur zeitlichen und räumlichen Verteilung der Aufgaben, dem Entwerfen des Planes, zur Übernahme und Leitung der Ausführung? Welch langes Vorausdenken fordert das Unternehmen der Schiffahrt auf hoher See im Vergleich zur Herrichtung eines Feuersteinmessers! Schon der »zusammengesetzte Bogen«, der auf spanischen Felsbildern dieser Zeit vorkommt, verlangt zu seiner Herstellung aus wechselnden Lagen von Sehnenmasse, Horn und bestimmten Hölzern ein kompliziertes Verfahren, das sich über 5–7 Jahre ausdehnt. Und die »Erfindung des Wagens«, wie[47] wir sehr naiv sagen, was setzt sie für ein Nachdenken, Anordnen und Tun voraus, das sich von Zweck, Weg und Art des »Fahrens«, der Wahl und Herstellung der Straße, an die meist niemand denkt, der Beschaffung oder Züchtung von Zugtieren bis zu Erwägungen über Größe und Art der Belastung, deren Sicherung, über Lenkung und Unterkunft erstreckt!

Eine ganz andere Welt von Schöpfungen geht aus dem »Gedanken des Zeugens« hervor, nämlich der Züchtung von Pflanzen und Tieren, durch welche der Mensch selbst die Schöpferin Natur vertritt, nachahmt, verändert, verbessert und vergewaltigt. Seit er – damals – Pflanzen anbaute, statt sie zu sammeln, hat er sie sicherlich mit Bewußtsein für seine Zwecke umgestaltet. Jedenfalls gehören die Funde zu Arten, die wildwachsend nicht nachgewiesen sind. Und die ältesten Funde von Tierknochen, welche Viehhaltung in irgend einer Form beweisen, zeigen bereits die Folgen der »Domestikation«, die bestimmt zum Teil gewollt und durch Züchtung erreicht worden sind.8 Der Begriff der Beute des Raubtieres erweitert sich: Nicht nur das erlegte Tier ist Beute[48] und Eigentum, sondern schon die freiweidende Wildherde9, ob man sie nun einhegt oder nicht.10 Sie gehört jemandem, einem Stamm oder Jägertrupp, und dieser verteidigt sein Recht auf Ausbeutung. Die Überführung in Gefangenschaft zum Zweck der Züchtung, die den Anbau von Futtermitteln voraussetzt, ist nur eine von mehreren Arten des Besitzens.

Ich hatte gezeigt, daß die Entstehung der bewaffneten Hand die logische Trennung von zwei Verfahren zur Folge hatte: die Herstellung und den Gebrauch der Waffe. Ebenso folgt nun aus dem sprachgeleiteten Unternehmen die Trennung der Tätigkeiten des Denkens und der Hand. Bei jedem Unternehmen läßt sich Ausdenken und Ausführen unterscheiden, und von jetzt an ist die Leistung des praktischen Denkens die erste und wichtigste. Es gibt Führerarbeit und ausführende Arbeit: das ist für alle kommenden Zeiten die technische Grundform des gesamten menschlichen Lebens geworden.11 Ob es sich um[49] eine Jagd auf großes Wild oder einen Tempelbau, um ein kriegerisches oder landwirtschaftliches Unternehmen, die Gründung einer Firma oder eines Staates, um einen Karawanenzug, einen Aufstand, selbst um ein Verbrechen handelt – immer muß zuerst ein unternehmender, erfinderischer Kopf da sein, der die Idee hat, die Ausführung leitet, der befiehlt, die Aufgaben verteilt, kurz, der zum Führer geboren ist über andere, die es nicht sind.

Es gibt aber nicht nur zwei Arten von Technik im Zeitalter des sprachgeleiteten Unternehmens, die von Jahrhundert zu Jahrhundert schärfer auseinandertreten, sondern auch zwei Arten von Menschen, die sich durch ihre Begabung für eine von ihnen unterscheiden. Es gibt bei jedem Verfahren eine Technik des Führens und eine andere der Ausführung, aber ebenso selbstverständlich gibt es von Natur Befehlende und Gehorchende, Subjekte und Objekte der politischen oder wirtschaftlichen Verfahren. Das ist die Grundform des vielgestaltig gewordenen menschlichen Lebens seit dieser Wandlung, die nur mit dem Leben selbst zu beseitigen ist.

Zugegeben, daß sie widernatürlich und künstlich ist – aber das ist ja »Kultur«. Sie mag[50] verhängnisvoll sein und ist es zu Zeiten wirklich gewesen, weil man sich einbildete, sie künstlich beseitigen zu können, aber sie ist nichtsdestoweniger eine unerschütterliche Tatsache. Regieren, Entscheiden, Leiten, Befehlen ist eine Kunst, eine schwierige Technik, die wie jede andre eine angeborene Begabung voraussetzt. Nur Kinder glauben, daß der König mit der Krone zu Bette geht, und Untermenschen der Großstädte, Marxisten, Literaten, glauben von Wirtschaftsführern etwas Ähnliches. Unternehmen ist eine Arbeit, welche die Handarbeit erst möglich macht. Und ebenso ist das Erfinden, Ausdenken, Berechnen, Durchführen neuer Verfahren eine schöpferische Tätigkeit begabter Köpfe, welche die ausführende Tätigkeit der Unschöpferischen zur notwendigen Folge hat. Hierher gehört der etwas altmodische Unterschied von Genie und Talent. Genie ist – wörtlich12 – die Schöpferkraft, der heilige Funke im einzelnen Leben, der in Strömen von Generationen rätselhaft auftaucht und erlischt und plötzlich ein Zeitalter weithin erleuchtet. Talent ist eine Begabung für vorhandene Einzelaufgaben, die sich durch Tradition, Lernen, Übung, Dressur zu starker Wirkung entwickeln[51] läßt. Talent setzt Genie voraus, um angewendet werden zu können, nicht umgekehrt.

Es gibt zuletzt einen natürlichen Rangunterschied zwischen Menschen, die zum Herrschen und die zum Dienen geboren sind, zwischen Führern und Geführten des Lebens. Er ist schlechthin vorhanden und wird in gesunden Zeiten und Bevölkerungen von jedermann unwillkürlich anerkannt, als Tatsache, obgleich sich in Jahrhunderten des Verfalls die meisten zwingen, das zu leugnen oder nicht zu sehen. Aber gerade das Gerede von der »natürlichen Gleichheit aller« beweist, daß es hier etwas fortzubeweisen gibt.

7

Reall. d. Vorgeschichte, Bd. I (Bergbau).

8

Hilzheimer, Natürliche Rassengeschichte der Haussäugetiere (1926).

9

Wie heute der Wildbestand unserer Wälder.

10

Noch im 19. Jahrh. folgten Indianerstämme den großen Büffelherden, wie jetzt noch die Gauchos in Argentinien den Rinderherden, die Privateigentum sind. Das Nomadentum ist zum Teil so, aus der Seßhaftigkeit heraus, entstanden.

11

Untergang des Abendlandes Bd. II Kap. V § 2, 4.

12

Es kommt vom lateinischen genius, der männlichen Zeugungskraft.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 44-52.
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