14

[40] Die deutsche Reformation hat keine innerlichen Folgen gehabt. Das Luthertum war ein Ende, kein Anfang.1 Das gotische Deutschtum lag im Sterben und reckte sich hier zum letztenmal in einer großen Tat von ganz persönlichem Gehalt auf. Luther ist nur aus der Renaissancestimmung zu erklären, welche damals die sichtbare Kirche durchdrang: daß ihr öffentlicher Geist der des mediceischen Hofes, daß Päpste und Kardinäle Kondottieri, ihre Verwaltung eine systematische Plünderung der Gläubigen, daß der Glaube selbst ein Formproblem, das Verhältnis von Sünde und Buße eine Frage des Geschmacks wie etwa die nach dem Verhältnis von Säule und Architrav geworden war, dagegen empörte sich die mächtige gotische Innerlichkeit des Nordens. Die Kirche ohne dieses Papsttum, gotischer Glaube ohne die geistreiche Betonung der bloßen Form – es war nur eine treuherzig-bauernmäßige Revolte, die das innerste Wesen kirchlicher Gebundenheit gar nicht in Frage stellte; sie trug den Geist der Verneinung an der Stirn, deren fruchtbare Leidenschaft nicht lange dauern konnte. Schöpferisch und bejahend wurde erst der blühende Geist des Barock, in dem auch der Katholizismus einen Höhepunkt von Lebenskraft und Lebenslust erreichte, als der spanische Mensch die Gegenreformation und den streitbaren Jesuitismus schuf. Im 17. Jahrhundert setzen dann die neuen Völker des Nordens zur Bildung einer eigenen Religiosität aus den unerschöpflichen Möglichkeiten des Christentums an. Gemeinsam ist ihnen die strenge Tatgesinnung, sehr im Gegensatz zu der müßigen Kultur von Florenz und der unfruchtbaren selbstquälerischen Dialektik Pascals und der französischen Jansenisten. Es entstanden der revolutionäre Independentismus[40] in England und unter seinem Eindruck in Schwaben und Preußen jener Pietismus, dessen stille Wirkung gerade in dem aufsteigenden preußischen Menschen gewaltig war. Nach außen dienend, gehorsam, entsagend, in der Seele von den Einschränkungen des Weltlebens frei, von jener zarten, tiefen Fülle des Gefühls und echten Herzenseinfalt, wie wir sie an der Königin Luise, Wilhelm L, Bismarck, Moltke, Hindenburg, dem Typus des altpreußischen Offiziers überhaupt kennen, so besaß der einzelne eine fast dogmenlose, vor andern schamhaft verhüllte Frömmigkeit, die sich nach außen im pflichtgemäßen Tun, nicht im Bekennen bewähren mußte.

Der englische Independent aber ist nach außen frei, normannenhaft frei. Er prägte sich eine reine Laienreligion mit der Bibel als Grundlage, zu deren souveräner Deutung sich jeder einzelne das Recht nahm. Was er tat, war also stets das sittlich Richtige. Ein Zweifel daran liegt dem Engländer vollkommen fern. Der Erfolg war der Ausdruck göttlicher Gnade. Die Verantwortung für die Moralität der Handlungen stand Gott zu, während der Pietist sie sich selber anrechnete. Dergleichen Überzeugungen zu ändern steht in keines Menschen Macht. Was man wollen muß, findet man überall bestätigt. Führt dieses Wollenmüssen zum Untergang, so ist das unabänderliches Schicksal.

Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische Instinkt aus der französisch-förmlichen, ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk, jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes Schicksal – so nahm sich die Prädestinationslehre im Geiste Cromwells und seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen.

Demgegenüber haftet dem Pietismus, der sich eher in einer deutschsprechenden Bevölkerung ausbreitete als Ausdruck[41] einer deutschen Rasse war, etwas Unpraktisches und Provinziales an. In kleinen Zirkeln herrschte ein inniger Geist der Gemeinsamkeit; das ganze Leben war ein Dienst; dieses karge Stückchen Erdendasein inmitten von Jammer und Mühe hat seinen Sinn nur im Banne einer größeren Aufgabe.

Aber diese Aufgabe mußte gestellt werden und hier liegt das Gewaltige im kaum bewußten Wirken der großen Hohenzollern, den Erben der ostmärkischen Ritteridee; unter allen Flecken eines hartstirnigen adligen und städtischen Egoismus und hinter allen königlichen Schwächen leuchtet der Gedanke des Altpreußentums auf, der einzige große Gedanke, der seitdem auf deutschem Boden gewachsen ist und der in den besten Deutschen, auch wenn sie ihm von Herzen feind waren, doch irgendeine Gegend der Seele erobert hat. Während der schwäbische Pietismus sich in Bürgerlichkeit und Sentimentalität verlor oder seine besten Köpfe – wie Hegel – an den Norden abgab, wuchs hier ein neuer Mensch als starkgeistiger Träger dieser Religiosität empor. Eine tiefe Verachtung des bloßen Reichseins, des Luxus, der Bequemlichkeit, des Genusses, des »Glücks« durchzieht das Preußentum dieser Jahrhunderte, ein Kern des Militär- und Beamtengeistes. All diese Dinge sind dem Imperativ der ritterlichen Pflicht gegenüber ohne Würde. Dem Engländer aber sind sie Geschenke Gottes; »comfort« ist ein ehrfürchtig hingenommener Beweis der himmlischen Gnade. Tiefere Gegensätze sind kaum denkbar. Arbeit gilt dem frommen Independenten als Folge des Sündenfalls, dem Preußen als Gebot Gottes. Geschäft und Beruf als die zwei Auffassungen der Arbeit stehen sich hier unvereinbar gegenüber. Man denke sich tief in Sinn und Klang dieser Worte hinein: Beruf, von Gott berufen sein – die Arbeit selbst ist da das sittlich Wertvolle. Dem Engländer und Amerikaner ist es der Zweck der Arbeit: der Erfolg, das Geld, der Reichtum. Die Arbeit ist nur der Weg, den man so bequem und sicher als möglich wählen darf. Es ist klar, daß ein Kampf um den Erfolg unvermeidlich ist, aber das puritanische Gewissen rechtfertigt jedes Mittel. Wer im Wege steht, wird beseitigt, einzelne, ganze Klassen und Völker. Gott hat es so[42] gewollt. Man begreift, wie solche Ideen, wenn sie Leben, Blut geworden sind, ein Volk zu den höchsten Leistungen emporsteigern können. Um die angeborne menschliche Trägheit zu überwinden, sagt die preußische, die sozialistische Ethik: es handelt sich im Leben nicht um das Glück. Tu deine Pflicht, indem du arbeitest. Die englische, kapitalistische Ethik sagt: werde reich, dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten. Ohne Zweifel liegt in dem letzten Spruch etwas Verführerisches. Er reizt, er wendet sich an sehr volkstümliche Instinkte. Er ist von den Arbeitermassen unternehmungslustiger Völker recht gern verstanden worden. Noch im 19. Jahrhundert hat er den Typus des Yankee mit seinem unwiderstehlichen praktischen Optimismus hervorgebracht. Der andre schreckt ab. Er ist für die wenigen, die ihn dem Gemeinwesen einimpfen und durch dies der Menge aufzwingen mögen. Der eine ist für ein Land ohne Staat, für Egoisten und Wikingernaturen mit dem Bedürfnis ständiger persönlicher Kampfbereitschaft, wie sie sich auch im englischen Sport ausspricht; er enthält das Prinzip der äußern Selbstbestimmung, das Recht, auf Kosten aller andren glücklich zu werden, sobald man die Kraft dazu hat, den wirtschaftlichen Darwinismus. Der andre ist gleichwohl die Idee des Sozialismus in seiner tiefsten Bedeutung: Wille zur Macht, Kampf um das Glück nicht des einzelnen, sondern des Ganzen. Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx ist in diesem Sinne der erste bewußte Sozialist gewesen. Von ihm geht als von einer vorbildlichen Persönlichkeit diese Weltbewegung aus. Kant hat sie mit seinem kategorischen Imperativ in eine Formel gebracht.

Daher also sind am Ausgang der Kultur Westeuropas zwei große philosophische Schulen entstanden, die englische des Egoismus und Sensualismus um 1700, die preußische des Idealismus um 1800. Sie sprechen aus, was diese Völker sind, als ethische, als religiöse, politische, wirtschaftliche Einheiten.

An sich ist eine Philosophie nichts, ein Haufen Worte, eine Reihe von Büchern. Sie ist auch weder wahr noch falsch – an sich. Sie ist die Sprache des Lebens in einem großen Kopfe. Für den Engländer ist Hobbes wahr, wenn er das »selfish[43] system« des Egoismus und die optimistische Whigphilosophie des gemeinen Nutzens – »das größte Glück der größten Zahl« – aufstellt, und andrerseits der vornehme Shaftesbury mit seiner Zeichnung des gentleman, des Tory, der sich geschmackvoll auslebenden souveränen Persönlichkeit. Aber ebenso wahr ist für uns Kant mit seiner Verachtung des »Glückes« und Nutzens und seinem kategorischen Imperativ der Pflicht, und Hegel mit seinem mächtigen Wirklichkeitssinn, der die harten Schicksale der Staaten und nicht das Wohlergehen »der menschlichen Gesellschaft« in die Mitte seines historischen Denkens stellt. Mandeville erklärt in seiner Bienenfabel, daß der Egoismus des einzelnen, und Fichte, daß die Pflicht zur Arbeit das Triebrad des Staates sei. Ist die Unabhängigkeit durch den Reichtum oder vom Reichtum das letzte Ziel? Soll man dem kategorischen Imperativ Kants: Handle so, als ob die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden sollte, den Benthams vorziehen: Handle so, daß du – Erfolg hast?

Es sind wieder der Wikinger und der Ordensritter, die im Unterschiede englischer und preußischer Moral weiterleben. Was aus beiden Welten des Gefühls an Systemen hervorgewachsen ist, die Familien der Philosophen beider Völker, unterscheidet sich immer in dieser einen Weise. Der Engländer ist Utilitarist; er ist sogar der einzige Westeuropas; es steht ihm nicht frei, anders zu sein, und wenn er vor sich selbst diesen stärksten Antrieb seines Wesens zu verleugnen sucht, so entsteht das, was seit langer Zeit als cant berühmt geworden ist und dessen hohe Schule man in den Briefen Lord Chesterfields findet. Die Engländer sind ein Volk von Theologen, eine Folge davon, daß ihre große Revolution sich in vorwiegend religiösen Formen vollzog und daß nach Beseitigung des Staates das Gemeingefühl keine andre als die religiöse Sprache zurückbehielt. Und die Theologie legte es nahe, schon mit Rücksicht auf den Erfolg im persönlichen Daseinskampfe und aus dem sehr richtigen Gefühl, daß ein durch die biblische Auslegung oft recht zweideutiger Handlungen beruhigtes Gewissen eine starke Vermehrung von Tatkraft und Zielsicherheit bedeutet, das eigentliche Ziel, nämlich den Reichtum,[44] nicht unmittelbar bei Namen zu nennen. Wenn es innerhalb der preußischen Atmosphäre einen ähnlichen Kampf gibt, so gilt er der Stellung, dem Range; in vielen Fällen mag man es als Strebertum bezeichnen, der Idee nach liegt darin der Wille, eine höhere Verantwortlichkeit im Organismus des Ganzen auf sich zu nehmen, weil man sich ihr gewachsen fühlt.

1

Unt. d. Abdl. II, S. 362.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 40-45.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Politische Schriften
Politische Schriften

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon