8. Zur Weltlage

Ein Volk, dessen Wille aus der Weltpolitik gänzlich ausgeschaltet ist und dessen verantwortliche Vertretung den Verzicht[286] auf Politik als ihre Aufgabe betrachtet, in der Meinung, sich damit den Folgen der Politik entziehen zu können, scheint nichts weniger nötig zu haben als über die Weltlage nachzudenken. Und in der Tat beschäftigt sich ja der deutsche Bürger, soweit er nicht Parteistandpunkte verteidigt oder bekämpft, unter dem Namen Politik mit Fragen, die sich auf den provinzialen Egoismus der Länder und Ländchen beziehen.

Trotzdem sehe ich nicht, wie wir zu einer Stellung kommen sollen, die uns wieder den Rang und die Handlungsfreiheit eines selbständigen Staates verschafft, wenn wir nicht sehr aufmerksam den Gang der Weltdinge verfolgen, die mit großer Unruhe und wachsender Spannung unbekannten Verwicklungen entgegentreiben.

Auch wenn man es sich verbietet, bestimmte Möglichkeiten offen auszusprechen, so ist doch schon ein Blick auf die Verhältnisse selbst von Nutzen, denn er zeigt, auch ohne Eingreifen von irgendeiner Seite, die Heraufkunft solcher Möglichkeiten. Die Tugend besiegter Völker ist die Geduld, nicht die Resignation.

Die Tatsache, welche die augenblickliche Weltlage vollkommen beherrscht, ist der unerwartete Aufstieg Frankreichs zur unbedingt führenden politischen Macht.1 England ist infolge der Fehler seiner Diplomatie in den Hintergrund getreten. Es wird zum ersten Mal seit Jahrhunderten durch eine überlegene Taktik, die geschickt zwischen Drohung, Überredung und Zögern wechselt, vollkommen in den Dienst französischer Absichten gestellt. Amerikanische Wünsche weist man kühl zurück. Andere werden nicht einmal gehört.

Das französische Volk marschiert mit seinen 39 Millionen unter den großen Nationen an letzter Stelle. Es ist schon längst das ärmste an Geburten. Es ist seinem geistigen Zustande nach sehr alt, sehr verfeinert, sehr verbraucht. Es ist auch politisch alt geworden. Es hat seit fünfzig Jahren nur noch einen Gedanken genährt: den an Rache für einen verlorenen Krieg. Andere Völker haben inzwischen Kolonialreiche organisiert,[287] Industrien aufgebaut, eine Welt sozialer Einrichtungen geschaffen. Frankreich blieb als ein Land von Soldaten und Rentnern unschöpferisch in jedem Sinne. »Wir Franzosen werden nichts mehr erobern«, sagte Zola zu einem Besucher in jenen Jahren, als man in Paris durch die Seligsprechung der Jungfrau von Orleans eine Art von militärischem Kult für den damals schon beschlossenen Weltkrieg schuf. Und nun? Ein Volk, das auf dem Wege war, wie das spanische nach ruhmreichen Jahrhunderten abzudanken; ein Volk, das nur durch die angelsächsischen Bajonette und Milliarden gerettet worden ist, spielt heute mit dem Schicksal seiner Retter. Es hat vollkommen vergessen, wer denn zuletzt den Erfolg erzwang. Es ist überzeugt, allein gesiegt zu haben, und nimmt deshalb das Recht auf noch ganz andere Erfolge in Anspruch.

Denn Frankreich ist das einzige Land, dessen herrschende Kreise immer zuerst vom Ehrgeiz geleitet werden, dem von Robespierre und Danton geweckten und von Napoleon geschulten Ehrgeiz der grande nation. Diese Tradition, die weder im Innern noch außerhalb einen Widerspruch duldet, wird stets den lauten Ruhm dem wirtschaftlichen Aufstieg, stets den Genuß militärischer Triumphe der Klugheit, stets einen glänzenden Augenblick einer weniger glänzenden, aber schöpferischen Zukunft vorziehen. Alt geworden, innerlich krank und vom Blutverlust erschöpft, den es nicht ersetzen kann, befindet sich das Land seit fünf Jahren in einem hysterischen und sadistischen Taumel. Man täuscht sich in Frankreich selbst über den Ernst der sozialen und wirtschaftlichen Ziele französischer Politiker, und vielleicht täuschen diese sich selbst. Frankreich ist das einzige Land der Welt, das seit der Schlacht von Marengo bereit ist, selbst einen schweren Bürgerkrieg in Kauf zu nehmen, um der Armee die Ausübung ihrer Macht nach außen zu sichern. Und dieser Machtwille ist stets ein Wille zum Zerstören. Es liegt außerhalb der Möglichkeiten des französischen Charakters, noch mehr außerhalb der Neigungen des französischen Geschmacks, eroberte Länder wirtschaftlich aufblühen zu sehen, aus den Gegnern von[288] gestern Freunde von morgen zu machen. Der Franzose ist der blutigste und zugleich erfolgloseste Kolonisator, den es gibt. Von den Raubkriegen Ludwigs XIV. an, der ohne irgendwelche größeren Ziele einen Wüstengürtel längs der Ostgrenze zog, bis zur Mißhandlung europäischer Völker von Madrid bis Moskau durch die Heere Napoleons, woran dessen Reich schließlich zugrunde ging, ist der Ausdruck des französischen Siegergefühls immer derselbe geblieben.

Und wie alles bei ihnen alt ist, der Charakter, der Esprit, der Ausdruck des Machtgefühls, so auch die heutigen Ziele dieser Macht. Die gesamte Politik ist mit steigender Deutlichkeit eine Wiederaufnahme napoleonischer Pläne.2 Diese 39 Millionen wollen die Herren Europas und damit der Welt sein, die übrigen Mächte demütigen, verwüsten, vernichten. Was 1919 unter dem Eindruck eines unverhofften Erfolges noch ein unbestimmter Drang war, ist heute ein mit der ganzen Klarheit und Energie des französischen Geistes verfolgter Plan. Mit Staunen sieht man, wie die Rheinlinie als Festung ausgebaut wird, vor der als Glacis das Trümmerfeld Deutschlands liegen soll, während als Außenforts das Ruhrgebiet den Zugang zur Nordsee, die kleine Entente die Landbrücke längs der Donau nach Vorderasien, der riesenhafte Besitz in Nordwestafrika den Weg zum Nil decken sollen.

Ohne Zweifel ist Poincaré der beste Diplomat alten Stils, der heute irgendwo an leitender Stelle steht. Aber wie immer in Frankreich ist er und jeder seiner Nachfolger lediglich das ausführende Organ von Kreisen, für welche der äußere Erfolg die Bedingung des Bleibens im Amte ist. Napoleon wußte sehr wohl, daß der erste Schritt rückwärts auf der Bahn der militärischen Erfolge das Ende seiner Herrschaft bedeute. Deshalb war er seit dem Rückzug von Moskau nicht mehr in der Lage, auf ernsthafte Friedensverhandlungen einzugehen, wie sie 1813 und 1814 immer wieder versucht worden sind, was er dem Fürsten Metternich auch ganz offen zugab. Aus demselben Grunde brauchten die Bourbons 1823 den Krieg in Spanien, die Orleans 1833 den in Algier, Napoleon III.[289] 1854 den Krimkrieg, dann den von 1859 in Italien, den von 1861 in Mexiko und seit 1867 einen Krieg gegen Deutschland. Deshalb werden künftige Wahlen, so lange sie die Politik von heute bestätigen, eine Reihe rein politischer Kriege bedeuten, hinter denen die Ausbeutung fremder Länder in demselben Maße zum zweiten Ziel werden muß, als sich infolge der mangelhaften Steuerpolitik die Währung und damit die Lage des französischen Rentners verschlechtern. Auch das entspricht der Praxis der Revolution und Napoleons.

Frankreich läßt heute keinen Zweifel mehr darüber, daß es von Deutschland in erster Linie nicht Geld, sondern Macht haben will. Das Ruhrgebiet ist eine notwendige Etappe auf dem alten napoleonischen Wege. Es liegt genau dort, wo Napoleon 1806 das Großherzogtum Berg gründete, über dessen militärische Zwecke er keinen Zweifel ließ. Denn im folgenden Jahre entstand nordöstlich davon das Königreich Westfalen, dessen Truppen einen Bestandteil der französischen Armee bildeten, und darüber hinaus wurde endlich 1810 die deutsche Nordseeküste Frankreich einverleibt, ein Ziel, in dessen Richtung im Sommer 1923 in Marinekreisen die Besetzung von Bremen und Hamburg gefordert wurde. Das entwaffnete Deutschland besitzt keinerlei Mittel, um die plötzliche Besetzung der Nordseehäfen und ihre Einrichtung zu völlig unangreifbaren Stützpunkten für französische Luftgeschwader und U-Boote zu verhindern. Damit würde der Plan der Kontinentalsperre von 1806, also der Versuch, ganz Europa von England abzuschließen, mit besseren Aussichten wieder aufgenommen werden können. Die Entfernung vom Ruhrgebiet zur Nordsee kann eine moderne Stoßkolonne in einem Tage zurücklegen.

Im Süden ist der ungeheure geschlossene Besitz Frankreichs in Nordafrika der neue Faktor, den Napoleon bei seiner Expedition nach Ägypten noch nicht vorfand und der es heute gestattet, seinen Vorstoß mit ganz anderen Aussichten zu wiederholen. Hier bereitet sich ein neues Faschoda vor, dem England keine ernsthafte Macht entgegenzustellen hat. In Afrika entsteht eine schwarze Millionenarmee, die den[290] Machthabern in Paris und unter Umständen dem französischen Kapital zur Verfügung steht. Es fehlt nicht an Andeutungen, wonach die Regierung im Falle einer Revolution sich auf die schwarzen Truppen verlassen könne und werde. Frankreich betreibt im Sudan, indem es den Farbigen das Bürgerrecht gibt, die Zwangsaushebung in größtem Maßstabe. Es gewöhnt den Neger an die Ausbildung und Taktik moderner Heere und lehrt ihn zugleich, über die Grenzen der Macht einer weißen Bevölkerung nachzudenken. General Mangin sprach es öffentlich aus – so laut, daß es in Afrika verstanden werden konnte –, daß Frankreich militärisch eine Nation nicht von vierzig, sondern von hundert Millionen darstelle. Diese Armee schwarzer Franzosen ist heute schon, sobald sie will, die Herrin Afrikas. Ein Netz strategischer Bahnen soll den Niger und Kongo an Marokko und Algier heranbringen. Im Besitz von Marokko ist Frankreich aber jederzeit in der Lage, durch die Besetzung von Tanger das Mittelmeer zu schließen und damit Italien durch Abschneidung der Kohlen- und Lebensmittelzufuhr in eine sehr schwierige Lage zu bringen.

Und drittens entsprechen die ganz unverhüllten Versuche, West- und Süddeutschland in eine Reihe abhängiger Kleinstaaten aufzulösen, ebenfalls einem Gedanken Napoleons: der Schaffung einer Landbrücke längs der Donau zum Orient. Damit würde das Mittelmeer von Nord und Süd her völlig umklammert, das Schwarze Meer abgeriegelt und Vorderasien mit seinen Zugängen unter französische Kontrolle gestellt sein. Diesem Ziel dient die langsame Verwandlung südeuropäischer Staaten, Jugoslawiens, Rumäniens und der Tschechoslowakei in französische Protektorate. Durch die Gewährung von Militärkrediten, die Ausbildung übermäßiger Heere durch französische Offiziere und die stille Durchdringung mit französischem Kapital ist heute schon eine dichte Kette französischer Stützpunkte von der Ostsee bis zur Donaumündung gezogen. Das ist dasselbe Aufmarschgebiet, das sich Napoleon für den Zug nach Moskau organisiert hatte. Auch damals war Polen nichts als eine französische Provinz.[291]

Und endlich die wirtschaftliche Seite: an Eisenerzen besitzt Frankreich heute 5,3 Millionen Tonnen, England nur 1, Deutschland nur noch 0,77 Millionen. Mit dem Ruhrgebiet zusammen beherrscht Frankreich 35 Prozent der Kohlenförderung von Europa. Rechnet man Belgien, Polen und die Tschechoslowakei hinzu, deren militärische Beherrschung es Frankreich gestattet, über ihre wirtschaftlichen Mittel frei zu verfügen, so stehen 60 Prozent der europäischen Förderung auf französischer Seite den englischen 25 Prozent und den deutschen 4 Prozent gegenüber. Damit verfügt Frankreich über die größte Waffenschmiede Europas in Verbindung mit den militärisch wichtigsten Rohstofflagern der Welt.

Dies ist die Lage Europas im »Zeitalter der Reparationen« und es wäre verfehlt, die Reparationsfrage auch jetzt noch als Frage der Wiedergutmachung von Kriegsschäden zu behandeln. Mit den Summen, die unter englischem Druck bis jetzt von Deutschland abgeführt wurden, hat Frankreich seine Luftflotte ausgebaut. Die deutsche Saarkohle, mit der Frankreich in Italien, Spanien, Belgien und der Schweiz Geschäfte macht, hat weitere Verstärkungen des Heeres und die Gewährung von Rüstungskrediten an die Balkanstaaten ermöglicht. Jede neue Milliarde wird neue Luftgeschwader, Unterseeboote und schwarze Regimenter bedeuten.

Demgegenüber ist England diplomatisch unsicher und schwach geworden. Ein Land mit diesen weltpolitischen Aufgaben stellt nicht ungestraft Gewerkschaftsleute an die Spitze wie Lloyd George und Ramsay Macdonald. Es zeigt sich immer wieder, daß Volksversammlungen und Klassenparteien eine sehr schlechte Schule für Außenpolitiker sind. Frankreich verdankt seine großen Erfolge der Tatsache, daß alle führenden Männer die Schule von Petersburg in der Zeit der Entente cordiale durchgemacht haben. Diplomatie ist ein Handwerk für sich, das man nicht mit Krieg, Wirtschaft und Fraktionszimmertaktik verwechseln darf.

Die Formen, in denen sich seit dem Kriege das Weltschicksal bewegt, verändern sich rasch und haben bereits das System gleichgeordneter Großmächte mit ihrem Netz von Spannungen[292] und Bündnissen, wie es der Politik von 1815 bis 1914 zugrunde lag, ebenso beseitigt wie Napoleon das Staatensystem des ancien régime. Die Vereinigten Staaten waren seit dem spanischen, Japan seit dem chinesischen Kriege in das System eingetreten, ohne es zu verändern, so wie es mit seinen stehenden Heeren und Flotten und mit einer Reihe maritimer Stützpunkte längs aller Küsten der Ozeane gerechnet hat – mit den letzten, um die Entscheidungen zu Lande unter Umständen durch die zur See überflüssig oder unwirksam zu machen, und um zur See die Schlacht durch die Sperrung aller Küsten zu ersetzen, an welchen sich Handelsschiffe oder Kriegsflotten überhaupt halten konnten. Man beobachtet heute ein Tasten nach neuen Formen. Infolge der politisch-militärischen Erweckung Afrikas durch Frankreich, die von den amerikanischen Negern mit wesentlich anderen Absichten unterstützt wird, und derjenigen Asiens durch den Bolschewismus scheint der große Landblock plötzlich ein Übergewicht zu erhalten und die Entscheidungen zur See, die immer irgendwie englische waren und in deren unbedingter Beherrschung bis jetzt die Stärke Englands lag, dadurch vorwegzunehmen, daß infolge Beherrschung der Küsten vom Hinterland aus die Flotte nutzlos wird. Südafrika hat, wie der Sturz von Smuts beweist, seine Aussichten erkannt. In Indien ist man, mit russischer oder japanischer Aufklärung, im Begriff, es zu tun. Und die Welt des Islam, die ganz binnenländisch ist und heute den Landblock von Marokko bis China durchzieht, hat mit dem Weltkrieg einen geistigen Anstoß erhalten, der jede Art von Überraschung möglich macht, die wir seit Dschingiskhan nicht mehr kennen.

Vom Schicksal Asiens aber ist dasjenige Rußlands nicht zu trennen. Rußland hat mit der symbolischen Verlegung seiner Hauptstadt von Petersburg nach Moskau den Schritt zurückgenommen, den Peter der Große getan hatte: sich als europäische Macht zu konstituieren, die großen Botschafterposten in den Weststaaten zum Mittelpunkt der russischen Politik zu machen und Asien als Mittel zu europäischen Zwecken zu behandeln. Heute gilt das Umgekehrte. Der Bolschewismus in[293] ursprünglicher Form war zwar selbst westeuropäischer Herkunft und Struktur und konnte sich deshalb darüber nicht ganz klar sein. Mit dem Tode Lenins ist er aber abgeschlossen. Diese Cäsarengestalt, seit Rhodes die bedeutendste, lebte immer unter der Idee, durch die stille Arbeit der kommunistischen Organisationen an Stelle der Botschafter des Zaren ein geheimes Heer in allen Weststaaten zu unterhalten, das eines Tages aufbrechen und den Traum Alexanders I. von der heiligen Allianz unter russischem Schutz in einer revolutionären unter dem Sowjetstern verwirklichen sollte. Mit seinem Tode ist der Nimbus des Ideals zu Ende, nicht nur die Persönlichkeit, die es in sich verwirklichte. Um so mehr als die wirtschaftlichen Formen des Ideals trotz der Ströme von Blut völlig versagt haben und das ungeheure Gebiet auch durch die beschleunigte Rückkehr zum Privateigentum und Privatgeschäft vor einer neuen Katastrophe nicht mehr zu bewahren ist. In der Bauernschaft der russischen und asiatischen Erde, von der Weichsel bis an die Grenzen Indiens und Chinas, über die alle großen Kulturen bis jetzt wie Schatten forgeglitten sind, regt sich die religiöse Inbrunst, halb christlich-orthodox, halb bolschewistisch verkleidet, ihres eigentlichen Wesens noch kaum bewußt, und aus ihr kann eines Tages die große Erscheinung hervorgehen, die in einem ungeheuren Ansturm das Bild Asiens und damit die diplomatischen Ziele und Hoffnungen der Welt von Grund aus verändert. Vielleicht wird eines Tages die heilige Revolution ebenso blutig losbrechen wie einst die rote. Das Beispiel des Barons von Ungern-Sternberg zeigt, mit wie geringen Mitteln Asien in einer Form mobil zu machen ist, gegen die es keinen Widerstand gibt. Und ist es angesichts der tiefen Erregung im Islam anders? Liegt die Erscheinung eines echten Khalifen, der nicht um seine Anerkennung zu streiten braucht, weil plötzlich niemand seine Berufung anzweifelt, außerhalb aller Möglichkeit?

Durchkreuzt wird diese geheime Neigung der Dinge durch die offenkundige Tatsache, daß die innere Politik aller Länder heute in einer anderen Form in die großen Ereignisse eingreift als vor dem Kriege. Es geschah früher durch einen rein parlamentarischen[294] Druck radikaler Parteien auf die Regierung, entweder um die Durchführung von Rüstungen nur gegen Zugeständnisse freizugeben, oder um den Gang der äußeren Politik, mit sehr geringem Erfolge, in andere Bahnen zu lenken. Der Gedanke einer Revolution war praktisch fast aus dem Denken der Revolutionäre verschwunden. Die stehenden Heere galten allgemein als Waffe, gegen die jeder Widerstand sinnlos war. Der Krieg hat aber gezeigt, wie begrenzt die Wirkung dieser Waffe innerhalb unserer steinernen Städte sein kann, und er hat außerdem die Seele des Soldaten verändert, der heute politische Überzeugungen hat und seine Handlungen unter Umständen davon abhängig macht. Es kommt hinzu, daß auch die überragende Bedeutung der Luft- und Unterseewaffen mit ihrem sehr kleinen Mannschaftsbestand die Frage verändert. Der Radikalismus ist heute in allen Ländern wieder revolutionär und hat ganz bestimmte Auffassungen über mögliche Entscheidungen unter Anwendung von Gewalt. Er hat außerdem seine eigene Diplomatie von Land zu Land, deren bloßes Vorhandensein die große Politik in neue Formen drängt. Das innere Frankreich steht vor der Wahl zwischen Chauvinismus und Syndikalismus; darüber besteht kein Zweifel. Mißerfolge nach außen und Zerstörung der Triumphstimmung von 1918 bedeuten die Erhebung von Paris, bedeuten auch die Entscheidung darüber, ob man schwarze Truppen gegen weiße Arbeiter zu führen wagt. Ähnliche Fragen kennt heute jedes Land, und damit dringt auch auf der andern Seite, derjenigen der Tradition von nationaler Macht, Ehre und ererbtem Eigentum das Bewußtsein durch, ebenfalls nicht mehr an die bestehenden Formen gebunden zu sein. Der Staatsstreich und die Diktatur sind heute feste Bestandteile im Stil des politischen Handelns, um so mehr, als sie sich durchaus mit der Wahrung parlamentarischer Formen, sogar der englischen, vertragen.

Aber damit rückt die Entscheidung aus Problemen der Form in das Vorhandensein und Wollen starker Persönlichkeiten. Sowjetrußland war Lenin, Südafrika war Rhodes, Mussolini ist Italien. Kein Parlament, keine Partei, kein Heer[295] hat heute an und für sich die Entscheidungen in der Hand. Sie liegen überall und ausschließlich im Dasein oder Nichtsein einzelner Männer, ihren persönlichen Entschlüssen, Ideen und Zielen. Eine Grenze, wie sie noch zur Zeit Bismarcks auch der Stärkste an den bestehenden Verhältnissen fand, gibt es nicht mehr. Das ist die Aussicht, welche auch das geringste Land besitzt.

1

S. 160 ff.

2

S. 164 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 286-296.
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