5

[192] Ein seetüchtiges Schiff mußte im dritten Jahrtausend wenigstens 20–30 Mann an Bord haben, um bei Wind und Wetter bewegt1 und bei einer notgedrungenen Landung verteidigt werden zu können. Außerdem mußte die Mannschaft durch ihre Zahl gelegentlich dem Wunsche nach Trinkwasser und Lebensmitteln Nachdruck verleihen. Die große Fahrt, etwa von der Bretagne nach Cornwall, von Afrika nach den Kanarischen Inseln oder von Knossos nach Byblos oder Malta war unter allen Umständen ein starkes Wagnis und setzte einen verwegenen Unternehmungsgeist ausgesprochener Herrennaturen voraus.

Vom Bau solcher Schiffe ganz abgesehen, der viel technische Intelligenz, viel Ansehen beim Stamme und erhebliches »Vermögen« erforderte, mußte der Unternehmer zugleich Kaufmann, Krieger und Schiffsführer sein, ob er nun als Pirat oder Händler auszog. Das Schiff gehörte jemand – ob einem einzelnen, etwa dem Häuptling, oder einer Gemeinschaft von Kaufleuten[192] wie noch oft bei der Hansa –, der das volle Risiko trug. Es mußte ausgerüstet werden und eine im Verhältnis zu seinem Eigengewicht kleine, aber um so wertvollere Ladung mitnehmen, und die Verluste waren sehr bedeutend. Die Fahrzeuge wurden leck, vom Sturm zerschmettert, wehrlos an fremde Küsten geworfen, wo sie scheiterten oder erbeutet wurden. Wenn nur ein Teil von ihnen zurückkam, so war das schon ein Erfolg. Das einzelne Leben galt wenig und die Toten waren bald vergessen.

Selbstverständlich blieb man so lange als möglich in Sicht der Küste. Da es weder Karten noch Kompaß gab, so mußte notwendig jemand an Bord sein, der das Aussehen und die Entfernung der bekannten Landeplätze voneinander kannte, wo man Wasser und Proviant einnehmen und mit einiger Sicherheit Reparaturen ausführen konnte. In unbekannten Gewässern tastete man sich vorsichtig am Land entlang vorwärts. Eine Fahrt von Kreta über Apulien und Sizilien dauerte auf diese Weise wochen- und monatelang, und wenn man dann noch an der fremden Küste kreuzte, um Handel zu treiben, kam das Schiff oft erst im Sommer des folgenden Jahres zurück. Im Winter fuhr man selbst in griechischer Zeit selten und ungern. Es ist ein Unfug, wenn heute noch manche Gelehrte annehmen, die Phöniker seien »von Tyrus nach Gades« gefahren und hätten Jahrhunderte später, durch Zufall an die Südküste geworfen, Karthago gegründet, oder ein jonischer Seefahrer sei nach Westen verschlagen worden und habe so »Tartessos« in Spanien entdeckt. Man macht sich eine ganz falsche Vorstellung von der Zeit, die sich so stark besetzte Schiffe auf hoher See halten konnte.

Bei solchen Schwierigkeiten ist es selbstverständlich, daß die Schiffe in der Regel nicht einzeln, sondern in Flotten auf die Fahrt gingen. Sie haben das jahrtausendelang getan. Ein einzelnes Schiff durfte sich in manchen Gegenden gar nicht auf dem Meere zeigen. Nicht nur, daß die Gefahren von Wind und Wellen zu groß waren, um nicht gegenseitige Unterstützung zu fordern – die Wahrscheinlichkeit, fremden Schiffen zu begegnen, die einem einzelnen gegenüber sofort zum Angriff schritten, zwang dazu. Man fuhr nur in der günstigen Jahreszeit und dann gemeinsam: So waren die Unternehmungen der Königin[193] Hatschepsut nach Punt, des Königs Salomo nach Ophir, der Wikinger nach Nordamerika und noch vor wenigen Jahrhunderten der spanischen Silberflotte, die jährlich einmal von Amerika nach Sevilla ging. Es waren Expeditionen, die genau den Karawanen durch die Wüste und den Wagenzügen auf den Landstraßen gotischer Jahrhunderte entsprachen. Auch da war ein verirrter Kamelreiter oder ein einzelner Frachtwagen oft so gut wie verloren. Überhaupt ist der Verkehr auf den »ewigen« Übersee- und Überlandwegen, der sich seit dem 5. Jahrtausend entwickelt und für alle Zukunft die großen Völkerstraßen durch Wüsten, Wälder und Meere gebahnt hat, von starker innerer Verwandtschaft: Derselbe Stolz freier und tapferer Seelen mit einem Seitenblick auf den seßhaft gewordenen Menschen herab; dasselbe kluge bewaffnete Vorwärtstasten ins Ungewisse; dieselben Lotsen, Späher und Pfadfinder, dieselbe notwendige Kenntnis der Landeplätze an der Küste, der Haltestellen in der Wüste mit ihren Brunnen und der Pässe im Waldgebirge; dieselbe Art mit den Bewohnern der Gegenden in Vertrag zu treten, Märkte zu eröffnen oder Gewalt anzuwenden, und endlich derselbe sich allmählich entwickelnde Gedanke, diese Pfade für Wanderungen ganzer Stämme einzuhalten.2

Die Ausrüstung solcher Schiffskarawanen – vielleicht von 20 bis 40 Fahrzeugen – setzt eine feste Organisation von Genossenschaften schon mindestens für das dritte Jahrtausend voraus, welche den Typus des Bundes von Kalauria und des jonischen Städtebundes in der antiken Welt des 9. Jahrhunderts3[194] und der hansischen und holländischen Kompagnien um ganze Zeitalter vorwegnehmen, weil es in der Natur dieser Dinge liegt. Sie standen nicht unter dem Schütze eines »Staates«, dessen entwickelte Form es um 300 noch nicht gab und geben konnte, sondern stellten selbst eine Art von Staat dar oder rief en ihn durch die Form ihres Zusammenschlusses erst langsam ins Leben. Deshalb glaube ich auch, daß der »Staat des Minos« um 1500 eine solche Genossenschaft mit einem Bundesheiligtum gewesen ist.

Durch die Überlegenheit des gemeinsamen Auftretens hielt man nach der Landung an fremden Küsten den Marktfrieden aufrecht und bestimmte oder erzwang Recht und Sitte, nach denen Kauf und Tausch vor sich gingen. »Häfen« gab es nicht. Man zog die Schiffe in Buchten und Flußmündungen oder auf kleinen Inseln an Land, befestigte im Lauf der Jahre solche Punkte nach Vertrag mit den Anwohnern und so entstand vielfach das, was die Griechen später ein Emporion nannten und was bei diesen häufig die Vorstufe einer Siedlungskolonie4 war: Hütten und Schuppen, von einem Wall umgeben, die anfangs nur während der Sommermonate bewohnt waren, um die sich aber manchmal eingeborene Handwerker und Händler anbauten. Ganz ebenso sind die Märkte im Binnenland entstanden, wie das »karun« assyrischer Kaufleute, das um 2000 neben Kanis (Kültepe), dem Sitz eines mächtigen Häuptlings, gegründet wurde und von dem die kappadozischen Tontafeln stammen.

In diesen Emporien herrschte natürlich die Sprache der Seefahrer und verbreitete sich von dort oft genug längs der Binnenstraßen nach entfernten Märkten. So kann, wenn schriftliche Überreste erhalten sind, die falsche Meinung entstehen, als ob das die Sprache des Volkes gewesen sei, dessen Name der des Landes war. Das gilt in weitem Umfang vom Etruskischen, aber auch vom Jonischen, das sicher nur ein kleiner Teil der Bewohner der jonischen Küste verstand. Aus solchen Verkehrssprachen stammen die Sachnamen, die mit der gehandelten Sache[195] selbst weithin wanderten, Bezeichnungen der Metallsorten z.B.,5 bestimmter Arten von Waffen, Werkzeugen und Gefäßen. Eine große Menge der »urindogermanischen« Namen für Vieh- und Pflanzenarten mögen ihre Verbreitung über viele Einzelsprachen nicht dem »Urbesitz« des »Urvolkes«, sondern dem Handel aus der Ferne verdanken. Eine ganze Anzahl von Ausdrücken für Schiffsarten und -teile, für die seemännische Technik, die Beschaffenheit von Küsten, Buchten und Inseln, für Rechtsbegriffe, Handelsgebräuche und Wertmaße werden aus der Kaftisprache, die einmal weithin den Seeverkehr beherrscht hat, in die griechischen, italischen und semitischen Mundarten gedrungen sein, ohne daß wir sie erkennen können, und vielleicht in den Volkssprachen Sardiniens, Maltas und anderswo noch heute leben. Tartessos und Alaschia werden nicht die einzigen gewesen sein.6

Es ist bei dieser Art des frühgeschichtlichen Küstenverkehrs ganz natürlich, daß die Seefahrer die ihnen bekannten Fahrtwege, Landestellen und Tauschplätze geheimhielten und Lügen darüber verbreiteten. Wer nicht selbst dagewesen war, glaubte alles, was der Hafenklatsch über Reichtum und Gefahren fabelhafter Gegenden erzählte. Die Kaufleute der Kaftiwelt selbst erfuhren auf den fremden Märkten nichts über die Herkunft der Waren, die sie von andern Kaufleuten, aus Sardinien etwa, eintauschten, und so entstand später das Geschwätz von den Kassiteriden, den Zinninseln oder dem silbernen Berg im Lande Tarschisch. Als von der Kaftiherrlichkeit nichts übriggeblieben war als die riesige Ruine von Knossos und verworrene Sagen, bekam der Name Tartessos an den jonischen und phönikischen[196] Küsten den Sinn eines Dorado im fernen Westen, das man überall suchte und fand.

Auf der Tatsache, daß diese von der Küste abhängige Seefahrt ihre Wege und Landeplätze verschwieg, daß sie mit den einzelnen Stämmen Verträge schloß, die fremde Kaufleute ausschalteten, beruht das, was man modern und falsch Seeherrschaft nennt. Es gab damals keine Kriegsschiffe. Die Mannschaft jedes Fahrzeugs schlug sich, wenn es nötig war. Die Seegewalt der Kafti bestand darin, daß ihre Schiffe in gewissen Gegenden ein nicht prinzipielles, aber tatsächliches Monopol besaßen, weil sie dort zahlreicher waren und sich auf die Küstenstämme verlassen konnten. Sie hüteten sich, in Gegenden zu erscheinen, wo fremde Flotten in größerer Stärke auftraten oder »Rechte« besaßen. Es war vorteilhafter, wenn man sich friedlich mit ihnen an einem Umschlagplatz traf, um zu tauschen, als wenn man versuchte, in die Welt der andern einzudringen, wo man sicher war, als Feind behandelt zu werden. Da man auf Landungen angewiesen war, so kam kein Schiff zurück. Das war keine bewußte Absperrung der Meere für fremde Fahrzeuge. Dazu reichte die Zahl und Leistungsfähigkeit der Schiffe und die hinter ihnen stehende Organisation bei weitem nicht aus. Es ergab sich von selbst aus dem Wesen der damaligen Schifffahrt und kam den Beteiligten kaum klar zum Bewußtsein. Von politischen Mächten kann keine Rede sein.

1

Ein primitives Segel, vielleicht schon im 4. Jahrtausend hier und da bekannt, kam nur bei gutem Wind und als Beihilfe in Betracht, konnte die Ruder aber nicht ersetzen. Infolgedessen waren diese frühen Seeschiffe stets mit Leuten überfüllt und konnten neben dem Proviant nur wenig und also kostbare Ladung führen.

2

Das griechische πόντος dem lateinischen pons verwandt, bedeutet also den Seeweg. Für das Meer als Tatsache, als Natur Schauspiel hatte man die vorgriechischen Ausdrücke πέλαγος und θάλαττα übernommen. Für die Zehntausend Xenophons war das Schwarze Meer, das sie plötzlich im Sonnenschein liegen sahen, θάλαττα; für den jonischen Schiffer, der aus dem Bosporus herauskam, war es πόντος die Straße zu den fernen Häfen eigener Sprache und Gesittung.

3

Busolt, Griechische Staatskunde II 1280 ff. Man darf nicht übersehen, daß damals die Bünde von Küstenstädten in Wirklichkeit solche des herrschenden Patriziats waren, der Kaufmannschaft also. Der jonische Adel stammte nicht aus der Eroberung von Land, sondern aus einträglichen Seefahrten. Odysseus war sein Held.

4

Apoikia (Busolt, Gr. St. II 1267 ff.). Man gab Besitzlosen aus der Unterklasse, nicht nur der Heimatstadt, Haus und Land und hatte so im Falle der Gefahr sichere Verteidiger der kaufmännischen Interessen, weil die gemeinsame Existenz auf dem Spiele stand.

5

Die alte römische Bezeichnung des Kupfers, aes rüde, noch im Deutschen als Rohkupfer und Rauherz erhalten, ist mit dem sumerischen urud verwandt. Das wird aus einer verschollenen Küstensprache des Mittelmeeres stammen.

6

Das Wort für ein Metallgewicht von etwa 29 kg – so schwer sind die Kupferbarren mit dem Kaftistempel und das bekannte Porphyrgewicht mit dem Polypen –, τάλαντον, wird mit dem Namen des kretischen Erzriesen Talos und dem des Tantalos zusammenhängen. Was die griechische Sage von dem ersten erzählt, ist sicher törichtes Mißverstehen einer fremdsprachlichen Geschichte.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 192-197.
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