§ 20. Anfang und Ende des Liebesgenusses.

[223] So ist denn die Wollust bis zu dem Mundkoitus einschließlich abgehandelt. Was geschieht nun am Anfange und am Ende des Liebesgenusses? So ergibt sich die Abhandlung über »Anfang und Ende des Liebesgenusses«. Wenn nun auch »der Anfang des Liebesgenusses« eigentlich unmittelbar hinter den Abschnitt über die Arten der Liebe gehört, der über das Ende des Liebesgenusses aber hierher, indem das die Reihenfolge der Ausführung ist, so ist doch erst über die Umarmungen usw. gehandelt worden, weil diese mit der Liebe eng verbunden sind: darauf folgt dann »der Anfang des Liebesgenusses«, der in der Weise eines Miscellaneums alles übrige enthält; und dann, im Zusammenhange damit, »das Ende des Liebesgenusses«.

Mit Bezug auf das erste sagt (der Verfasser):


Der Elegant, umgeben von seinen Freunden und Dienern, bediene in dem mit Blumenspenden versehenen, von Wohlgerüchen durchzogenen Wohnorte der Wollust, dem zurechtgemachten Schlafgemache, die gebadete und geschmückte Frau, die in der rechten Weise getrunken hat, mit freundlichen Worten und dann mit einem Trunke. An ihrer rechten Seite setze er sich nieder; befühle ihren Haarschopf, den Saum des Gewandes, den Gürtel; wegen der zu genießenden Wollust umarme er sie mit dem linken Arme, aber nicht ungestüm. Dann folgt: im Anschluß an die vorhergehenden Gegenstände ein Bedienen mit Worten des Scherzes und der Zuneigung; allgemeine Unterhaltung über geheimnisvolle und zweideutige Dinge; Gesang und Instrumentalmusik mit oder ohne Tanz; Unterhaltungen in den Künsten; dann nochmals ein Anregen vermittels eines Trunkes. Wenn sie in Aufregung geraten ist, Entlassung der übrigen Leute unter Beschenkung mit Blumen, Salben und Betel. In der Einsamkeit soll er sie dann durch Umarmungen usw., wie beschrieben, freudig erregen. Darauf verschreite er zur Lösung des Untergewandes usw., wie es oben geschildert worden ist. – So ist der Anfang des Liebesgenusses.
[223]

»Der Elegant«, einer, der im Leben des Elegants« beschrieben wird, soll bedienen, ist der Zusammenhang. »Umgeben von seinen Freunden«, dem Pīṭhamarda usw. »und Dienern«, dem Betelträger, dem Mundschenken usw. – »Blumenspenden«, ausgestreute Blumen in Menge. – »Wohnort der Wollust«, eine Stätte, die zum Zwecke der Wollust da ist: das äußere »Schlafgemach«; hier nämlich soll man das Lager aufschlagen. – So ist der Schmuck des Schlafgemaches; der der Frau ist zweifach: Bad und Toilette bildet den Schmuck des Leibes, da der bloße Anblick einer ungeschmückten Frau verpönt ist; daß sie in der rechten Weise getrunken hat, bildet den Schmuck des Geistes: nicht allzu trunken, weil das Verwirrung bewirkt. Man sieht nur, daß sie getrunken hat. – Zuerst bediene er sie »mit freundlichen Worten«, gütigen Reden, mit Fragen nach dem Wohlbefinden usw. »und dann mit einem Trunke«: es werde ein berauschendes Getränk getrunken. Dabei setze er sich an ihrer rechten Seite nieder, so daß er mit der rechten Hand den Becher hält und mit dem linken Arme sie umarmt Dabei findet zuerst »Befühlung«, Berührung des Haarschopfes usw. statt, dann Umarmung mit dem linken Arme. »Aber nicht ungestüm«, damit sie nicht erschreckt wird. – »Im Anschluß an die vorhergehenden Gegenstände«, der vorangegangenen Einleitung entsprechend »ein Bedienen mit Worten« wie: »Erinnerst du dich, Schöne, daß wir da und da miteinander scherzten und uns liebgewannen?« – »Geheimnisvolle und zweideutige Dinge«: was geheimnisvoll, schwer zu verstehen und zweideutig, bäuerisch (weltbekannt!) ist und in den alten Liedern, Āryā-Strophen usw. enthalten ist, über dies beides findet aus Neugier eine »allgemeine« kurze »Unterhaltung« statt; d.h. ein Erzählen. – »Gesang mit oder ohne Tanz«. Die Kenntnis des Tanzes offenbare er greifbar bei dem Gesange unter Pantomimen mit den Gliedern usw. Es sei also ein Tanz im Sitzen. Die andere zeige sich nur im Gesange. »Instrumentalmusik«, nachdem er die an einem Haken aufgehängte Laute ergriffen hat; da hierbei andere Musik nicht möglich ist. – »Unterhaltungen in den Künsten«, in den übrigen, Malen usw., um seine Geschicklichkeit darin zu zeigen. – Nachdem er sie so gewonnen, hat, erfolgt »nochmals ein Anregen vermittels[224] eines Trunkes«; ein Aufmuntern. – »Wenn sie in Aufregung geraten ist«, durch die genannten Ausführungen, dann folgt der Kniff der Entlassung unter Betelspenden. »Die übrigen Leute«, Freunde, Diener usw. – »Wie beschrieben«, was vor der Wollust gesagt ist. – »Freudig erregen«, in außerordentliche Freude versetzen, damit die Lagerung stattfindet. »Darauf«, in der Folgezeit »verschreite er zur Lösung des Untergewandes usw.« der auf dem Lager Ruhenden. Von da an beginnt das äußere Verhalten des Mannes bei dem Liebesgenusse.


Das Ende des Liebesgenusses: Wenn sie die Leidenschaft gestillt haben, gehen beide verschämt, gleichsam als kennten sie sich nicht, ohne einander anzusehen, einzeln nach dem Toilettezimmer. Von dort zurückgekehrt nehmen sie, nicht mehr so verschämt und am gehörigen Platze sitzend, Betel; er selbst soll klaren Sandel oder eine, andere Salbe auf ihre Glieder streichen. Mit dem linken Arme sie umschlingend und in der Hand die beiden Becher haltend, lasse er sie unter freundlichem Zureden trinken. Oder beide nehmen einen Trunk Wasser, Naschwerk oder sonst etwas ihrer Gewohnheit und Natur Entsprechendes; klare Säfte, Brühen, saure Reismehlbrühe, Getränke mit geröstetem Fleische als Zukost, Mangofrüchte, gedörrtes Fleisch und Zitronensaft mit Zucker, je nach der Gewohnheit des Landes. Hierbei biete er dies und jenes an, nachdem er jedesmal gekostet hat, ob es süß, mild oder klar ist. Oder wenn sie beide auf dem Dache weilen, setzen sie sich, um den Mondschein zu genießen. Hierbei unterhalte er sie mit geeigneten Erzählungen. Wenn sie auf seinem Schoße liegt und den Mond ansieht, erläutere er die Reihe der Sternbilder und zeige ihr die arundhatī, den Polarstern und den Kranz der sieben Sterne des großen Bären. – Das ist das Ende des Liebesgenusses.


»Das Ende des Liebesgenusses«, soll jetzt beschrieben werden, ist zu ergänzen. »Wenn sie die Leidenschaft gestillt haben«, die Liebeslust genossen haben. – »Gleich als kennten sie sich nicht«: wie bei zwei Liebenden, die miteinander noch nicht vertraut sind, Verschämtheit herrscht, ebenso sind beide »verschämt«, da sie Unanständiges getrieben haben. So gehen sie, »ohne einander anzusehen« bei dem Anblick eines solchen Zustandes würde Ekel entstehen. Daher gehen sie »einzeln nach[225] dem Toilettezimmer«; d.h. zusammen sollen sie sich in dem Waschzimmer nicht reinigen. »Von dort zurückgekehrt«, aus dem Toilettezimmer. »Nicht mehr so verschämt«, indem ihre Verschämtheit noch nicht ganz aufgegeben ist. Der »gehörige Platz« ist ein andrer Ort als das Lager. Sie »nehmen«, genießen, »Betel«, weil dann der Mund spröde geworden ist und schlechten Geschmack bekommen hat. Hierbei findet innerlich und äußerlich ein Kräftigen des Körpers statt, der ja die Hauptsäfte abgegeben hat. Äußerlich: in der heißen Jahreszeit »soll er klaren Sandel oder eine andere Salbe«, wie sie der Zeit entspricht, »selbst«, um seine Zuneigung zu beweisen, »auf ihre Glieder streichen«; d.h. darauf bei sich selbst. – Innerlich: Getränke usw. Auch hierbei »sie umschlingend«, umarmend. – »Die beiden Becher«, die Behälter für die berauschenden Getränke. – »Unter freundlichem Zureden«, indem er ihr Liebes sagt, »lasse er sie trinken«. – »Einen Trunk Wasser oder Naschwerk«, um der Stärkung willen. »Oder sonst etwas«, eine Menge Sesamkeime usw. »ihrer Gewohnheit und Natur Entsprechendes nehmen beide«. – »Klare Saftbrühen«: Brühen sind von zweierlei Art: Saft von Fleisch und Saft von Reis. Um der Stärkung willen sollen beide klare Saftbrühen und Fleischsaft zu sich nehmen. – »Saure Reismehlbrühe«, mit Fleisch gefertigt; zur Stärkung. »Getränke«, deren »Zukost« »geröstetes«, gebratenes Fleisch bildet. – »Mangofrüchte«, gekochte. – »Gedörrtes Fleisch«, welches besonders kräftigt. – »Zitronensaft«, Zitrone, bei der der Saft etwas ausgedrückt ist, in Stücke zerschnitten und gezuckert: weil das angenehm mundet. »Je nach der Gewohnheit des Landes«; wie es in jedem Lande die Sitte verlangt. – »Hierbei«, bei der Abhaltung der Mahlzeit usw., gilt diese Regel, die Zuneigung ausdrücken soll: »Nachdem er jedesmal gekostet hat«. Das ist eine elliptische Bezeichnung: nachdem er jedesmal geschmeckt hat, ob dies oder jenes auf die Erregung wirkt, »biete er« dieses oder jenes Getränk an. – »Oder wenn sie beide auf dem Dache weilen«: wenn ihnen bei dem Verweilen im Hause auf ihren Sitzen heiß geworden und der Mond aufgegangen ist, »dann setzen sie sich, um den Mondschein zu genießen«, oben hin auf das Dach, mit den! Gesichte gen Himmel. Das Genießen desselben soll die[226] Hitze vertreiben. Und wenn sie dort vor Hitze keinen Betel haben essen oder sonst etwas ausführen können, so ist das jetzt hier nachzuholen. – »Dort«, auf dem Hausdache. Wenn kein Appetit zum Essen mehr vorhanden ist, »unterhalte er sie«, nach dem der Leib wieder gestärkt ist, um Liebesverlangen zu erregen, mit dazu »geeigneten Erzählungen«. – »Wenn sie auf seinem Schoße liegt«: wenn sie mit ihrem Leibe auf dem Schoße des sitzenden Liebhabers liegt, blickt sie unverwandt auf das Himmelsgewölbe. Hierbei sieht sie den »Mond«, der den Augen Wonne verursacht. Da »erläutere er die Reihe der Sternbilder«, die ja mit dessen Körper in Berührung kommen. Gewöhnlich sind ja die Frauen mit den Sternbildern nicht vertraut. – »Das ist die ›arundhatī‹: der ganz kleine Stern Alkor im großen Bären: wer den nicht sieht, stirbt nach sechs Monaten. Dann den ›Polarstern‹ und die weiteren speziellen Angaben, bei deren Anblick die tagsüber begangene Sünde getilgt wird; und »das sind die sieben Sterne des großen Bären«, die in einer Reihe stehen: so zeige er die Sterne.

Mit Bezug auf beides sagt (der Verfasser):


Hierbei findet folgendes statt:

Sogar bei dem Aufhören erzeugt eine mit höflicher Aufwartung verschönte Liebe durch vertraute Erzählungen und Ausführungen die höchste Wollust.

Durch gegenseitige Liebe bewirkendes Willfahren gegen das Wesen des eignen Selbstes, bald durch Abwenden in Zorn, bald durch Anblicken in Liebe;

Durch Spiele wie der hallīsa-Tanz, Gesang und Scherze von Lāṭa, durch das Betrachten der Mondscheibe mit vor Leidenschaft unruhigen und feuchten Augen;

Durch Erzählen aller jener Dinge: welche Wünsche erwachten, als das erste Zusammentreffen stattfand und dann wieder welches Unglück bei der Trennung;

Und am Ende des Erzählens durch leidenschaftliches Umarmen unter Küssen – durch solche und andere Zustände unterstützt wächst die Leidenschaft des Jünglings.


»Hierbei«, bei dem Anfange und dem Ende, in beiden Fällen »findet folgendes statt«, was nun beschrieben wird. – »Sogar bei dem Aufhören«; das Wort »sogar« bedeutet, auch[227] bei dem Anfange. – »Liebe« bei der Frau, Anbetung bei dem Manne. – »Mit höflicher Aufwartung«, durch Kränze, Odeurs usw. sowie durch Trinken usw. – »Verschönt«, gesteigert. – »Durch vertrauliche Erzählungen und Ausführungen«, durch vertrauliche Erzählungen und vertrauliche Ausführungen. – »Erzeugt die höchste« außerordentliche »Wollust«, gekennzeichnet durch die Samenergießung; infolge der daraufzielenden Beschaffenheit der treibenden Kraft. – Nun sagt (der Verfasser) mit Bezug auf die vertraulichen Ausführungen: »Gegenseitige Liebe bewirkend«, für Mann und Frau am Ende Wonne bereitend. Was ist das alles? Darauf antwortet (der Verfasser): »Durch Willfahren gegen das Wesen des eigenen Selbstes«: Willfahren nach den eigenen Gedanken, Umarmungen usw.; also so handelnd, daß man sich einander hingibt. – »Bald durch Abwenden in Zorn, bald durch Anblicken in Liebe«: durch Abwenden in augenblicklichem Zorne infolge eines Liebesstreites, und dann wieder, infolge der Versöhnung, stracks Anblicken in Liebe; ab und zu. »Wächst die Liebe« ist bei jeder Strophe hinzuzufügen. – »Durch Spiele wie der hallīsa-Tanz«: Gesang, wozu der hallīsa-Tanz ausgeführt wird. So heißt es: »Wenn Frauen im Kreise tanzen, so ist das der hallīsa-Tanz; hierbei sei ein Mann der Anführer, wie Hari bei den Hirtenfrauen«. – »Scherze von Lāṭa«, wie sie in den verschiedenen Ländern gebräuchlich sind. Bei diesen ist der Gesang das besondere Kennzeichen, da sie mit dem Ohre wahrgenommen werden. – »Mit vor Leidenschaft unruhigen und feuchten Augen«: bei den Gesängen sind die Augen vor Leidenschaft bewegt und mit Tränen gefüllt. Damit deutet (der Verfasser) an, daß die Stimmen reizend sind. – »Durch das Betrachten der Mondscheibe«: das ist eine elliptische Bezeichnung für herzerfreuende Dinge. – Dieses Willfahren usw. bildet das Erwerben des Vertrauens; da sie im Vertrauen angewendet werden; mit Bezug auf die vertraulichen Erzählungen sagt (der Verfasser): »Als das erste«, anfängliche, »Zusammentreffen stattfand«. »Wünsche«: »Wann werde ich mit dieser oder diesem zusammenkommen?« usw. »Dann wieder bei der Trennung«, da sie schmerzgepeinigt waren, »welches Unglück«, Unbehagen. – »Und am Ende des Erzählens«: das bedeutet das Wiederfinden nach der Trennung.[228] – »Durch solche und ähnliche«, auch noch andere vertrauliche Ausführungen, unterstützt von Liebe. – »Des Jünglings«: da nur ein Teil genannt ist, so bedeutet es: des Jünglings und der Jungfrau.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 223-229.
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