§ 30. Erlangung des Mädchens infolge der Annäherung.

[281] Wenn das den zu gewinnenden Mann aufsuchende Mädchen von vielen umworben wird, so spricht man von einer »Erlangung des Mädchens infolge der Annäherung«; d.h. das Mädchen handelt unter Betrachtung der Annäherung.


Hier gibt es einige Verse:

Wen das umworbene Mädchen aber für eine Stütze und für ein Glück hält, für passend und ergeben, den nehme sie zum Gatten.


»Stütze«: indem sie meint, daß man sich auf ihn stützen könne. »Glück«: da das äußerliche Glück des Liebesgenusses die Ursache für das innerliche, spätere Glück ist. – »Passend«:[281] ihren Gedanken entsprechend. – »Ergeben«, nach ihren Worten handelnd. – Wen sie dafür hält, »den nehme sie zum Gatten«; d.h. sie handele danach.


Wenn sie ohne Rücksicht auf Vorzüge, Schönheit und Erfahrung einen Gatten nur aus Verlangen nach Geld sucht, selbst mit Inkaufnahme von Nebenbuhlerinnenrivalitäten,

so locke sie nicht an sich einen mit Vorzügen ausgestatteten, ergebenen, fähigen, heftig verlangenden Mann, der sie mit allen Mitteln umwirbt.


»Ohne Rücksicht«: bei einer Selbstwahl, wobei sie auf Vorzüge keine Rücksicht nimmt, da sie nicht vorhanden sind: er ist eben nur reich! »Selbst mit Inkaufnahme von Nebenbuhlerinnenrivalitäten«: nicht nur ohne solche: indem reiche Leute gewöhnlich viele Frauen haben. – Hierbei »locke sie nicht an sich«, weise sie ab, »einen mit Vorzügen ausgestatteten«, tugendreichen, »fähigen«, kräftigen, »heftig verlangenden Mann«, schlechterdings verlangenden.

Wer aber reich ist, viele Gattinnen besitzt und sich um sie bewirbt, den soll sie, auch wenn er Tugenden besitzt, nicht an sich locken. Das zeigt (der Verfasser), indem er sagt:


Besser ein Ergebener, wenn er auch arm ist und einer, der sich allein besitzt, wenn er auch keine Vorzüge hat, als einer, der viele besitzt, mag er auch mit Tugenden ausgestattet sein.


»Der sich allein besitzt«, der nur seine Familie zu ernähren hat. »Einer, der viele besitzt«, einer für viele. – Wer jedoch reich ist, Frauen besitzt, mit Vorzügen ausgestattet und ergeben, den soll sie an sich locken, ist der Sinn.

Nun nennt (der Verfasser) die Mängel an einem, der nicht ergeben ist:


Gewöhnlich haben reiche Leute viele Frauen, die sich frei bewegen können: aber wenn auch der äußerliche Genuß da ist, so sind sie doch, trotz des äußerlichen Glückes, ohne Vertrauen.


»Gewöhnlich«. Daher eben nimmt ein Reicher viele Frauen und diese können sich ganz besonders »frei bewegen«, sind unbehindert. Der Grund ist der »äußerliche Genuß«. Durch den Genuß einer Wohnstätte usw. sind sie äußerlich glücklich, aber »ohne Vertrauen«, d.h. sie entbehren des inneren Glücke welches Liebeslust heißt.


[282] Wenn aber ein niedriger Mann sich bewirbt oder ein Graukopf und viel Verreisender, so ist dieser der Vereinigung nickt würdig.


»Niedrig«, aus geringem Geschlechte, mag er auch mit den obigen Tugenden versehen sein. – »Ein Graukopf«, Greis; und einer, der stets in der Fremde weilt.


Wer ganz nach Belieben seine Werbung anstellt, auf heuchlerisches Spiel versessen ist und Frau und Kinder hat, der ist der Verbindung nicht würdig.


»Ganz nach Belieben«: wer nach Herzenslust bei der Werbung zu Werke geht; d.h. mit Gewalttätigkeiten; unter vielfachen Vorspiegelungen an »heuchlerischem Spiele« hängt »und Frau und Kinder hat«, ein eheliches Weib besitzt und Kinder von ihr hat, oder eins von beiden.

Ein ergebener Mann aber, wenn auch im übrigen so wie angegeben, ist der Verbindung würdig; so sagt (der Verfasser):


Bei Gleichheit der Tugenden ist unter den Bewerbern nur ein Freier, der sie freien wird: hier dieser Bewerber nimmt den Vorrang ein: sein Wesen nämlich bildet die Zuneigung.


»Bei Gleichheit« der genannten »Tugenden«. – »Nur ein Freier«: sie freien, daher heißen sie Freier. Alle sind »Bewerber«, unter diesen ist »nur ein Freier, der sie freien wird«, der zum Freien tauglich ist ... – »Hier dieser« treffliche »Bewerber nimmt« bei seinem hervorragenden Wesen »den Vorrang ein«, ist der beste, da sein Wesen in der Zuneigung besteht.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 281-283.
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