§ 38. Das Leben im Harem.

[315] Wie es einen Abschnitt über die verheirateten Frauen gibt, so auch für den Liebhaber gegenüber der Frau; ... – Sonst würde die Frau des Liebesgenusses nicht teilhaftig werden, selbst wenn sie mit dem Liebhaber vereint wäre und von ihm verehrt würde. Der Liebhaber nun ist von zweierlei Art: von königlichem Range oder aus dem Bürgerstande. Mit Bezug auf den ersten wird hier »das Leben im Harem« beschrieben. Das Treiben, wie es in dem Frauenhause vor sich geht, heißt das Leben im Harem ... – Wie von dem Treiben des Königs, so muß man doch wohl auch von dem der Frauen im Harem sprechen? Darauf antwortet (der Verfasser):


Das Leben im Harem ersehe man aus diesem Paragraphen.


»Das Leben im Harem«, der dort befindlichen Frauen: diese sind gemeint. »Ersehe man aus diesem Paragraphen«: da gibt es ebenso eine einzige Gattin, eine älteste Gattin und so weiter: so wird das nicht besonders behandelt; für den König jedoch wird die Sache besonders dargestellt:


Kränze, Salben und Gewänder sollen ihre Kämmerer oder Zofen dem Könige darbringen als von den Gebieterinnen gesandt. Der König nehme es an und gebe ihnen als Gegengeschenk[315] Opferüberbleibsel. Am Nachmittag besuche er geschmückt alle wohlgeputzten Frauen des Harems auf ein Mal.


»Als von den Gebieterinnen gesandt«: »er nehme es an«: dies usw. geschieht, um seine Zuneigung auszudrücken. – »Geschmückt«, in großer Toilette ...


Je nach Zeit und Würde weise er ihnen ihre Plätze an, beobachte achtungsvolle Behandlung und beginne scherzhafte Geschichten.


»Je nach Würde«: was einer jeden mit Rücksicht auf ihre Herkunft und ihr Alter für ein »Platz« zukommt, Stellung; »achtungsvolle Behandlung«, Verehrung: nach diesen beiden Gesichtspunkten behandele er sie. – »Scherzhafte Geschichten«, von jeder Art. Das ist das Benehmen gegen die rechtmäßig verheirateten Frauen.


Darauf besuche er ebenso die Wiederverheirateten.


»Darauf«, nachdem er die rechtmäßigen Frauen gesehen hat, »besuche er ebenso die Wiederverheirateten«, auf ein Mal, denen er ebenso ihre Plätze anweist und die er achtungsvoll begrüßt.


Darauf die Hetären, die darinnen wohnen und die Schauspielerinnen.


»Die darinnen wohnen«, zu dem Harem gehören. – »Schauspielerinnen«, die für das Schauspiel bestellt sind. – Diese besuche er ebenso.


Deren Plätze sind die ihnen zukommenden Galerien.


»Deren«, der Wiederverheirateten usw. »Die ihnen zu kommenden Galerien«: in der Mitte sitzen die Königinnen, in der dahinterliegenden Galerie die Wiederverheirateten, dahinter die Hetären, und wiederum dahinter die Schauspielerinnen.


Die Kammerfrauen aber sollen, von ihren Dienerinnen begleitet, dem Könige, wenn er sich am Tage von dem Lager erhebt, melden, welche Frau an der Reihe ist, welche übergangen ist und welche die Regeln hat; und sollen das von ihnen gesandte, mit einem Ringabdrucke versehene Geschenk, Salben usw., überbringen und Reihe und Regeln angeben.


»Übergangen«, über Gelagen und Festen vergessen. – »Welche die Regel hat«, deren Regeln eingetreten sind. –[316] »Von ihren Dienerinnen begleitet«, von den Dienerinnen, so viele ihrer die drei Königinnen haben, begleitet. »Die Kammerfrauen«. – »Wenn er sich am Tage von dem Lager erhebt«, wenn er sich von dem Schlafe nach der Mahlzeit erhebt. – »Welche übergangen ist und welche die Regeln hat«. – »Mit einem Ringabdrucke versehen«, versiegelt. – »Salben«, um die Zusammengehörigkeit anzudeuten. »Reihe«, die daran ist oder übergangen ist. »Regel«, die eingetretene.


Von welcher der König hierbei etwas annimmt, die bezeichne er als an der Reihe.


»Hierbei«, bei dieser Meldung. – »Was der König hierbei annimmt«, von welcher das versiegelte Geschenk.


Bei Festen finde allseitige, entsprechende Ehrung und Gelage statt; ebenso bei Konzerten und Schaustellungen.


»Entsprechende Ehrung«, der Herkunft und dem Alter entsprechend. – »Gelage«, mit ihnen zusammen.


Die im Harem wohnenden Frauen dürfen nicht hinausgehen, und die draußen befindlichen haben keinen Zutritt, abgesehen von solchen, deren Lauterkeit man kennt. So ist die Ausführung der Handlungen unbeeinträchtigt. – Das ist das Leben im Harem.


»Abgesehen«: da diese nämlich frei von Ränken sind, so tun die keinen Schaden. – »So ist die Ausführung der Handlung unbeeinträchtigt« die Ausübung des Liebesgenusses dürfte so ungestört sein.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 315-317.
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