Zweites Kapitel.

Wie es Kandid bei den Bulgaren erging.

[42] Aus dem irdischen Paradiese verjagt, wanderte Kandid eine Zeitlang fort, ohne zu wissen wohin, indem er seine thränenvollen Augen zum Himmel emporrichtete, noch öfter aber sie nach dem schönsten der Schlösser zurückwandte, wo das reizendste Freifräulein weilte. Ohne zu Nacht gespeist[42] zu haben, legte er sich bei heftigem Schneegestöber auf offenem Felde zwischen zwei Furchen nieder.

Ganz erstarrt schleppte er sich den folgenden Tag nach dem benachbarten Flecken Waldberghoftrarbkdickdorf und blieb, da er kein Geld hatte, halb todt vor Hunger und Müdigkeit und höchst niedergeschlagen an der Thür eines Wirthshauses stehen.

Zwei blaugekleidete Männer bemerken ihn.

»Kamerad,« sprach der eine zum andern, »seht doch den hübschen, stattlichen Burschen dort! Er wird die erforderliche Länge haben.«

Sie gingen auf Kandid zu und baten ihn sehr höflich, mit ihnen zu speisen.

»Meine Herren,« erwiderte Kandid mit liebenswürdiger Bescheidenheit, »Sie erzeigen mit viel Ehre, allein ich habe nichts, um meine Zeche zu bezahlen.«

»Ei, lieber Herr,« entgegnete ihm einer der Blauen, »Leute von Ihrem Aeußern und Ihrem Verdienste bezahlen nie etwas. Messen Sie nicht fünf Fuß fünf Zoll rheinisch?«

»Allerdings, meine Herren, das ist genau mein Maß,« sprach Kandid mit einer Verbeugung.

»Vortrefflich, lieber Freund! setzen Sie Sich zu Tisch. Wir werden Sie nicht bloß freihalten, sondern auch nimmer dulden, daß es einem Manne, wie Ihnen, an Gelde fehlt. Die Menschen sind ja dazu in der Welt, sich einander beizustehen.«

»Sie haben Recht,« sprach Kandid, »das hat Doctor Pangloß mir immer gesagt; und ich sehe wohl, daß Alles aufs beste angeordnet ist.«

Man bittet ihn, einige Thaler anzunehmen. Er nimmt sie und will einen Schein darüber ausstellen, allein das giebt man nicht zu. Man setzt sich zu Tisch.[43]

»Lieben Sie nicht zärtlich...?«

»Ach, ja wohl!« erwiderte er, »ich liebe Fräulein Kunigunden zärtlich!«

»Nein!« fällt einer der beiden Herren ihm ins Wort, »wir fragen, ob Sie den König der Bulgaren nicht zärtlich lieben?«

»Durchaus nicht,« entgegnet er, »ich habe ihn in meinem Leben nicht gesehen.«

»Wie! es giebt keinen scharmantern König in der Welt! Wir müssen einmal auf seine Gesundheit trinken!«

»O, mit dem größten Vergnügen, meine Herren;« und er trinkt.

»So! das genügt,« heißt es darauf; »jetzt sind Sie die Stütze, der Stab, der Vertheidiger, der Held der Bulgaren. Ihr Glück ist gemacht, Ihr Ruhm fest begründet.«

Ohne weitere Umstände wird er an Händen und Füßen geschlossen und so zum Regiment transportirt. Hier heißt es: »Schwenkt euch rechts! – schwenkt euch links! – schultert's Gewehr! – Gewehr beim Fuß! – legt an! – Feuer! – Dublirtritt, marsch!!« – und man giebt ihm dreißig Stockprügel. Den andern Tag exercirt er nicht ganz so schlecht und empfängt nur zwanzig Hiebe. Den dritten Tag bekommt er nur zehn und wird von seinen Kameraden wie ein Wunderthier angestaunt.

Ganz betäubt, wie er war, konnte Kandid noch immer nicht recht begreifen, wie er dazu gekommen, ein Held zu werden. An einem schönen Frühlingsmorgen fiel es ihm ein, einen Spaziergang zu machen. Ganz arglos ging er der Nase nach, da er es für ein Privilegium der menschlichen wie der thierischen Gattung hielt, sich der eignen Beine nach Belieben zu bedienen. Er hatte aber noch keine zwei Stunden[44] Weges zurückgelegt, als plötzlich vier andere, sechs Fuß lange Helden ihn einholen, binden uns ins Gefängniß schleppen. Man fragte ihn von Rechtswegen, was er lieber wolle: sechsunddreißigmal durch das ganze Regiment Spießruthen laufen oder sich auf einmal zwölf bleierne Kugeln durchs Hirn jagen lassen. Es half ihm nichts, daß er sich auf die Freiheit des Willens berief und erklärte, er wolle weder das Eine noch das Andre. Er mußte eine Wahl treffen, und kraft des göttlichen Geschenks, das man Freiheit nennt, entschloß er sich, sechsunddreißigmal Spießruthen zu laufen: Zweimal hielt er die Promenade aus. Das Regiment bestand aus 2000 Mann. Er empfing demnach 2000 Spießruthenstreiche, die ihm vom Genick bis zum Kreuzbein alle Muskeln und Nerven bloßlegten. Als man zum dritten Gang schreiten wollte, konnte Kandid nicht weiter und bat, man möge die Gnade haben, ihm den Hirnkasten zu zerschmettern. Diese Vergünstigung wurde ihm bewilligt. Man verbindet ihm die Augen und läßt ihn niederknien. In diesem Augenblick kommt der König der Bulgaren vorüber. Er erkundigt sich nach dem Verbrechen des armen Sünders, und da dieser König ein großes Genie war, wurde ihm aus Allem, was er über Kandid erfuhr, klar, daß derselbe ein junger Metaphysiker, in den Angelegenheiten dieser Welt aber sehr unerfahren sei, und mit einer Huld und Milde, die alle Zeitungen und alle Jahrhunderte nicht genug preisen können, begnadigte er ihn. Ein tüchtiger Feldscheer heilte Kandid in drei Wochen mit erweichenden Aufschlägen nach der Vorschrift des Dioskorides. Er hatte schon wieder ein wenig Haut und konnte marschiren, als der König der Bulgaren dem Könige der Avaren eine Schlacht lieferte.[45]

Quelle:
Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Leipzig 1844, S. 42-46.
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