Achtundzwanzigstes Kapitel.

Schicksale des Freiherrn und des Magisters Pangloß.

[162] »Verzeihung, nochmals Verzeihung, hochwürdiger Pater, daß ich Ihnen so ohne Weiteres den Degen durch den Leib jagte!« sagte Kandid zum Freiherrn.

»Nichts mehr davon,« antwortete dieser; »ich war ein wenig zu lebhaft, ich gesteh' es. – Doch Sie wollen wissen, welch ein unglücklicher Zufall mich auf die Galeeren gebracht[162] hat. So hören Sie denn. Nachdem der Bruder Apotheker unsers Collegiums meine Wunde geheilt hatte, wurde ich von einer spanischen Streifpartei angegriffen und gefangen genommen. Man setzte mich in Buenos-Ayres, das meine Schwester eben verlassen hatte, ins Gefängniß. Ich verlangte nach Rom zum Pater General zurück zu kehren, und später wurde ich zum Almosenier des französischen Herrn Gesandten in Konstantinopel ernannt. Ich hatte dies Amt noch keine acht Tage bekleidet, als ich gegen Abend zufällig mit einem jungen sehr wohlgebildeten Itschoglan zusammentraf. Es war sehr schwül; der junge Mensch wollte sich baden; ich nahm die Gelegenheit wahr und badete mich mit. Ich hatte keine Ahnung davon, daß es für einen Christen ein Halsverbrechen sei, mit einem jungen Muselmann in puris naturalibus betroffen zu werden. Ein Kadi ließ mir hundert Stockprügel auf die Fußsohlen geben und verurtheilte mich zu den Galeeren. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist meines Erachtens noch nie begangen worden. – Aber noch einmal, wie, ums Himmels willen, gerieth nur meine Schwester in die Küche eines zu den Türken geflüchteten Fürsten von Siebenbürgen

»Und Sie, theuerster Pangloß,« rief Kandid, »wie ist es möglich, daß ich Sie wiedersehe?«

»Es war freilich keine Augentäuschung,« sprach Pangloß, »daß Sie mich hängen sahen. Der Regel nach hätte ich verbrannt werden müssen; Sie erinnern sich aber wohl daß es regnete, als wenn es mit Mulden goß, und dazu wüthete ein so heftiger Sturm, daß man nicht daran denken konnte, das Holz zum Brennen zu bringen. Ich wurde also gehängt, weil man nichts Besseres mit mir anfangen konnte. Ein Feldscheer kaufte meinen Leichnam nahm mich mit nach Hause und fing an mich zu seciren. Er machte[163] zuerst einen Kreuzschnitt von dem Nabel bis zum Schlüsselbein hinauf. Noch nie seit der Erfindung des Galgens war wohl Jemand elender gehängt worden als ich. Der Nachrichter der heiligen Inquisition, der den Rang eines Unterdiakonus bekleidete, verstand sich meisterlich aufs Verbrennen, aber das Hängen war seine Sache nicht. Der Strick war vom Regen durchnäßt, glitschte also nicht recht und schlug einen schlechten Knoten. Kurz, ich athmete noch. Der Kreuzschnitt weckte mich aus meiner Bewußtlosigkeit, und ich stieß ein so furchtbares Gebrüll aus, daß mein Feldherr rücklings zu Boden stürzte, dann schleunigst in der Meinung, er habe den Teufel secirt, halb todt vor Furcht davon lief und Hals über Kopf die Treppe hinunterfiel. Seine Frau kam bei dem Lärm und Gepolter aus einem Nebenzimmer herbeigerannt, sah mich mit meinem Kreuzschnitt über den Tisch ausgestreckt liegen, gerieth in noch größere Angst als ihr Mann, lief davon und fiel auf ihn. Als sie sich ein wenig erholt hatten, hörte ich die Frau zum Manne sagen: ›Wie konntest Du Dir's nur einfallen lassen, mein Bester, einen Ketzer zu seciren? Du solltest doch wissen, daß dergleichen Leute immer den Teufel im Leibe haben. Ich will geschwind hin und einen Priester holen, damit der ihn austreibt.‹ Die Haut schauderte mir bei diesen Worten, ich raffte den geringen Ueberrest meiner Kräfte zusammen und schrie: ›Habt Erbarmen mit mir!‹ Endlich faßte der portugiesische Barbier sich ein Herz. Er nähte meine Haut wieder zu; selbst seine Frau nahm sich meiner liebevoll an, und nach vierzehn Tagen war ich wieder auf den Beinen. Der Barbier sah sich nach einem Dienst für mich um und brachte mich als Lakai bei einem Malteser Ritter unter, der nach Venedig ging. Da aber mein Herr mir meinen Lohn nicht zahlen konnte, trat ich bei einem venetianischen[164] Kaufmann in Dienst und folgte ihm nach Konstantinopel.

Eines Tags kam ich auf den Einfall, in eine Moschee zu gehen. Es war Niemand darin, als ein alter Iman und eine junge allerliebste Andächtige, die ihre Paternoster herbetete. Ihr Busen war ganz unverhüllt, und vor demselben steckte ein schöner Strauß von Tulpen, Rosen, Anemonen, Ranunkeln, Hyacinthen und Aurikeln. Sie ließ ihn fallen; ich hob ihn auf und steckte ihn mit sehr ehrfurchtsvoller Geschäftigkeit ihr wieder vor. Beim Anordnen der Blumen bracht' ich so lange Zeit zu, daß der Iman in Harnisch gerieth, und da er sah, daß ich ein Christ war, um Hülfe rief. Man führte mich vor den Kadi, der mir hundert Hiebe mit dem Bambusrohr auf die Fußsohlen geben ließ und mich auf die Galeeren schickte. Ich wurde gerade auf dieselbe Galeere und auf die Bank geschmiedet, worauf sich der Herr Freiherr befanden. Auf der nämlichen Galeere waren noch vier junge Marseiller, fünf neapolitanische Priester und zwei Mönche aus Korfu, die uns versicherten, daß dergleichen Geschichten alle Tage passirten. Der Herr Freiherr behauptete, ihm sei größeres Unrecht geschehen, als mir; ich behauptete dagegen, daß es weit erlaubter ist, einem Frauenzimmer einen Blumenstrauß wieder vor den Busen zu stecken, als sich in puris naturalibus mit einem Itschoglan betreffen zu lassen. Wir disputirten beständig und empfingen täglich unsere zwanzig Karbatschenstreiche, bis die Verkettung der Begebenheiten in dieser Welt Sie, theurer Kandid, in unsere Galeere führte, und Sie uns loskauften.«

»Nun, lieber Pangloß,« sprach Kandid, »blieben Sie denn noch immer mein Ihrem alten Lehrsatze, nachdem Sie gehängt, secirt, zerprügelt und endlich Galeerensklave[165] geworden waren? Behaupten Sie noch immer, daß diese Welt die beste ist?«

»Allerdings hänge ich noch immer fest an meiner ersten Meinung und werde ihr ewig treu bleiben,« antwortete Pangloß; »denn ich bin ein Philosoph, und es würde mir schlecht anstehen, etwas, das ich einmal behauptete, zu widerrufen. Leibnitz kann nicht Unrecht haben, und überdies giebt es nichts Herrlicheres in der Welt, als die vorherbestimmte Harmonie, wie auch die Lehre vom Plenum und der Materia subtilis

Quelle:
Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Leipzig 1844, S. 162-166.
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