§ 12. Jüngere Sophisten: Prodikos, Hippias; politische Theorien; Eristik.

  • [67] Literatur: F. Dümmler, Akademika. Gießen 1889. Pöhlmann, Gesch. d. antiken Kommunismus und Sozialismus 1893, S. 150 ff., 264 ff.

Von der jüngeren Sophistengeneration besitzen wir nur sehr spärliche Nachrichten, die meisten aus den (gegnerischen) platonischen Dialogen.

1. In Athen erwarb sich Beliebtheit und Einfluß Prodikos aus Keos, der von manchen (vgl. Welcker, Kl. Schr. II, 393-541) sogar als »Vorgänger des Sokrates« bezeichnet wird. Aus seinen naturphilosophischen Schriften ist uns nichts erhalten. Er schrieb und hielt Vorträge über Synonymik und Sprachrichtigkeit. Die Entstehung der Religion wagte er bereits in sehr rationalistischer und zugleich utilitaristischer Weise zu erklären: die Menschen der Vorzeit hätten alles vergöttert, was ihnen Nutzen brachte, wie das Brot als Demeter, den Wein als Dionysos, das Wasser als Poseidon, das Feuer als Hephaistos u. a. Am bekanntesten aber wurde er durch seine moralisierenden Vorträge, vor allem durch die berühmte, von Xenophon (Memorabilien II, 1) überlieferte Allegorie »Herakles am Scheidewege«, die das ganze Altertum und die frühchristliche Literatur beeinflußt hat.

2. Von noch weit größerer, wahrhaft erstaunlicher Vielseitigkeit war Hippias von Elis, der nicht bloß Astronomie, Mathematik, Mnemonik, Chronologie, Sagen- und Völkerkunde, Theorie der Künste trieb und lehrte und in moralischen Mahnreden, wie Prodikos, glänzte, sondern daneben auch noch Dichter und – Kunsthandwerker war. Philosophisch interessiert uns nur der für diese Zeit der sophistischen Aufklärung, die alles bisher Feststehende in: Wissen und Sitte, Recht und Staat in Zweifel zog, charakteristische Gegensatz, der nach Plato[67] bei Hippias zuerst zutage trat, zwischen, dem physei und nomô, d.h. zwischen dem, was von Natur ewige und unveränderliche Geltung besitzt, und den vergänglichen und veränderlichen Satzungen der Menschen. Hippias stellt (nach Plato) den fast an heutige anarchistische Theorien erinnernden Satz auf: das Gesetz sei der Tyrann der Menschen und treibe sie durch seinen Zwang zu vielem Naturwidrigen an.

3. Andere verfolgten diese, wie es scheint, bei Hippias noch ziemlich gemäßigt auftretenden naturrechtlichen Theorien bis zu radikaleren Konsequenzen. Berechtigt ist nur, was »die Natur« bestimmt. Daher haben alle seit Anbeginn der Menschengeschichte von Menschen gemachten Gesetze und Rechte nur einen sehr bedingten Wert und sind im Interesse derer, die sie aufstellten, erlassen: sei es der Gewalthaber, wie Thrasymachos im 1. Buche der platonischen Republik ausführt, oder der Masse der Schwachen, wie Platos Gorgias will. Jeder hat das Recht zur Befriedigung seiner Triebe. Maß zu halten ist töricht, ja schimpflich. Kallikles in Platos Gorgias führt aus, daß durchaus nicht immer die Gesetzlichkeit glücklich mache, vielmehr weit häufiger eine durch keine Rücksicht auf Maß und Gesetz gehemmte Lebensführung. Der Stärkste ist am glücklichsten, weil er sich am besten auszuleben vermag (vgl. Nietzsche!). Von solchen ganz modern klingenden Anschauungen aus ist man schon damals zu einer tief einschneidenden Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung gekommen, und sind mindestens von einzelnen tiefgreifende revolutionäre Forderungen gestellt worden. Im Namen des gleichen Rechts für alle forderte Lykophron offen die Abschaffung der Adelsvorrechte, Alkidamas und andere (was selbst Plato und Aristoteles nicht wagten) die der Sklaverei – »die Gottheit hat alle frei erschaffen, die Natur niemanden zum Sklaven gemacht« –, Phaleas von Chalkedon Gleichheit des Besitzes, der Erziehung und Kollektivwirtschaft für die freien Bürger, während »der erste Privatmann, der es unternahm, etwas über den besten Staat zu sagen«, der Architekt Hippodamos von Milet, sich innerhalb der Grenzen der bestehenden individualistischen Gesellschaftsordnung gehalten zu haben scheint. (Quelle für diese Nachrichten: Aristot. Politik, Buch II.) Die in den Ekklesiazusen des Aristophanes (392) verspottete Idee der Weibergemeinschaft muß ebenfalls schon damals ihre Anhänger gefunden haben, da die Beziehung auf die[68] platonische Republik durch deren viel spätere Abfassung ausgeschlossen ist; und der als der übermütigste der 30 Tyrannen bekannte Kritias behauptete bereits, ein kluger Staatsmann habe den Götterglauben erfunden, um durch Androhung göttlicher Strafen das Volk gefügiger und unterwürfiger zu machen. Über Euemeros siehe § 16.

4. Dieser Umwertung der sittlich-sozialen Vorstellungen folgte allgemach auch ein immer radikalerer Skeptizismus auf theoretischem Gebiete, dem wir ja schon Gorgias huldigen sahen, und der sich zu dem Satze verstieg: alles sei Trug, jede Vorstellung und Meinung falsch. Bei anderen führte das zur leersten Wortstreiterei (Eristik), zu Effekt machen sollenden Fang- oder Trugschlüssen (»Sophismen«), wie sie Plato in seinen Dialogen Euthydem und Kratylos, Aristoteles in seiner Schrift »Über die sophistischen Trugschlüsse« vorführt; oder zu Vexierfragen, auf die weder Ja noch Nein als Antwort paßte, wie die: Hast du deine Hörner abgelaufen? Hast du aufgehört, deinen Vater zu schlagen? Meist waren es wohl, wie man aus diesen Beispielen sieht, recht grobkörnige Wortwitze, die indes bei den Silbenstecherei und Wortspiele liebenden Athenern auf fruchtbaren Boden fielen.

Nach alledem sind die Sophisten, trotz ihrer Schwächen und Entartungen, eine kulturgeschichtlich nach verschiedenen Richtungen hin bedeutsame und anziehende Erscheinung. Philosophisch dagegen haben sie aus Mangel an einem festen Kriterium, außer jenem immerhin wichtigen Subjektivitätsgrundsatz des Protagoras, für die Entwicklung der Philosophie als Wissenschaft nichts Bleibendes geleistet. Mittelbar freilich führte ihr Auftreten zu einer um so bedeutenderen Gegenwirkung. Denn ihre Verneinung jeder Allgemeingültigkeit in Erkenntnis und Sittlichkeit rief als Kämpfer für diese bedrohten höchsten menschlichen Güter eine der großartigsten Gestalten nicht bloß der Philosophie, sondern auch der gesamten Menschheitsgeschichte auf den Plan: den Athener Sokrates.[69]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 67-70.
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