§ 17. Antisthenes und die Zyniker.

  • [81] Literatur: Außer den zu § 16 genannten Werken und Jod (S. 70 f.) vgl. Göttling, Diogenes, der Kyniker, Halle 1851. J. Bernays, Lucian und die Kyniker, Berlin 1879. F. Dümmler, Antisthenica, Halle 1882.

1. Antisthenes.

Antisthenes, um 440 zu Athen, jedoch von einer thrakischen Mutter geboren, hatte schon den Unterricht des Gorgias genossen und wie dieser Unterricht in der Redekunst erteilt, ehe er, in ziemlich vorgeschrittenem Alter, zu Sokrates kam. Selbst – wenigstens später – arm, fühlte er sich als Wortführer der niederen Klassen. Er lehrte im Gymnasium Kynosarges; wahrscheinlich deshalb, weniger ihrer »hündischen« Lebensweise wegen, haben seine Anhänger den Namen »Kyniker« bekommen. Er starb um 370.

Wie Gorgias zeigte er sich in der Erkenntnislehre als Skeptiker. Jedem Dinge soll nur sein eigener Name,[81] kein fremdes Prädikat gegeben werden, beispielsweise: der Mensch ist Mensch, Gut ist gut, nicht aber: der Mensch ist gut. Das Einfache könne höchstens mit anderen Dingen verglichen, das Zusammengesetzte durch Aufzählung seiner Bestandteile erklärt werden. Er befehdete Platos Ideenlehre heftig – »ich sehe ein Pferd, keine Pferdheit« – und wird auch von diesem in seinen Schriften vielfach, wiewohl ohne Namensnennung, bekämpft. Alle Wissenschaft, die nicht auf das Praktische geht, gilt ihm als eitler Tand.

Denn als Philosophie gilt Antisthenes einzig und allein die Ethik. Den Inhalt zu dieser aber gab ihm nicht sowohl die Lehre als die Persönlichkeit des Sokrates. Zur wahren Glückseligkeit, zur »reuelosen Lust« führt den Menschen nicht das Wissen, sondern allein die Tugend; zu dieser aber bedarf es nichts weiter als der sokratischen Kraft, der Selbstbezwingung. Nicht aufs Reden, aufs Handeln kommt es an. Zwar nennt auch Antisthenes die Tugend lehrbar, aber Lehre fällt ihm mit Übung und Gewöhnung, Einsicht und Weisheit mit Willensfestigkeit zusammen. Dem einen Guten steht auch nur ein Übel, die Schlechtigkeit, gegenüber. Alle anderen Dinge: Vermögen, Ehre, Gesundheit, Freiheit, Familie, Staat, Vaterland (man erinnere sich an sein Halbgriechentum!) sind gleichgültig. Die Tugend ist nur eine, für Mann und Weib, Herrn und Knecht; Sklave ist bloß der, welcher sich von seinen Lüsten beherrschen läßt. So erscheint sein Tugendideal wesentlich negativ, als Enthaltsamkeit vom Schlechten wie von den vermeintlichen Gütern des Menschen. Tugend ist ihm Bedürfnislosigkeit. In schroffem Gegensatz zu Aristipp sagte Antisthenes: »Ich möchte lieber verrückt als vergnügt sein!« Eine Art antiker Rousseau, empfahl er Abhärtung des Körpers, Rückkehr von der überfeinerten Kultur zur einfachsten Natur und zur ehrlichen Arbeit. Herakles' mühevolles Leben galt ihm und den Seinen als Vorbild, der Klügler Prometheus dagegen habe mit den Anfängen der Kultur auch den Beginn der Verderbnis unter die Menschen gebracht. Die Volksreligion verwarf Antisthenes zugunsten eines reinen Monotheismus, in dessen Sinne er die Götter- und Heroensagen umdeutete. Er hat einen mächtigen Einfluß ausgeübt, außerhalb seiner eigentlichen Schule auch auf Xenophon. Grundsätzlich steht er trotz alledem mit seinem Gegenfüßler Aristipp auf demselben Boden; auch ihm ist das Ziel des Weisen – die Glückseligkeit.


2. Die jüngeren Zyniker: Diogenes, Krates u. a.

[82] Die soeben geschilderten Züge bildeten sich in der zynischen Schule immer stärker aus. Der Bruch mit allen bestehenden Anschauungen, zu dem Antisthenes' Lehre hinleitete, wurde von seinen Jüngern ins Praktische übersetzt. Die Überspannung des Prinzips der Bedürfnislosigkeit führte die Zyniker bald zu einer Oppositionsstellung gegenüber aller Zivilisation, einer Verherrlichung des die Tiere und den Urmenschen zum Muster nehmenden Naturzustandes, wie sie in der kulturgeschichtlich so bekannten Gestalt des Diogenes von Sinope († 323 zu Korinth) sich darstellt: jenes Sonderlings mit seinem Bettlerleben, ohne feste Wohnung, mit dürftigster Kleidung und Gerät und diese Bedürfnislosigkeit gern zur Schau tragend, dabei derbwitzig, schlagfertig und willensstark. Übrigens werden nicht bloß von Antisthenes, sondern auch von Diogenes Schriften, von letzterem sogar Dramen erwähnt. Der bedeutendste und gebildetste von Diogenes' Schülern war der freiwillig seines Reichtums sich entäußernde Thebaner Krates, dem zuliebe die ebenso vornehme und geistreiche Hipparchia sein Bettlerleben teilte. Charakteristisch ist, daß Krates das Wahrzeichen dieser griechischen Bettlerphilosophen oder »Philosophen des griechischen Proletariats«, wie man sie neuerdings genannt hat, den Ranzen, ebenso dichterisch besingt als die »nimmer vom Joche der Lust gebeugte und nimmer geknechtete unsterbliche Königin Freiheit«. Vom Schwarzen Meere stammten auch die späteren Zyniker Bion und Menippos, der ursprünglich Sklave war.

Mit der berechtigten Auflehnung gegen die Übel der Kultur verbindet sich bei den meisten dieser jüngeren Zyniker eine törichte Verwerfung aller ihrer Segnungen, mit dem Dringen auf das Natürliche eine ins Rohe gehende Übertreibung ihres Grundsatzes »Nichts Natürliches bringt Schande«, namentlich in Beziehung aufs Geschlechtliche, die es verschuldet hat, daß noch heute die Worte »zynisch« und »Zynismus« zur Bezeichnung des Schamlosen in Worten und Handlungen dienen. Lobenswert dagegen ist ihre Willensstärke, Einfachheit, Selbständigkeit, ihr ganz unhellenisches Eintreten für die Aufhebung aller menschentrennenden Schranken der Stände, des Geschlechts und der Nationalität, endlich ihr geläuterter Gottesglaube, der sie nicht in Kulthandlungen, sondern allein in der Ausübung der Tugend den wahren Gottesdienst[83] finden hieß. Wissenschaftlich dagegen haben die Zyniker so gut wie nichts geleistet. Eine Art Nachblüte erlebte ihre Lehre im ersten und zweiten nachchristlichen Jahrhundert (s. unten § 46). Ihre besseren Seiten pflanzten sich in der Stoa (§ 36-38) fort.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 81-84.
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