§ 60. Der Universalienstreit oder: Nominalismus und Realismus

(Roscelin, Anselm von Canterbury u. a.).

  • [243] Literatur: J. Löwe, Der Kampf zwischen Nominalismus und Realismus. Prag 1876. Die Hauptwerke über Anselm: R. Hasse (Lpz. 1843-52), Ch. de Rémusat (1868) und D. de Vorges, St. Anselm, Paris 1901.

1. In der Einleitung des Porphyrius (§ 49) zu Aristoteles' logischen Schriften wird die Frage aufgeworfen, ob die Gattungsbegriffe (genera und species, zusammengefaßt unter dem Namen universalia), z.B. Eiche, Rind, wirklich d.h. dinglich oder nur in unseren Gedanken vorhanden, ob sie körperlich oder unkörperlich seien, ob sie gesondert von den Sinnendingen oder nur in und an denselben existieren. An diese, dem Mittelalter nur in der lateinischen Übersetzung des Boethius vorliegende, Stelle knüpfte sich der fast das ganze Mittelalter durchziehende sogenannte Universalienstreit. Die einen (die Realisten) behaupten, indem sie sich dabei auf Plato (von dem freilich damals nur ein Teil des Timäus bekannt war!) beriefen, daß die Gattungsbegriffe das Ursprüngliche und Wirkliche, sowohl der Zeit wie dem Range nach, also die wahrhaften Dinge (res) seien, welche das Besondere aus sich erzeugten (universalia ante rem). Demgegenüber behauptete die andere Partei, die Nominalisten, daß die allgemeinen Begriffe bloße Worte (nomina, voces) oder Abstraktionen (intellectus) des Verstandes seien, während in Wirklichkeit nur die Einzeldinge existierten (universalia post rem). Zwischen beide schob sich später eine vermittelnde, auf Aristoteles sich berufende Ansicht (sog. gemäßigter Realismus), wonach die Universalien zwar real existierten, aber nur in oder an den Einzeldingen (universalia in re).

2. Die althergebrachte Ansicht war im allgemeinen der Realismus, den wir denn auch bereits Johannes Scottus vertreten sahen. Demgegenüber zeigen sich in der Schule von Fulda schon nominalistische Anfänge, die jedoch größere Bedeutung erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch das Auftreten des Roscelin von Compiègne erreichen. Von ihm selbst ist nur ein Brief an seinen Schüler Abälard erhalten; das übrige wissen wir durch die Schriften seiner Gegner, besonders Abälards und Anselms. R. bildete die nominalistische Doktrin so folgerecht durch, daß er auch die Unterscheidung von Teilen an den Einzeldingen für eine willkürliche, nur der menschlichen Auffassung und Mitteilung dienliche[243] Zerlegung erklärte. Indessen hätte man ihm Sätze wie: »Es gibt keine Farbe an sich, sondern nur gefärbte Körper«, »es gibt keine Weisheit an sich, sondern nur weise Menschen«, seitens der Kirche wohl noch hingehen lassen. Gefährlich wurde ihm, daß er den Nominalismus auch auf die Dreieinigkeitslehre anzuwenden wagte. Da die Wirklichkeit nur in den Individuen existiert, so, lehrte er, seien auch die drei Personen der Gottheit drei getrennte Substanzen, also im Grunde drei Götter. Wegen dieses »Tritheismus« wurde er von einer Synode zu Soissons 1092 verurteilt und zum Widerrufe gezwungen. – Mit Roscelin erlosch der Nominalismus auf lange Zeit; erst im 14. Jahrhundert (vgl. § 68) ist er wieder emporgekommen.

3. Der Realismus feierte einen glänzenden Sieg in Roscelins Gegner Anselm von Canterbury (1033-1109). Sohn eines piemontesischen Edelmanns, Schüler und Nachfolger von Berengars Gegner Lanfrank als Abt von Bec, war er zuletzt 16 Jahre Erzbischof von Canterbury und ist als solcher durch seine hartnäckige Verfechtung gregorianischer Prinzipien mehrfach mit dem englischen Königtum in Streit geraten. Auch in Glaubenssachen tritt er unbedingt für die kirchliche Autorität ein und ist insofern streng genommen der erste eigentliche Scholastiker. Der Glaube muß der Erkenntnis vorausgehen, dann freilich zu letzterer aufstreben; in diesem Sinne ist sein – übrigens Augustin entnommenes – Credo, ut intelligam gemeint. Für den der wahren Einsicht Unfähigen reicht die bloße demütige Verehrung (veneratio) aus. Die Sinne, so lehrt seine Schrift De veritate im Sinne des Realismus, erkennen das Einzelne, der Geist das Allgemeine; jedes Wesen ist nur dadurch wahr oder gut, daß es an der höchsten Wahrheit oder Güte (Gott) teilnimmt. Seine wichtigsten Lehrstücke sind 1. der ontologische Beweis für das Dasein Gottes, 2. seine Lehre von der stellvertretenden Genugtuung Christi.

Den ersteren entwickeln, in klarer Zusammenfassung und selbständiger Wiedergabe augustinischer Gedanken, die beiden Schriften Monologium und Proslogium (»Anrede«, d. i. an die Gottheit). Das allgemeinste Wesen muß auch das allerrealste (ens realissimum) und allervollkommenste (ens perfectissimum) sein; aus diesem Sein (esse) aber folgt notwendig seine Existenz. Während die erstgenannte Schrift diesen Gedanken mehr auf kosmologischem Grunde darlegt, leitet das Proslogium die Existenz Gottes (esse in re) rein aus seinem Begriffe (esse in intellectu) ab.[244]

Die Schrift Cur deus homo? d.h. Warum ward Gott Mensch? sucht die logische Notwendigkeit von Christi Opfertod zum Entgelt für die Sündenschuld der Menschheit zu beweisen. Voraussetzungen und Beweisgang sind weit mehr juristisch als ethisch. Der Mensch wird gar nicht als sittliches Subjekt gewürdigt, sondern der Sündenfall stellt eine unendliche Beleidigung Gottes dar, die nur durch das stellvertretende Opfer des Gottmenschen gesühnt werden kann. Im übrigen haben wir auf diese noch heute in orthodoxen Kreisen angenommene Rechtfertigungstheorie, als spezifisch theologisch, nicht weiter einzugehen. Auch die übrigen Schriften des einflußreichen Kirchenlehrers behandeln meist theologische Themata (Trinität, Willensfreiheit und Prädestination, Erbsünde u. dergl.). Sein ontologischer Gottesbeweis fand einen scharfsinnigen Bestreiter in dem französischen Mönche Gaunilo, später in Thomas von Aquino.

Zu den extremsten Realisten gehörte nach Abälards Zeugnis Wilhelm von Champeaux († als Bischof von Châlons s. M. 1121). In Sokrates, soll er behauptet haben, sei die »Sokratität« das bloß Zufällige, die Menschheit das Substantielle. Die »Weißheit« würde existieren, wenn es auch kein einziges weißes Ding gäbe. Eine vermittelnde Stellung in dem Universalienstreit nahm der berühmte Abälard ein.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 243-245.
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