§ 2. Die erkenntnistheoretische Grundlegung.

  • [7] Literatur: Natorp, Descartes' Erkenntnistheorie, Marburg 1882. Ders., Die Entwicklung Descartes' von den ›Regeln‹ bis zu den ›Meditationem‹, 1896 (Archiv f. Gesch. d. Philos. X, 10-28). E. Cassirer, Descartes' Kritik der mathemat. und naturwissenschaftl. Erkenntnis, Diss., Marburg 1899; dess. Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 375 ff. Chamberlain, Kant. 1905. 3. Vortrag. E. Heimsoeth, Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz, 1. Teil. Gießen 1912.

[7] 1. Der Ausgangspunkt von Descartes' Philosophieren ist am deutlichsten in den Regulae ad directionem ingenii zu erkennen. Diese seine Jugendschrift stellt zwar historisch nur eine Vorstufe zu seinen späteren metaphysischen Grundsätzen dar, dasjenige Stadium nämlich, in dem er sich Ende der zwanziger Jahre (1628-29) befand; aber die ihm eigentümliche Methode, die nach seinem eigenen Zeugnis (S. 6) um diese Zeit schon festgestellt war, ist ihrem Grundgedanken nach bereits vollständig in den »Regeln« enthalten, ja in reinerer Gestalt als in der späteren Metaphysik.

Nie und nirgends noch in der Philosophie der christlichen Völker war mit solcher Energie nach einem festen, von aller Autorität freien Angelpunkt der Erkenntnis gestrebt worden, als es hier geschah. Einmal im Leben, sagt Descartes in Regula VIII, muß jeder, der ernstlich nach Wahrheit strebt, sich die Frage vorlegen: Was ist Wahrheit? Was ist menschliche Erkenntnis, und welches sind ihre Grenzen? Ihre Beantwortung ist möglich, denn wir brauchen sie nicht aus Plato oder Aristoteles zu entlehnen, sondern finden sie in uns selbst. Das Universum der Dinge ist im Universum des Geistes enthalten. Die Wissenschaften bestehen ganz und gar in der Erkenntnis des Geistes, diese aber bleibt »eine und dieselbe« bei aller Verschiedenheit ihrer Gegenstände. Wie dieselbe Sonne alle Gegenstände erleuchtet und nicht von ihnen ihr Licht erborgt, so auch die eine allgemeine menschliche Erkenntnis (universalis sapientia). Worin aber liegt diese Einheit stiftende und damit Licht spendende Kraft der Erkenntnis? Allein in ihrer Methode, welche die Dinge in »gewisse Ordnungen« stellt, »so wie sie vom Intellekt erfaßt werden«, vom Verwickelteren zum Einfacheren aufsteigend, sie dadurch in durchgängige gedankliche Verknüpfung miteinander bringt und so schrittweise unser Wissen vermehrt.

Muster solcher methodischen Erkenntnis sind Geometrie und Arithmetik. Diese sind die zuverlässigsten und durchsichtigsten von allen Wissenschaften, sie »haben ein Objekt, wie wir es suchen«, das durch seine Einfachheit und Klarheit von selbst einleuchtet, wie ja alle Wahrheit klar und einfach ist. Die Mathematik zeigt uns den einzig richtigen Weg, der zur Erforschung der Wahrheit führt. Der »ganze Kunstgriff« besteht darin, daß wir, wie es in der analytischen Geometrie geschieht, Unbekanntes als bekannt annehmen, von dem dann das in Frage[8] Stehende, auch das Bekannte, »als ob es unbekannt wäre«, in streng methodischer Stufenfolge abzuleiten ist. Es ist also nicht die oftmals trügliche Erfahrung, sondern die Methode der Deduktion, worauf es in erster Linie ankommt. Zwar ist auch die Induktion, schon wegen der Vollständigkeit der Einteilung eines Begriffs in seine Unterarten, nicht zu entbehren; aber sie führt nicht bloß zur Deduktion hin, sondern setzt eine solche auch bereits voraus. Die wahre Einsicht hat sich zwar an der Erfahrung zu bewähren, allein sie beruht auf der notwendigen Verknüpfung der Begriffe. Deren Quell aber ist der reine Verstand (mens pura), der »aus dem Lichte der Vernunft allein entspringt«. Er heißt auch wohl »geistige Anschauung« (intuitus mentis), denn die allerersten Wahrheiten erschauen wir mit unmittelbarer Gewißheit, die den Gegenstand in »einem und demselben Akte« begreift. Vorbild ist auch hier die Methode der Mathematik. Von diesen ersten Elementen anhebend, schafft dann die Deduktion eine kontinuierliche, nirgends unterbrochene Kette von Erkenntnissen. »Wer die Kette der Wissenschaften überschaut« – so schrieb schon der Dreiundzwanzigjährige in sein Tagebuch – »dem wird es nicht schwerer erscheinen, sie insgesamt im Geiste zu beherrschen, als die Reihe der Zahlen zu behalten.« Jene universalis sapientia liegt allem Wissen, die universale Mathematik aller Erkenntnis von Maß und Ordnung, wie sie in der Astronomie, Musik, Mechanik und Optik geübt wird, und die besonderen Wissenschaften des Quantitativen wiederum aller Erkenntnis des Qualitativen zugrunde. Das erkenntnistheoretische Kriterium ist es, das unseren Philosophen zu seiner mechanischen Auffassung aller Naturvorgänge (»bei mir geschieht alles in der Natur auf mathematische Weise«) führt, das ihn sowohl von den Scholastikern wie von Bacos Experimentalmethode grundsätzlich scheidet. Seine Logik ist eine Logik des Erkennens und Forschens, nicht eine Klassifikation der Dinge.

2. Dieselben erkenntnistheoretischen Grundgedanken kehren nun auch in Descartes' späteren Werken: dem Discours, den Meditationen, den Prinzipien, der Recherche und den mathematisch-naturwissenschaftlichen Schriften wieder. Auch hier heißt es wiederholt: einmal im Leben müssen wir alle überkommenen Lehrmeinungen von uns abwerfen und auf neuem Fundamente ein völlig neues Gebäude unseres Wissens aufrichten. Die Vernunft verlangt gänzlich unbezweifelte Gewißheit, und Wissenschaft[9] bedeutet: sichere und evidente Erkenntnis. De omnibus dubitandum est. Bisher aber gibt es nichts in der Philosophie, was zweifellos gewiß wäre. Die Sinne täuschen uns oft – man denke nur an das Träumen –, und selbst mit der Gewißheit des mathematischen Denkens könnte uns ein allmächtiger Dämon betrogen haben, wenigstens was die Übereinstimmung desselben mit den Gegenständen außer uns betrifft. Allein Descartes zweifelt nur, um zur Gewißheit zu gelangen. Und er will zeigen, daß diese Gewißheit nicht in den Sinnen, sondern im bloßen Verstande liegt, sobald er »evidente« Vorstellungen hat. Sein berühmter Satz Cogito ergo sum (Je pense, donc je suis) ist für ihn nur der methodische Ausgangspunkt. Unumstößlich gewiß bei allem Zweifel bleibt, daß ich denke, daß ich ein denkendes Ding bin (une chose qui pense). Das aber weiß ich durch unmittelbare »Erfahrung«, durch eine »Intuition des Geistes«, durch das »reine« oder »natürliche Licht« der allen Menschen gemeinsamen Vernunft, durch eine »klare und deutliche Vorstellung« (perception claire et distincte).

In diesem lumen naturale, das so scholastisch klingt, aber erkenntnistheoretisch gemeint ist, sowie in dem noch häufiger von ihm gebrauchten Ausdruck der klaren und deutlichen Vorstellung haben wir den eigentlichen Ausgangspunkt des Descartesschen Philosophierens zu erblicken. Alle Dinge sind bloße Vorstellungen. Aber nur, was »klar und deutlich« (clair et distinct) erkannt wird, kann als wahr gelten. Und nur, was wahr ist, ist. Nur das klare und deutliche Vorstellen erzeugt wahres Wissen und damit das wahre Sein. »Klar« nennt Descartes eine Vorstellung, die dem Geiste gegenwärtig und offenkundig (manifeste), »deutlich« eine solche, welche genau und von allen anderen Erkenntnissen unterschieden ist. Freilich kommen wir mit dieser Princ. I, 45 gegebenen Definition allein noch nicht viel weiter. Bedeutung bekommt sie erst durch die mathematischen und physikalischen Beispiele, die dazu gegeben werden, durch den Hinweis auf die auch auf die Metaphysik anzuwendende mathematische Methode, die als das erste Muster der klaren und deutlichen Erkenntnis bezeichnet wird.

3. Mit dem Discours de la méthode zugleich erschienen die Geometrie, die Meteorologie und die Optik, d.h. die Anwendung seiner erkenntniskritischen Grundsätze auf die von ihm in eifriger eigener Forschung geförderten Gebiete der Mathematik und Naturwissenschaft.[10]

a) Arithmetik und Geometrie heißen Beispiele für die Grundwissenschaft der Erkenntnis. Die Grundmethode beider, die Verknüpfung von Größen, ist die Methode alles wissenschaftlichen Denkens überhaupt, »die Quelle aller Wahrheiten«. Voraussetzung aller Größensetzung ist der Begriff der Dimension, in dem erweiterten Sinne der Gleichartigkeit, die uns zuletzt auf die Einheit als die »gemeinsame Natur« alles Vergleichbaren führt. Das Einfache ist überhaupt die erzeugende Bedingung des Zusammengesetzten, wie der Punkt die der Linie. Der Begriff des Maßes stellt die Verbindung zwischen dem reinen Denken und der sinnlichen Anschauung her. Die mathematischen Gebilde (Figuren und Zahlen) sind, auch wenn sie nicht »außer uns« existieren sollten, wie Descartes mit Schärfe gegen Gassendi und Hobbes erklärt. Anders denken hieße »der Vernunft den Mund verschließen«, »meine Physik aber erstrebt nichts sehnlicher als möglichst große Annäherung an die reine Mathematik«. Die Idee des Dreiecks muß vorher vorhanden sein, wenn wir ein sinnlich Gegebenes als Dreieck erkennen sollen. Die objektive Geltung der Mathematik hängt von ihrer Naturwirklichkeit nicht ab.

b) Anderseits findet die Mathematik erst in der Naturerkenntnis ihre Erfüllung. Der Gegenstand der Natur, der Körper, wird zunächst (Princ. II, 4 ff.) durch rein mathematische Merkmale, nämlich allein durch seine Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, bestimmt. Die Empfindung wird ausgeschaltet, mit ihr die sinnlichen Qualitäten der Härte, Farbe, Schwere usw. Die mit den Sinnen nicht mehr wahrnehmbaren Körperchen (Korpuskulartheorie), auf welche Descartes schließlich seine Materie zurückführt, sind, ebenso wie die Atome Demokrits, rein geometrische Begriffe. Aber das Problem der besonderen Wirklichkeit (Bestimmtheit) der Körper im Raum ist nicht mit den Mitteln der reinen Mathematik allein zu lösen. Es kommt der Begriff der Bewegung (Ortsveränderung) hinzu, der allerdings durch die Logik (Kategorie der Veränderung) und Geometrie (Ort) schon vorbereitet erscheint. Alle Veränderung in der Natur ist nur Bewegung, Veränderung der räumlichen Verteilung innerhalb des sich quantitativ gleichbleibenden Universums. Das Grundgesetz der Erhaltung der Bewegungsgröße gilt für alle »möglichen« Welten, die »Gott erschaffen könnte«. Innerhalb derselben werden dann alle Naturerscheinungen ganz mechanisch durch Stoß und Druck[11] erklärt, die jedoch nicht naiv sinnlich, sondern rein begrifflich, als Ausgleich zwischen den Bewegungsgrößen benachbarter Raumstellen zu denken sind. Die Wechselwirkung zwischen den sogenannten »Dingen« wird demnach nicht mit den Mitteln der sinnlichen Empfindung erklärt, sondern in rein geometrischer Anschauung konstruiert. So ist Descartes' scheinbarer Materialismus in Wirklichkeit wissenschaftlicher Idealismus.

4. Er hat das Verdienst, zum erstenmal eine Mechanik nicht bloß des Himmels, sondern auch der Erde und zwar nicht nur der anorganischen, sondern auch der organischen Natur bis an die Grenze der Bewußtseinstätigkeit versucht zu haben. Nicht nur die Astronomie, sondern auch die Physiologie soll eine durchaus mechanische Wissenschaft sein, in der eine »Seele« keinen Platz hat. Descartes war einer der ersten, die sich für Harveys Entdeckung (I, S. 348) erklärten und sie auf das Gebiet der Nervenphysiologie anwandten; er gibt bereits eine Beschreibung von Reflexbewegungen. Mit den Männern der Renaissance teilt er den Grundsatz, daß alle Naturerscheinungen auf die einfachsten und einleuchtendsten Prinzipien zurückzuführen seien, mit den Begründern der Naturwissenschaft die quantitative Auffassung der Natur. Wohl bezeichnet er der Kirche gegenüber seine mechanische Evolutionstheorie als eine nur »mögliche« Art der Entwicklung, wohl steht am Ende der Reihe das Prinzip der Unwandelbarkeit Gottes, aber dieser Gott ist bei ihm nur ein Deus ex machina, ein Notbehelf. Tatsächlich sind die Gesetze der Natur mit denen der Mechanik identisch, wie er ausdrücklich erklärt (Discours V, 14). Zu einer Zeit, wo – es war am 4. September 1624 – die Verbreitung der Korpuskulartheorie vom Pariser Parlament bei Todesstrafe (!) verboten wurde, mußte Descartes, wenn er die Möglichkeit des Wirkens behalten wollte, die Wahrheit verschleiern. Aber trotz der theologischen Floskeln, die er seinen Sätzen anzuhängen für gut befindet, ist er im Grunde durchaus modern, in Auffassung und der Sprache. 1640 in einen literarischen Streit mit den Jesuiten verwickelt, bittet er seinen Freund Mersenne brieflich, ihm ein scholastisches Kompendium zu nennen, da er seit zwanzig Jahren keinen Scholastiker gelesen habe! Den Mut des Reformators freilich besaß er nicht.

Wie hoch man indes auch Descartes' Behauptung des Selbstbewußtseins als einziger Quelle aller Wirklichkeit werten mag, so liegt seine eigentliche Bedeutung doch nicht[12] in dieser Erneuerung des Augustnischen Gedankens von der Selbstgewißheit des denkenden Ich, sondern in der Vertiefung, die er mit Hilfe seiner Kritik der Erkenntnis den Prinzipien und Methoden der mathematischen Naturwissenschaft gegeben hat. Daß er sich in der Ausführung vielfach vergriff und sich durch voreilige, aber bei dem damaligen Stande der Wissenschaften erklärliche Hypothesen berechtigte Angriffe zuzog, tut der Klarheit seines erkenntniskritischen Grundprinzips keinen Eintrag. Schlimmer war, daß er selbst das letztere im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen von metaphysischen Gesichtspunkten überwuchern ließ..

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 7-13.
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