§ 15. Leben, Schriften und Charakter.

  • [86] Literatur: Über Lockes Leben handelt ausführlich Fox Bourne, Life of Locke, 2 Bde., London 1876. Seine Persönlichkeit im Rahmen der Zeit zeichnet: Fechtner, Locke, ein Bild aus den geistigen Kämpfen Englands im 17. Jahrh. Stuttgart 1898. Derselbe, Lockes Gedanken über Erziehung, 2. Aufl. Lpz. 1908.

John Locke wurde in demselben Jahre wie Spinoza (1632) in der Nähe von Bristol geboren. Anders als seine Vorgänger, wuchs der übrigens schwächliche Knabe in einer freisinnigen Familie heran; sein Vater nahm auf selten des Parlaments am Bürgerkriege teil. Um so mehr fühlte er sich von der grammatisch-scholastischen Bildung, die ihm Westminster und Oxford zu geben suchten, zurückgestoßen. Den theologischen Beruf, wie ursprünglich beabsichtigt, zu ergreifen, hielt ihn seine allmählich freier werdende religiöse Auffassung ab; er blieb zunächst weiter als Universi täts-Angehöriger in Oxford. Von Philosophen studierte er neben Descartes auch Gassendi und Hobbes, im übrigen – was von Bedeutung für seine philosophische Richtung geworden ist – nicht Mathematik, sondern Chemie und Medizin; zu seinen Freunden zählten u. a. der Reformator der Medizin Sydenham und der berühmte Chemiker Boyle, später auch Newton. Im Jahre 1665 war[86] er eine Zeitlang einer englischen Gesandtschaft an den brandenburgischen Hof nach Kleve zugeteilt. Ein Jahr darauf wurde er mit dem Wigh-Minister Lord Shaftesbury bekannt, dessen wechselvolle politische Schicksale er seit 1667 treulich teilte, und dessen Hause er (darin verwandt seinem Antipoden Hobbes) zwei Generationen hindurch als Freund, Sekretär, Hausarzt und Erzieher seine Dienste geleistet hat. Die Jahre 1675-79 brachte er in Frankreich, 1683-88 mit seinem in Ungnade gefallenen Lord in Holland, der Zuflucht der Unterdrückten, zu. Hier verfaßte er seine Briefe über Toleranz, die jedoch erst von 1689 an (anonym) erschienen. In diesem Jahre kehrte er, infolge der Revolution von 1688, die seinen Freund und Gönner Wilhelm von Oranien zum König von England erhob, in die Heimat zurück. Von jetzt ab beginnt seine reiche literarische und öffentliche Tätigkeit. Ein einträgliches Staatsamt, das ihm übertragen wurde, gab er wegen Kränklichkeit auf, wirkte jedoch eifrig und einflußreich weiter im Sinne der neuen liberalen Regierung. Er war unvermählt geblieben und starb 1704 auf dem Landgute einer befreundeten Familie, wo er seine letzten Lebensjahre meist zugebracht hatte.

In dem öffentlichen Wirken Lockes, dem ein sanftes Gemüt, große Freundschaftsfähigkeit und warme Religiosität sowie eine aufrichtige Wahrheitsliebe nachgerühmt wird, tritt vor allem sein Kampf für persönliche, wirtschaftliche, religiöse und politische Freiheit hervor. In der Verfassung, die er 1669 für die nordamerikanische Kolonie Südkarolina entwarf, war der Grundgedanke der, daß Religion nicht Sache des Staates sei. Selbst Götzendienern müsse das Staatsbürgerrecht zugestanden werden, nur nicht – Atheisten! Ähnlich äußert er sich in seinen Toleranzbriefen, die zugleich eine Verteidigung des Theismus enthalten. Seine theologische Hauptschrift Von der Vernunftmäßigkeit des Christentums, dargestellt nach der Schrift (1695) faßt das Christentum in erster Linie als Religion der Liebe auf, wie er denn auch mit Quäkern gern verkehrte, häufig in der Bibel las und mit dem frommen Newton öfters theologische Probleme diskutierte.

In politischer Beziehung ist Locke sozusagen der Vater des modernen Liberalismus geworden. Seine beiden Abhandlungen Über die Regierung (1690) waren nach Bayle das Evangelium des Tages. Seine pädagogischen Ansichten legte er in den 1693 erschienenen Gedanken über Erziehung nieder. Seine Aufsätze über das Münzwesen[87] sind als Vorläufer der englischen Nationalökonomie nicht unwichtig.

Lockes philosophisches Hauptwerk ist der schon 1675 begonnene, aber erst 1687 vollendete und erst 1690 vollständig (in vier Bänden) erschienene Essay on human unterstanding. In der Vorrede erzählt der Verfasser, daß eine ergebnislos verlaufene philosophische Disputation mit fünf oder sechs Freunden ihn auf den Gedanken gebracht habe, allen derartigen Spekulationen müsse vorerst einmal eine Untersuchung über den Ursprung und die Grenzen des menschlichen Verstandes vorausgehen. Demgemäß behandelt Buch II des Werkes den Ursprung der Vorstellungen aus der Erfahrung, Buch IV die verschiedenen Arten und die Grenzen der Erkenntnis. Die beiden anderen Bücher, die von der Kritik der angeborenen Ideen (I) und dem Einfluß der Sprache auf das Denken (III) handeln, scheinen erst später hinzugefügt zu sein. Lockes Hauptwerk ist zwar leichtfaßlich und klar, aber – zum Teil wohl infolge der stückweisen, oft unterbrochenen Ausarbeitung – auch recht breit geschrieben. Die Hauptgedanken kann man auch schon aus der kleineren nachgelassenen Schrift On the conduct of unterstanding kennen lernen, die ursprünglich wohl ein Kapitel des größeren Werkes werden und später Vorurteile gegen das letztere zerstreuen sollte, übrigens nicht ganz vollendet worden ist.

Anfangs bekämpft, gewannen Lockes Ansichten bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen immer wachsenden Einfluß, außerhalb Englands namentlich in Frankreich, hier besonders durch Voltaire; sein Einfluß auf die philosophische Denkweise seiner Landsleute ist noch heute zu spüren. Seine sämtlichen Werke sind seit 1714 in England öfters, am vollständigsten 1777 (von Bischof Law), zuletzt 1853 (9 Bände), die philosophischen 1854 und 1877, das Hauptwerk, der Essay, in mustergültiger Ausgabe von A. C. Fraser (Oxford 1894, 2 Bde.) herausgegeben worden. Die neueste und beste der zahlreichen deutschen Übersetzungen des letzteren (darunter auch eine von Schultze bei Reclam) ist die von C. Winckler in der Philos. Bibl. (1911 ff.). Außerdem ist die nachgelassene Schrift von J. B. Meyer in der Philos. Bibliothek (1883), die pädagogische Schrift in der Pädagog. Bibliothek, Leipzig 1872, und sind die politischen von H. Willmanns, Halle 1908, übersetzt worden.[88]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 86-89.
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