§ 17. Lockes Gedanken über Moral, Religion, Staat und Erziehung.

[94] Am Schlüsse seines Hauptwerkes gibt Locke eine Einteilung der Philosophie, die sich ganz an die nacharistotelische anlehnt: 1. Logik oder Semeiotik (Lehre von den Zeichen), 2. Naturphilosophie, 3. praktische oder Moralphilosophie. Die erste wird, abgesehen von dem Hauptwerk, in der nachgelassenen Abhandlung behandelt; die Elements of natural philosophy geben eine Beschreibung der wichtigsten Erscheinungen des Universums; mit den Problemen der dritten Gattung beschäftigen sich, außer einzelnen Partien des Hauptwerkes, seine politischen, religionsphilosophischen und pädagogischen Einzelschriften, ohne daß sie systematisch untereinander verbunden wären.

1. Moral und Religion. Seine Abneigung gegen die angeborenen (genauer: eingeborenen, innates) Ideen überträgt Locke auch auf das sittlich-religiöse Gebiet. Zwar wird kein vernünftiger Mensch das Dasein Gottes leugnen, aber »angeboren« ist die Gottesvorstellung dem Menschen nicht: nicht alle Menschen besitzen sie, die meisten denken sehr verschieden darüber. Ebenso gibt es in der Moral zwar ein »natürliches« Gesetz, aber keine angeborenen Grundsätze.

Die Quelle aller Tugend ist die Willensfreiheit, d.h. das Vermögen, Handlungen zu beginnen oder zu unterlassen, fortzusetzen oder zu hemmen. Angeregt werden unsere Handlungen durch ein Unbehagen am gegenwärtigen Zustande, welches nacheinander zur Überlegung, zum Vernunfturteil, zum Entschlüsse führt. Die tiefste Triebfeder unseres Handelns ist der natürliche Glücksdrang des Menschen. Das wahre Glück hat Gott unzertrennlich mit der Tugend verbunden. Zwar können auch Juden, Mohammedaner und Heiden tugendhaft sein, aber dem bloßen Moralgesetz der Vernunft, wie es die Alten aufstellten, fehlt die Autorität des göttlichen Gesetzgebers. Gewiß hätten wir schließlich auch durch das »natürliche Licht« unserer Vernunft zu der Erkenntnis des Sittlichen gelangen können, und die Offenbarung darf nicht das klare Zeugnis der Vernunft beseitigen oder beeinflussen wollen; aber sie gibt uns die Wahrheit mühelos, die wir sonst nur sehr schwer oder gar nicht gefunden hätten. Der Kern von Lockes »vernunftmäßigem« Christentum besteht im Glauben an Jesus als den Erlöser, verbunden[94] mit einem den Lehren des Evangeliums gemäßen Leben. Die Belohnungen und Strafen des Jenseits zählen zu den Haupttriebfedern des sittlichen Handelns. Dessen verpflichtende Kraft sieht Locke in dem Willen Gottes. Von dem grundlegenden göttlichen Gesetze unterscheidet er noch das bürgerliche Gesetz und das Gesetz der öffentlichen Meinung.

2. Politische Philosophie Lockes und seiner Zeit. Das 17. Jahrhundert, das bewegteste in der englischen Geschichte, erzeugt auch die ersten umfangreicheren politischen Theorien iß England. Hobbes haben wir bereits (§ 6) kennen gelernt. Während dieser die schrankenlose Allmacht der Staatsgewalt überhaupt gepredigt hatte, verkündete Filmer (1604-53) das göttliche Recht des patriarchalischen Königtums von den Zeiten Adams her, der die Herrschergewalt von Gott selbst empfangen und sie auf Noah, Abraham usw. vererbt habe; das Königtum sei daher rein von Gottes Gnaden, keinem menschlichen Gesetze unterworfen. Dem waren nicht nur die flammenden Flugschriften des Dichters John Milton (1609-74) mit ihrer dreifachen Forderung der kirchlichen, häuslichen und politischen Freiheit und ihrer begeisterten Verteidigung der Revolution von 1647 entgegengetreten, sondern auch der philosophischere Algernon Sidney (1604-83), unter Karl II. wegen angeblichen Hochverrats enthauptet, hatte in seinen Untersuchungen über die Regierungsform Filmers biblische Beweisführung Schritt für Schritt widerlegt.

Die Bestrebungen der beiden letzteren setzt nun Locke, seinem Charakter und den veränderten Zeitumständen entsprechend in gemilderter Weise, fort. Seine beiden politischen Aufsätze (s. oben S. 87) verfolgen die offen ausgesprochene Absicht, die »glorreiche Revolution« von 1688 vor aller Welt zu verteidigen und den Thron König Wilhelms, des »Wiederherstellers der englischen Freiheit«, zu befestigen. Der erste wendet sich wesentlich gegen Filmers 1680 erschienenen Patriarcha: die Staatsgewalt sei nicht der väterlichen entsprechend, sondern, wie schon Hobbes gelehrt hatte, aus der freien gegenseitigen Übereinkunft entsprungen. Der zweite entwickelt dann Lockes positive Lehre. Die natürlichen Rechte der persönlichen Freiheit und des Eigentums werden durch den Eintritt in den Staat nicht aufgehoben; dieser hat vielmehr nur die Aufgabe, diese Rechte zu sichern und zu schützen. Keiner darf den anderen verletzen, sondern[95] soll in jedem das gleich vernünftige Wesen achten. Zur Sicherung dieser Freiheiten verlangt er Trennung der gesetzgebenden und der ausübenden Gewalt. Die erstgenannte ist die höchste und liegt in letzter Linie in der Hand des gesamten Volkes, das seine rechtmäßigen Vertreter in der von ihm gewählten gesetzgebenden Versammlung findet. Der König steht unter, nicht über dem Gesetz und macht sich durch Mißbrauch seiner Gewalt seiner Würde verlustig. Kurz, wir finden hier die Rechtfertigung des neuen englischen Staatswesens und damit des uns allen bekannten modernen Konstitutionalismus zum erstenmal ausführlich begründet. Unter Lockes liberal-konstitutionellen Ausführungen findet sich übrigens auch eine interessante nationalökonomische Bemerkung eingestreut, die später von Adam Smith und David Ricardo benutzt wurde und einen sozialistischen Anstrich hat: Auf die Frucht seiner Arbeit habe offenbar kein anderer als der Arbeiter Anspruch, zum mindesten solange den anderen noch genug übrig bleibe.

3. Locke ist endlich einer der ersten Philosophen, die sich ausführlicher mit der Erziehungsfrage beschäftigt haben. Freilich sind seine Gedanken über Erziehung keine wissenschaftliche Theorie, sondern mehr eine Anleitung für die Ausbildung eines jungen englischen Gentleman. Die Erziehung soll nichts von außen in den Zögling hineintragen, sondern seine Anlagen naturgemäß entwickeln: Lebendige Anschauung anstatt gelehrten Formelkrams, Abhärtung und Übung des Körpers, Ausbildung des sittlichen Charakters! Das Streben nach dem unmittelbar Nützlichen tritt stark hervor. Die Privaterziehung ist der öffentlichen vorzuziehen! – Noch heute sind diese Erziehungsgrundsätze, wie bekannt, in Lockes Vaterland sehr wirksam; literarisch haben sie namentlich auf Rousseau gewirkt.[96]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 94-97.
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