§ 54. I. Einleitung. – II. Das System:

A. Logik. B. Naturphilosophie.

I. Einleitendes.

[309] 1. Der Entwicklungsgedanke. Die gesamte Wirklichkeit ist Verwirklichung der Vernunft. Diese bedarf jedoch eines Objektes, um zu wirken; sonst bliebe sie bloßes Prinzip, latente Möglichkeit, wie schon Fichte gezeigt hat. Die höhere Natur (= Vernunft) entfaltet sich in der niederen (Welt, Materie) und organisiert sie. Alles in der Welt ist Werden, Entwicklungsprozeß, von dem kleinsten Grashalm bis zum Sonnensystem. Überall neben dem Sein ist: Nicht mehr-, Noch nicht-, Nichtganz-Sein (Negativität). Warum das? Weil nur das Werden wahres Sein, d.h. Leben ist, und nur auf dem Wege der Entwicklung ein Etwas zum wirklichen Dasein gelangen kann. Alles jetzt Vorhandene war schon von Anbeginn der Welt her im Keime vorhanden. Jede Entwicklungsstufe muß ganz durchgemacht werden, daher sind Einseitigkeiten notwendig, z.B. in der Jugend des Menschen, die nur dann vom Übel sind, wenn die Entwicklung durch sie ins Stocken gerät. Je stärker die Einseitigkeit war, desto sicherer Stürzt sie zusammen. Aber sie wirkt auch Gutes, denn sie verwirklicht nicht nur ein bestimmtes, an seiner Stelle notwendiges Entwicklungsmoment, sondern ist zugleich auch ein Sporn, der vorwärts treibt, beispielsweise den Krieg zum Frieden, die Willkür zum Gesetz, die Herrschaftslosigkeit zur Herrschaft. Der Mensch sorge nur dafür, daß das Schwanken zwischen den Extremen aufhöre und die Forderungen der Vernunft immer mehr zur Geltung gelangen. Denn auch in ihr geht das lebendige Werden fort: sie selbst schafft die Gegensätze, die sie dann überwindet. Das ist das Geheimnis der

2. Dialektischen Methode, die zwar schon in Fichtes These – Antithese – Synthese, ja bereits in Kants Trichotomien, deutlicher in Schellings Potenzierungsmethode angelegt erscheint (S. 295, vgl. auch Fr. Schlegel S. 300), Jedoch erst bei Hegel zur vollen und bewußten Durchführung gelangt. Es liegt im Wesen des Geistes, sich selbst zu entzweien, dann aber aus dieser Entzweiung zu seiner ursprünglichen Einheit zurückzukehren. Jeder Begriff muß, da er begrenzt ist, zu seiner eigenen Aufhebung[309] führen, »in sein Gegenteil umschlagen«; so entspringt ein neuer Begriff, aus dessen Verbindung mit dem ersten sodann eine höhere Einheit entsteht, und so fort ins unendliche. Diese vorwärts treibende »Dialektik« ist zugleich der Ausdruck der Selbstentwicklung des Daseins. Auf dem Gipfel der Entwicklung bereitet sich schon die Auflösung vor, wenn auch das Wesentliche beharrt: das Samenkorn in der Pflanze, der ursprüngliche Charakter im Menschen. Nach diesem Triplizitäts-Schema wurden nun von Hegel und den Hegelianern alle menschlichen Begriffe bearbeitet, in dasselbe der ganze Erfahrungsinhalt – mehr oder weniger willkürlich – hineingepreßt: Position, Negation, »Negation der Negation«, so hörte man es damals von allen Kathedern schallen. Denn diese »dialektische« Entwicklung ist nicht bloß eine Eigenschaft der Gedanken, sondern auch der – »Dinge«. Indem wir das Dasein denken, denkt das Dasein in uns. Jede Erscheinung deutet vermöge ihrer Eingegrenztheit notwendigerweise über sich selbst hinaus, ist nur ein Moment in dem großen Zusammenhang und Entwicklungsgang der Dinge oder, in Hegelscher Sprache, in der »Selbsterscheinung des absoluten Geistes«.

3. Ausgangspunkt und Einteilung des Systems. Seit Fichte wird das Hauptanliegen der deutschen Philosophen die Errichtung eines wohlgepanzerten, alles umfassenden Systems. Dieses Streben erreicht in Hegel seinen Höhepunkt. Wie Spinoza, Fichte und namentlich Schelling, geht auch er dabei vom Absoluten aus, aber das Absolute ist für ihn nicht, wie bei Schelling, eine ruhende Einheit, ein totes Sein, »eine Nacht, in der alle Kühe schwarz sind«, sondern Leben, Entwicklung, Geist. Das Absolute, der Grund der Welt ist die Vernunft, selbstverständlich nicht in irgendwelcher konkreten Gestalt, sondern nur als Prinzip, als zeit- und raumlose, von Ewigkeit her vorhandene Idee gedacht. Sie allein existiert immer und wahrhaft, alles Unvernünftige und Begrifflose dagegen nur vorübergehend und scheinbar, als ein Moment in ihrer Verwirklichung. Hegels Philosophie ist also Idealismus, aber unkritischer, spekulativer, absoluter Idealismus.

In der Natur entäußert sich die absolute Vernunft ihres »An sich seins«, im Geiste kehrt sie in sich zurück. Das philosophische Systemmuß sich mithin gliedern in: 1. die Wissenschaft von der Idee an und für sich, oder die Logik, 2. die Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein oder die Naturphilosophie, 3. die Wissenschaft[310] der Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt, oder die Geistesphilosophie. Jeder dieser drei Hauptteile gliedert sich dann nach dem Prinzip der dialektischen Methode wieder in Dreiheiten, diese desgleichen. Das Ganze ist ein kühner Konstruktionsversuch, rein mit den Mitteln der Logik, die zugleich Metaphysik geworden ist, die ganze Welt des Seienden aus dem Wesen des Begriffs herauszuspinnen. Man hat daher Hegels Philosophie wohl auch als Panlogismus bezeichnet.

4. Einleitung in das System (Phänomenologie). Diesem Systeme hat Hegel, ähnlich wie Spinoza in seinem Traktat De emendatione, als Einleitung vorausgeschickt eine Lehre von den Erscheinungsformen (daher Phänomenologie) und Entwicklungsstufen des Bewußtseins (Geistes), von seinen niedersten bis zu seinen höchsten Formen. Freilich will diese Lehre weit mehr sein als eine bloße Propädeutik; sie ist zugleich ein Teil der Philosophie des Geistes. Sie ist notwendig, weil Hegel das Absolute nicht, wie Schelling, mit der »intellektualen Anschauung« des Genies, sondern wissenschaftlich-begrifflich erfassen will. Zu diesem philosophischen Begreifen aber muß das gewöhnliche Denken erst emporgebildet werden, indem es auf seine Widersprüche aufmerksam gemacht wird. Die Darstellung wird um so verwickelter, als neben der Entwicklung des individuellen Geistes zugleich die analoge des Weltgeistes aufgezeigt werden soll, sodaß wir zugleich eine genetische Psychologie, Philosophie und Kulturgeschichte erhalten, deren Fäden leider nur zu häufig ineinander laufen. Die Hauptstufen mit ihren wichtigsten Unterstufen sind: 1. das Bewußtsein: a) sinnliche Gewißheit, b) Wahrnehmung, c) Verstand; 2. das Selbstbewußtsein; 3. die Vernunft: a) die sich selbst und die Natur beobachtende, b) die sich selbst verwirklichende, c) die Individualität; 4. der Geist, d. i. das sittliche Bewußtsein: a) der wahre Geist des Altertums, b) der sich selbst entfremdete der Aufklärung, c) der seiner selbst gewisse oder die Moralität; 5. die Vollendung des Geistes in der Religion: a) natürliche, b) Kunst, c) geoffenbarte; endlich 6. das absolute Wissen des sich in sich selbst und der Geschichte begreifenden Geistes. Die Darstellung dieses absoluten Wissens ist


II. Das System der Philosophie,

das, wie wir oben sahen, in Logik, Natur- und Geistesphilosophie zerfällt.


A. Die Logik oder die Lehre von der »Idee«

[311] (S. 310) gliedert sich ihrerseits wieder in die Lehre: 1. vom Sein, 2. vom Wesen, 3. vom Begriff.

1. Das Sein. Hegel beginnt mit dem »reinen«, d.h. noch ganz inhaltlosen und unbestimmten Sein. Aus diesem werden, auf dem Wege der uns bekannten (S. 309) dialektischen Methode, abgeleitet die ihrerseits in der Regel wiederum dreigeteilten Seinsarten oder -stufen: a) das Werden, das Dasein und das unendliche oder Für-sich-sein (Qualität); b) die reine, bestimmte und unendliche Quantität, in welche die Qualität umschlägt; c) das Maß bezw. Maßlose, in dem Qualität und Quantität sich gegenseitig einen, bezw. aufheben. Das in allem Wechsel der Bestimmungen beharrende »wahrhafte« Sein ist

2. Das Wesen. Dieses scheint a) in sich selbst (»reflektiert«) und erzeugt so die sogenannten Denkgesetze der Identität, des Unterschieds (Verschiedenheit, Gegensatz, Widerspruch) und des zureichenden Grundes. Der Widerspruch ist ebenso notwendig wie die Identität; er ist die Wurzel aller Bewegung und alles Lebens; freilich muß er sich zuletzt auflösen in den Grund und damit in die Existenz eines Dinges. Das Wesen tritt b) in das Dasein hinaus als »Erscheinung«, daraus entspringen dann die scheinbaren Gegensätze von Inhalt und Form (Gesetz), Ganzem und Teilen, Innerem und Äußerem, Ding und Eigenschaften, Grund und Folge, die in Wahrheit nur zwei Momente eines und desselben Wesens sind. Das Wesen offenbart sich c) als Wirklichkeit. Was vernünftig ist, ist wirklich, und umgekehrt. Ihre drei Momente sind die Möglichkeit (des »Zufälligen«), die Wirklichkeit (im engeren Sinne) und die Notwendigkeit, ihre drei Verhältnisse: Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung. Die Einheit des Seins und des Wesens, die Wahrheit der Substanz ist

3. Der Begriff. Alles Einzelne ist nur die Erscheinung eines Allgemeinen, welches seine Momente frei aus sich entwickelt. In diesem umfassenden Sinne versteht Hegel den Begriff. Er ist die Einheit, welche die Teile zu einem Ganzen macht, die das Viele belebt- und durchdringt, wie z.B. das Leben den Organismus, ein bestimmter Gedanke das Kunstwerk, eine sittliche Idee eine Menge von Individuen. Daher ist auch die höchste Erscheinungsform des Begriffs die Idee, in der er sich[312] selbst verwirklicht. Ihr geht vorauf a) der subjektive Begriff mit seinen Formen: Begriff im engeren Sinne, Urteil und Schluß (also den Hauptbegriffen der üblichen elementaren Logik, die aber bei Hegel zugleich metaphysische Bedeutung erhalten), b) der objektive Begriff, der die (nach Hegel hier ebenfalls metaphysisch zu verstehenden) Momente der mechanischen Ordnung, des chemischen Prozesses und der Teleologie durchläuft. Indem letztere als »innere« Zweckmäßigkeit im Sinne Kants gefaßt wird, leitet sie über zum Verständnis der c) Idee, welche ihrerseits sich als Leben, Erkennen und absolute Idee entfaltet, in der letzteren also zu dem Ausgangspunkt des Hegelschen Philosophierens (s. oben I, 3) wieder zurückführt.

Wenn man auch mit der Hegelschen Verquickung von Logik und Metaphysik nicht einverstanden ist, so wird man immerhin die Summe von Geist und Wissen bewundern müssen, in die der Philosoph in seiner Logik und Phänomenologie – von beiden konnten wir hier nur das allgemeinste Schema geben – seine metaphysischen Hirngespinste »hineingeheimnist« hat. Weit weniger Eigentümliches besitzt seine


B. Naturphilosophie,

auf deren Gebiet er sowieso, seiner ganzen Geistesart wie seinem Bildungsgange nach, weniger zu Hause war, so daß er sich in den Einzelheiten stark an Schelling anlehnt. Wie seine beiden Vorgänger, sucht auch er die Natur aus dem Absoluten, d.h. bei ihm aus der Idee, »abzuleiten«. Die Idee entschließt sich, »sich als Natur frei aus sich zu entlassen«. Die Natur ist die Idee in der Form ihres Andersseins. Sie ist als »ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen hervorgeht, aber« – wie Hegel ausdrücklich einschärft – »nicht (!) so, daß die eine aus der anderen natürlich erzeugt würde«, sondern aus »der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee !« Die Tendenz dieser Idee als Natur ist der Fortschritt zur Subjektivität, a) Zunächst nämlich erscheint sie als ein nur äußerlich – durch Raum, Zeit, Bewegung, Schwere und Gravitation – zusammengehaltenes Außereinander (Gebiet der Mechanik); dann b) in ihren besonderen, durch Kohäsion, Elektrizität, chemische Affinität u. a. bestimmten Erscheinungen (Physik); endlich c) in ihrer individuellen Gestalt als Stein, Pflanze und Tier, in der Gestaltung, Assimilation[313] und Reproduktion als den drei Grundformen des animalischen Prozesses (Organik). Der Untergang des Individuums ist eine Folge seiner »Unangemessenheit zur Idee« seiner Gattung. So wird, wie bei Schelling, die ganze Natur rein begrifflich konstruiert; doch sieht Hegel sich genötigt anzuerkennen, daß in der realen Natur stets ein Rest zurückbleibt, welcher der Auflösung in den reinen Begriff unzugänglich bleibt; er nennt sie daher auch das »Reich der Zufälligkeit«.

Im Tier befreit sich ›die Idee‹ von der Angewurzeltheit am Boden, aber erst im Geiste findet sie sich selbst wieder, kehrt sie in sich zurück. Damit kommen wir zum letzten und Hauptteile der Hegelschen Philosophie, der Philosophie des Geistes.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 309-314.
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