§ 62. A. In Deutschland: Die Junghegelianer, Feuerbach.

1. Die Spaltung der Hegelschen Schule.

[364] Die nächste Entwicklung der deutschen Philosophie knüpft sich an das Schicksal der bis zum Tode ihres Urhebers (1831) herrschend gebliebenen Hegelschen Schule. In ihr waren die verschiedensten Elemente vereint; mit der Philosophie ihres Meisters konnte man, wie nicht ohne Grund gesagt wurde, »alles« beweisen. Besonders[364] dunkel hatte sich derselbe, um die von ihm erstrebte Versöhnung von Philosophie und Religion (d.h. Kirche) nicht zu gefährden, über die Annahme eines persönlichen Gottes, die Gottheit Christi und die individuelle Unsterblichkeit geäußert. Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß, einem Tübinger Hegelianer, 1835/36 brachte die bisher mehr versteckten Gegensätze innerhalb der Schule zum offenen Ausbruch. Dies Buch, welches die evangelische Geschichte zum größten Teile in Mythen auflöste, den historischen Christus als die reell gewordene Idee der Menschheit, Gott pantheistisch als das Unendliche, die Unsterblichkeit als bloße Erhebung zur Idee auffaßte, platzte wie eine Bombe in die von religiösen Problemen erfüllte Zeit. Es spaltete die Hegelsche Schule, nach dem zuerst von Strauß gebrauchten, später oft wiederholten Vergleiche, in eine Rechte und eine Linke. Jene, auch die Partei der Althegelianer genannt, neigte religiös der Kirchenlehre, politisch dem Konservatismus zu; die Namen ihrer Vertreter haben heute keine Bedeutung mehr für uns. Andere, die eine mehr vermittelnde Stellung einnahmen, auch wohl als »Zentrum« bezeichnet, haben sich allmählich von den Hegelschen Konstruktionen abgewandt und sich entweder als Historiker der Philosophie wie J. E. Erdmann (1805 – 92, von 1836 bis zu seinem Tod Professor in Halle), Eduard Zeller (1814 – 1908), Schwegler (1819 – 57) und Kuno Fischer (1824 – 1907), oder auf anderen Spezialgebieten einen Namen erworben: so die Ästhetiker Schasler (1819 – 1903) und F. Th. Vischer (1807 – 87, Ästhetik, 3 Bde. 1846 – 57), der liberale Rechtsphilosoph Gans (1798 – 1839), der Herausgeber Kants und Biograph Hegels Karl Rosenkranz (1805 – 79), ferner die liberalen Theologen Biedermann, Daub, Marheineke, O. Pfleiderer (§ 78, 7), Vatke und Baur, der Begründer der sogenannten Tübinger Schule und ihrer Evangelienkritik, mit seinen Schülern Hilgenfeld (Jena) und Köstlin. Als unentwegter Anhänger bis an sein spätes Ende, ist Meister Hegel wohl nur der Berliner Michelet (1801 – 93, von 1829 – 93 außerordentlicher Professor daselbst) treu geblieben, der noch 1870 eine Schrift: Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph in die Welt sandte.


2. Die Junghegelianer.

  • Literatur: D. Koigen, Zur Geschichte und Sozialphilosophie des Junghegelianismus, Bern 1901. Vgl. auch die Literatur zu § 74 (Marxismus). – Über D. F. Strauß vgl. die kurze populäre Biographie[365] seines Freundes E. Zeller (D. F. Strauß in seinem Leben und seinen Schriften geschildert 1874), der auch Strauß' Gesammelte Schriften (12 Bde., Bonn 1876 – 81) und Ausgewählte Briefe (Bonn 1895) herausgegeben hat; ferner das ältere Werk des liberalen Heidelberger Theologen A. Hausrath, D. Fr. Strauß und die Theologie seiner Zeit, 2 Bde., 1876 – 78, und die umfangreiche neuere Biographie von Theobald Ziegler, 2 Bde., 1908 f. Vgl. auch das 5. Kapitel von H. Maier, An der Grenze der Philosophie (Tüb. 1909).

Von weit größerer und unmittelbarerer Bedeutung für die nächste Entwicklung der religiösen und politischen Philosophie und des geistigen Lebens überhaupt wurde die Linke oder die Junghegelianer, die ihr Organ in Arnold Ruges Hallischen (1838), später (1841) Deutschen Jahrbüchern (1843 verboten) fanden und zu immer stärkerem Radikalismus übergingen. Sie vertraten den Satz, daß der wahre Kern der Hegelschen Lehre nicht in dem System, sondern in der dialektischen Methode der Entwicklung liege, die zur Negation des Bestehenden treibe, das notwendig »mit der Zeit« unvernünftig werde und sich in sein Gegenteil verwandele. Zu diesen Junghegelianern gehören vor allem D. F. Strauß, die Brüder Bruno und Edgar Bauer, Ludwig Feuerbach, diese vorherrschend auf religiösem Gebiete; ferner A. Ruge, Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, diese vorzugsweise auf politischem Gebiet. Von den drei letztgenannten wird später (§ 74) noch besonders gehandelt werden.

Von den ersteren hat philosophische Bedeutung im strengeren Sinne eigentlich nur Feuerbach. Strauß (1808 – 74) gehört durch seine oben bereits kurz gekennzeichnete Hauptleistung, die er in der Christlichen Glaubenslehre (2 Bde. 1840 – 41) zu einer Kritik der gesamten christlichen Dogmatik erweiterte, weniger der Geschichte der Philosophie als der Theologie, außerdem der allgemeinen Literatur (Ulrich von Hutten 1858 – 60, Voltaire 1870 – 71) an. Auf seinen materialistischen Ausgang wird im folgenden Kapitel noch zurückzukommen sein. Auch Bruno Bauer (1809 – 82), der anfangs der »Rechten« angehörte, dann aber zu dem rein negierenden Standpunkt der »reinen oder absoluten Kritik« oder des »unendlichen Selbstbewußtseins« überging, und sein noch radikalerer, aber auch unbedeutenderer Bruder Edgar (1820 – 86) sind zwar interessante Zeiterscheinungen, aber ohne tiefere Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie; übrigens sind beide später in reaktionäres bezw. kirchlich – orthodoxes[366] Fahrwasser geraten. Der ihrem Kreise (der Berliner »Freien«) angehörende, aber weit über sie hinausgehende Max Stirner ist als Vertreter eines extremen Individualismus ebenfalls später noch besonders zu betrachten.


3. Feuerbach.

  • Literatur: C. N. Starcke, L. Feuerbach, 1885. W. Bolin, L. Feuerbach, sein Wirken und seine Zeitgenossen, 1891. F. Jodl, L. Feuerbach (Frommanns Klassiker der Philosophie XVII), 1904. Vgl. auch die kleine Schrift von Fr. Engels, L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (mit Anhang von K. Marx) 1888. – Neuaufgabe (›Säkularausgabe‹) von Feuerbachs Sämtlichen Werken in 10 Bänden durch W. Bolin und F. Jodl, 1903 ff. Einen wertvollen Beitrag für Kenntnis seiner Persönlichkeit liefern die ›Ausgewählten Briefe von und an Ludwig Feuerbach‹, mit biographischer Einleitung herausgegeben von W. Bolin, 2 Bde., 1904.

a) Leben und Schriften. Ludwig Feuerbach, geb. 1804 zu Landshut als Sohn des berühmten Kriminalisten Anselm Feuerbach, Oheim des gleichnamigen Malers, zog sich nach kurzer Dozententätigkeit in Erlangen 1836 aufs Land zurück und starb, einsam und verlassen, in bedrängten Verhältnissen 1872. Seinen philosophischen Entwicklungsgang hat er selbst einmal in die Worte zusammengefaßt: Mein erster Gedanke war Gott, mein zweiter die Vernunft, mein dritter und letzter der Mensch. Seine lateinische Habilitationsschrift Über die eine universale unendliche Vernunft (1828) atmet noch ganz den Geist Hegels, den er seinen »zweiten Vater« nannte. Allein schon seine 1830 (anonym) erschienenen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit haben mit dem Glauben an eine persönliche Unsterblichkeit gebrochen und predigen einen naturalistischen Pantheismus. Und seine Geschichte der neueren Philosophie von Baco bis Spinoza (1833), die den letzteren preist, wie noch mehr sein Pierre Bayle (1838) richten bereits scharfe Angriffe gegen die Theologie, bis endlich in seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums (1841) sein eigentlicher Standpunkt unverhüllt hervortrat.

b) Religionsphilosophie. Danach sind Philosophie, das Erzeugnis des Denkens, und Religion, das Erzeugnis des Gemüts, unvereinbar. Religion muß in Anthropologie aufgelöst werden. Homo homini Deus est, d.h. der Mensch erzeugt selbst den Begriff Gottes aus dem Bedürfnisse des eigenen Herzens, das die Schranken der Vernunft sprengt. Er erweitert in ihr sein eigenes Wesen, über das er nicht hinaus kann, ins Unendliche[367] und stellt es sich dann als Gottheit gegenüber, um es zu verehren. Die Götter eines Volkes sind seine Ideale, die je nachdem das Höchste und Erhabenste oder auch das Unsinnigste und Verkehrteste enthalten. So ist auch im Christentum (unter dem F. nicht das »komfortable, epikureische«, durch Wissenschaft und Leben beeinflußte Christentum der modernen Welt, sondern das ursprüngliche, »klassische« Christentum des Herzens versteht) die »Liebe Gottes« im Grunde nur die unendliche Liebe des Menschen, die ihre höchste Bewährung im Leiden findet; und ebenso wird in Gott die vollendete Persönlichkeit, Weisheit, Würde und Stärke des Menschen gedacht. Im Vergleich mit der Fülle dieses Menschlich-Göttlichen fühlt sich natürlicherweise der Einzelmensch arm und elend, ohne zu bedenken, daß er damit nur seine eigenen Eigenschaften und Wünsche ins Unendliche gesteigert hat. Indem Feuerbach von diesem Gesichtspunkt aus alle wichtigeren christlichen Dogmen nacheinander durchgeht, will er keineswegs alle Religion negieren, sondern sie nur kritisieren, auf ihr wahres Wesen zurückzuführen. Ja, er will im Gegenteil »dem Gemeinen«, selbst dem Essen und Trinken, »ungemeine Bedeutung, dem Leben als solchem überhaupt religiöse Bedeutung abgewinnen«. »Heilig sei uns darum das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser! Amen.« (Schluß des Hauptwerkes).

c) Sensualismus. In der Folge ging Feuerbach auf diesem Wege weiter fort zu einem erklärten Sensualismus. In seinen Grundzügen der Philosophie der Zukunft (1843) erklärt er: »Sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur, wo Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit«. Freilich nicht die »pöbelhaften, rohen«, sondern die »gebildeten« Sinne sind gemeint, die Augen nicht des Anatomen oder des Chemikers, sondern die des Philosophen! Den einzigen Gegenstand der Philosophie bildet der Mensch und »seine Basis«, die Natur; Universalwissenschaft ist die Anthropologie einschl. Physiologie. Indem Feuerbach nun dem Studium der letzteren immer eifriger sich widmet, gelangt er in einer begeisterten Besprechung (1850) einer Schrift Moleschotts (s. § 65) zu dem berüchtigten Satze: »Der Mensch ist, was er ißt«, zu dessen gerechter Beurteilung man ihn im Zusammenhange lesen muß. Unmittelbar vorher gehen die Sätze: »Die Lehre von den Nahrungsmitteln ist von großer ethischer und[368] politischer Bedeutung. Die Speisen werden zu Blut, das Blut zu Herz und Hirn, zu Gedanken- und Gesinnungsstoff. Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesittung. Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen«. Völlig dem Materialismus, dem allerdings solche Sätze sehr nahe stehen, sich hinzugeben, hinderte Feuerbach, wie er auch selbst bekannt hat, sein Grundstandpunkt: das Ausgehen nicht von der Materie, sondern der unkorrigierbaren und unverlierbaren Empfindung.

d) Ethik. Dieser Sensualismus macht sich auch in seiner eudämonistischen Ethik geltend. Der wahre und ursprüngliche Grund des Wollens, also auch der Ethik, ist der Glückseligkeitstrieb. Sittlichkeit ohne Glückseligkeit ist ein Wort ohne Sinn; freilich nicht bloß die Glückseligkeit des Ich allein, sondern die des Ich und des Du. Der erste kategorische Imperativ ist die Stimme des Gefühls. Nicht Entsagung gebietet die Pflicht, sondern den Genuß. »Folge unverzagt deinen Neigungen und Trieben, aber allen: dann wirst du keinem einzigen zum Opfer fallen.« Freilich oft genug – wie Feuerbach an sich selbst bitter genug erfahren hat – geht der Weg zu diesem Epikureismus des Genusses nur durch den Stoizismus der Arbeit und der Entsagung.

e) Wirkung Feuerbachs. Was Feuerbach fehlt, ist die Erkenntniskritik. Er bleibt dogmatisch und gefühlsmäßig auch da, wo er ganz naturalistisch auftritt. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb übte sein Hauptwerk zu Anfang der vierziger Jahre einen großen Einfluß auf die gesamte radikale Jugend. »Die Begeisterung war allgemein; wir waren alle momentan Feuerbachianer«, schreibt Engels noch 1886. Aber das Revolutionsjahr 1848 mit seinen Folgen zerstreute bald die lose Gemeinde, die sich um den Einsiedler von Brucksberg (so hieß das Dorf im Ansbachischen, wo er lebte) gesammelt hatte. Als seinen Schüler kann man wohl nur den früh verstorbenen L. Knapp (1821 – 58) bezeichnen, dessen System der Rechtsphilosophie (1857) die ziemlich unfertige, rein individualistische Ethik Feuerbachs durch das Prinzip der Gesellschaft und des Gattungsinteresses ergänzt und mit dem französischen und englischen Positivismus verbindet. Von späteren Denkern stehen ihm am nächsten W. Bolin (geb. 1835, in Helsingfors) und Friedrich Jodl (in Wien). Auch auf Gottfried Keller hat er eingewirkt.[369]

Wichtiger sind die allgemeinen Nachwirkungen der Feuerbachschen Philosophie, die sich nach verschiedenen Seiten hin erstrecken: 1. Sein anthropozentrischer Individualismus wird übertrumpft durch den reinen Egoismus von Max Stirner (§ 75). 2. Sein sensualistischer Materialismus setzt sich in dem reinen Materialismus der 50er Jahre von Moleschott, Büchner u. a. (§ 65) fort. 3. Seine Umstülpung des Hegelianismus wird weitergeführt in dem »historischen Materialismus« von Marx-Engels (§ 74). Feuerbachs Hauptverdienst gegenüber der Hegelschen Spekulation, das ihn zum Urheber des deutschen Positivismus stempelt, besteht darin, daß er energisch die Losung ausgab: »Begnüge dich mit der gegebenen Welt!« Diese Forderung hatte, ungefähr zur selben Zeit und unabhängig von ihm, auch in den beiden großen westlichen Nachbarländern hervorragende Vertreter gefunden.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 364-370.
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