§ 71. Rückkehr zu Kant. F. A. Lange.

1. Zurück auf Kant.

[419] Der Materialismus der 50er Jahre, der als begreifliche Reaktionserscheinung auf den spekulativen Rausch der romantischen Philosophie gefolgt war, konnte mit den Waffen des theologisierenden »Idealismus«, richtiger Spiritualismus (§ 66), welcher der materialistischen Behauptung einfach die spiritualistische Gegenbehauptung entgegensetzte, nicht überwunden werden. Aber auch die metaphysischen Systembildungen auf naturwissenschaftlicher Grundlage, von denen üb rigens zunächst bloß die beiden älteren (Fechner und Lotze) in Betracht kamen, krankten an verschiedenen Schwächen, Und die Entwicklungsphilosophie führte doch nur einen, wenn auch noch so wichtigen, philosophischen Gedanken aus. Allen diesen Richtungen aber mangelte – wenn auch in verschieden starkem Maße – die notwendigste methodische Voraussetzung fruchtbaren Philosophierens: die erkenntnistheoretische Besinnung. Der offensichtliche Zusammenbruch der spekulativen Systeme eines Fichte, Schelling, Hegel bewies, daß es an der Zeit war, auf die schlichten Grundsätze ernster Wissenschaft zurückzugehen, die achtzig Jahre zuvor von Immanuel Kant verkündet und zu ihrem eigenen Schaden von der nachfolgenden philosophischen Entwicklung vernachlässigt worden waren. Von den verschiedensten Seiten erhob sich daher Ende der 50er und anfangs der 60er Jahre der Ruf: Zurück auf Kant! Frühere Anhänger Hegels wie Eduard Zeller, Herbartianer wie Drobisch, der scharfe Kritiker Hegels Rudolf Haym (in Halle, 1821 bis 1901), und der Fries nahe stehende Jürgen Bona Meyer (in Bonn, 1829-1897) waren einig in dieser Losung. Naturforscher wie Helmholtz und Zöllner fingen an, sich auf[419] Kant zu berufen. Schopenhauer, der gerade jetzt berühmt zu werden begann, wies auf ihn als den einzig wahren unter den – vorschopenhauerschen Philosophen und auf die Kritik der reinen Vernunft als das Werk hin, das man erst gelesen haben müsse, ehe man ihn (Schopenhauer) verstehen könne. Auch die ausführliche Darstellung der Kantischen Lehre in Kuno Fischers Geschichte der neueren Philosophie (1860ff.) mag manchen Leser zu erneutem Kantstudium veranlaßt haben. Otto Liebmann gab dieser philosophischen Tendenz der Zeit besonders energischen Ausdruck, indem er in seinem Buche Kant und die Epigonen (1865, im Auftrage der Kantgesellschaft neu herausg. von Br. Bauch 1912) jedes Kapitel mit dem Refrain schloß: Also muß auf Kant zurückgegangen werden! Dasjenige Buch jedoch, das den Sieg der neukantischen Bewegung am durchschlagendsten bezeichnet und zugleich den naturwissenschaftlichen Materialismus am erfolgreichsten überwunden hat, war die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart von F. A. Lange (1866, 2. Aufl. 1873/75).


2. Friedrich Albert Lange und Verwandte (H. Vaihinger).

  • Literatur: O. A. Ellissen, F. A. Lange, Eine Lebensbeschreibung. 1891.

a) Leben und Schriften. Lange, 1828 zu Wald bei Solingen als Sohn des späteren Bonner Theologieprofessors J. P. Lange geboren, 1855 Privatdozent in Bonn, 1858 Gymnasiallehrer in Duisburg, schied 1862 während der preußischen Konfliktsperiode aus diesem Amte aus, wurde Handelskammersekretär und Redakteur, ging 1866 nach Winterthur in der Schweiz, wo er eine reiche pädagogische, philosophische und vor allem politische Tätigkeit (in demokratischem Sinne) entfaltete, wurde 1870 Professor in Zürich und 1872 von Kultusminister Falk als Professor der Philosophie an die Universität Marburg berufen, wo er, ein schweres körperliches Leiden mit stoischer Ruhe ertragend, am 21. November 1875 starb. Außer seinem Hauptwerk, der oben genannten Geschichte des Materialismus (in zweiter Auflage vollständig umgearbeitet und stark vermehrt, die neueren Auflagen besorgt und eingeleitet von H. Cohen, 9. Aufl. 1915, seit kurzem auch bei Reclam herausgegeben von seinem Biographen Ellissen), hat er namentlich sozialwissenschaftliche Schriften veröffentlicht: [420] Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, 1866 (5. Aufl. 1894, in ihrer ersten Gestalt neu herausgegeben von F. Mehring, 1910); J. St. Mills Ansichten über die soziale Frage und die angebliche Umwälzung der Sozialwissenschaft durch Carey 1866; vgl. H. Braun, F. A. Lange als Sozialökonom, Diss. Halle 1881. Aus seinem Nachlaß wurde von H. Cohen 1877: Logische Studien, ein Beitrag nur Neubegründung der formalen Logik und der Erkenntnistheorie herausgegeben.

b) Theoretische Grundrichtung. Es war ganz im Sinne des Kantischen Kritizismus, wenn Lange sich einerseits scharf gegen einen spekulativen Dogmatismus wandte, der den schönen Titel des »Idealismus« für sich allein in Anspruch nehmen möchte, während er im Grunde unwissenschaftlicher Spiritualismus ist: und wenn er anderseits den Materialismus insoweit bekämpfte, als dieser sich als allein berechtigtes Prinzip einer systematischen Weltanschauung hinstellt und die letzten Rätsel des Seins zu lösen verspricht, während ihm sein volles Recht als Maxime der naturwissenschaftlichen Einzelforschung nicht verkümmert werden soll. »Der Materialismus ist die erste, die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie«, weil er sich am unmittelbarsten an die Erfahrung, die »Wirklichkeit« anschließt. Er kann und muß deshalb auch der kritischen Gesamtanschauung als wertvoller Bestandteil einverleibt werden. Allein er muß sich seiner Schranken bewußt bleiben. Schon die Physiologie der Sinnesorgane zerstört den naiven Glauben, als ob die Welt schlechthin so wäre, wie wir sie sehen, hören, schmecken und riechen. Als Kants größte Tat betrachtet Lange den Kopernikus-Gedanken, daß »unsere Begriffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unseren Begriffen«. Die Grundlage der gesamten Erfahrung erblickt er mit ihm in den apriorischen Formen unserer Anschauung (Raum und Zeit) und unseres Verstandes (den Kategorien). Er zeigt, wie Materie, Atom, Kraft, Ding usw. nicht Dinge an sich, sondern nichts anderes als unserem eigenen Geiste entsprossene wissenschaftliche Hilfsbegriffe sind. Freilich faßt er das a priori nicht streng erkenntniskritisch auf. Er findet es in letzter Linie begründet in dem »Wesen des erkennenden Subjekts«, in unserer geistig-körperlichen »Organisation«, anstatt in dem methodischen Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit, der in Kants »Grundsätzen«, als den Bedingungen und Grundlagen der Wissenschaft, zum[421] Ausdruck kommt. So haftet seinen Ausführungen noch etwas von psychologischer Analyse an, die nicht im Geiste der transzendentalen Methode liegt.

c) Der Standpunkt des Ideals. Noch mehr scheint sich Lange von Kants Ethik zu entfernen, wenn er »die ganze praktische Philosophie« für den »wandelbaren und vergänglichen Teil der Kantischen Philosophie« erklärt. Die innere Verwandtschaft unseres Philosophen mit dem kritischen Idealismus zeigt sich jedoch auch hier. Allerdings verzweifelt er, im Unterschied von Kant, an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Ethik; er verweist sie vielmehr, zusammen mit Religion und Ästhetik, in das Gebiet der Dichtung. Aber dieser Begriff wird nicht in dem gewöhnlichen, sondern in jenem hohen und umfassenden Sinne genommen, in dem Schiller, dem Lange hier besonders nahe steht, seine philosophischen Gedichte geschrieben hat: als »eine notwendige und aus den innersten Lebenswurzeln der Gattung hervorbrechende Geburt des Geistes«, die »auf die Erzeugung der Einheit, der Harmonie, der vollkommenen Form gerichtet« ist. Es ist der »Standpunkt des Ideals«. den Lange in dem erhebenden Schlußabschnitt seines Hauptwerkes verkündet, des Ideals, in dem die Welt des Seienden mit der Welt der Werte in Verbindung gebracht erscheint, des Ideals, in dessen Reich wir, die »Angst des Irdischen« von uns werfend, aus den Schranken der Zeitlichkeit und der Bedürftigkeit uns zu erheben vermögen, während hinter uns »des Erdenlebens schweres Traumbild sinkt – und sinkt – und sinkt«. Die Ethik verschmilzt auf dieser Höhe des Gedankens mit der Religion und der Ästhetik. Denn der Kern der Religion liegt nicht in gewissen Lehren, sondern in der Erhebung des Gemüts über das Wirkliche, in der Erschaffung einer Heimat der Geister, also eigentlich, wie Lange selbst sagt, in einer – »ästhetischen Erlösung«. Die Form des geistigen Lebens ist es, die über das innerste Wesen des Menschen entscheidet. Und in gewissem Sinne sind auch die religiösen Ideen unvergänglich. Denn »wer will eine Messe von Palestrina widerlegen oder die Madonna Rafaels des Irrtums zeihen?«

Langes ethischer Standpunkt hat ihn endlich auch zu seiner sozialen Stellungnahme geführt. Er stellte sich ungescheut unter das »Banner der großen Idee, die den Egoismus hinwegfegt und menschliche Vollkommenheit in menschlicher Genossenschaft als neues Ziel an die[422] Stelle der rastlosen Arbeit setzt, die allein den persönlichen Vorteil ins Auge faßt«. Wie er sich die nächsten Schritte auf dem Wege zu diesem fernen Ziele dachte, hat er in seiner auch heute noch beherzigenswerten Schrift über die Arbeiterfrage ausgeführt. Seine Grundanschauung ist auch hier eine ethische. Die soziale Frage ist ihm »im wesentlichen eine Frage der geistigen Beschaffenheit der Generation und einer Reform aller Anschauungen und Grundsätze«, ihr Ziel daher die »Besiegung einer falschen Willensrichtung« durch einen Kampf, der »zu gleich in dem Gemüt jedes einzelnen auszufechten ist«. Für die historische Beleuchtung der sozialen Bewegung treten darwinistische Gesichtspunkte (»der Kampf ums Dasein«, »der Kampf um die bevorzugte Stellung«) stark in den Vordergrund.

An den oben erwähnten Satz Langes, daß Materie, Ding an sich, Atom usw. keine wirklichen »Dinge«, sondern nur »Hilfsbegriffe« des menschlichen Denkens sind, knüpft


Hans Vaihinger

(geb. 1852, seit 1884 in Halle), der sich schon in seiner Jugendschrift Hartmann, Dühring und Lange (1876) von Lange stark berührt zeigte, an: in seiner in der Hauptsache schon vor dreiundeinhalb Jahrzehnten von ihm verfaßten Philosophie des Als ob (Berlin 1911, 3. Aufl. 1918, 4. Aufl. im Druck), einem »System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit«. Die Fiktionen haben nach V. eine außerordentlich weittragende Bedeutung als Hilfsbegriffe auf allen Gebieten menschlichen Denkens. Von ihren zwölf Arten seien als die am häufigsten vorkommenden nur die mathematischen, juristischen, ethischen und religiösen genannt. Fiktionen sind z.B. die Begriffe des Atoms, des Unendlichen, der Willensfreiheit, des Dings an sich oder Absoluten; ja auch scheinbar so feststehende wie die der Kategorien, der Kraft, der Materie. Fiktive Methoden sind die der Zerlegung, Zusammenfassung, symbolischen Bezeichnung, abstrakten Verallgemeinerung und unberechtigten Übertragung. Oft kann mit »bewußt falschen« Vorstellungen doch Richtiges erreicht werden, weil die Fiktionen in diesen Fällen nicht bloß nützlich, sondern unentbehrlich sind. Wie in nahezu sämtlichen Wissenschaften, so hat auch in der Geschichte der Philosophie die Fiktion von jeher eine wichtige Rolle gespielt,[423] von Parmenides und Plato bis zu F. A. Lange und Nietzsche; namentlich auch bei Kant, wie Vaihinger durch zahlreiche Beispiele zu beweisen sucht. Weil sich die Fiktion sprachlich besonders häufig in die Form eines »Als ob« kleidet, nennt V. diese Betrachtungsweise, die er als die seine anerkennt, die Philosophie des Als ob. Während man die Fruchtbarkeit dieses Gesichtspunktes von den verschiedensten Standpunkten aus nicht verkennen wird, erhebt V. ihn zu einer besonderen Philosophie, einem idealistischen Positivismus. Positivismus, indem diese Denkweise »entschieden im Gegebenen fußt und entschieden alles leugnet, was darüber hinaus noch etwa auf Grund angeblicher intellektueller oder ethischer Bedürfnisse als ›real‹ angenommen werden mag«; idealistisch, indem sie die aus jenen intellektuellen und ethischen Bedürfnissen entstandenen ›Ideen‹ »anerkennt und herübernimmt als nützliche, wertvolle Fiktionen der Menschheit, ohne deren Annahme das menschliche Denken, Fühlen und Handeln verdorren müßte«. Vaihingers ›Philosophie des Als ob‹ berührt sich, wie er selbst in seinem Vorwort ausführt, mit den verschiedensten Richtungen der Gegenwart, wie dem Voluntarismus Wundts, Paulsens und der Neufichteaner, der biologischen Erkenntnistheorie von Mach und Avenarius, mit Nietzsche und mit dem Pragmatismus und hat daher auch vielfache Beachtung gefunden. Mit Langes ethisch-praktischer, z.B. sozialer, Stellungnahme hat Vaihinger dagegen nichts zu tun. Seit Januar 1919 erscheinen Annalen der Philosophie, die sich die besondere Rücksicht auf die Probleme der »Als-Ob-Betrachtung« zum Ziele gesetzt haben, herausg. von H. Vaihinger und Raymund Schmidt.

Langes ganzes Wesen war überhaupt nicht geeignet, eine »Schule« zu bilden. Als gegenwärtiger Anhänger wäre wohl nur sein Biograph und Herausgeber O. A. Ellissen (geb. 1859, Gymnasialprofessor in Einbeck) zu bezeichnen. Dagegen hat er außerordentlich vielen Anregungen gegeben. In keinem anderen Zusammenhange mit ihm stehen denn auch die im folgenden behandelten Neukantianer (im engeren Sinne), die, gerade was ihren »Kantianismus« angeht, sich wesentlich von ihm unterscheiden.[424]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 419-425.
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