§ 73. Weiterer Einfluß Kants.

[441] Der wieder erwachte Kritizismus hat nicht bloß den Neukantianismus im engeren Sinne ins Leben gerufen, sondern seinen Einfluß auch nach anderen Seiten hin erstreckt. Er hat eine Reihe weiterer Denker im In-und Auslande mehr oder weniger stark beeinflußt, er hat zahlreiche mehr philologische Untersuchungen über Kants Leben und Schriften veranlaßt, er hat endlich auch auf Theologie und Naturwissenschaft bedeutend eingewirkt. Wir geben daher im folgenden eine kurze Übersicht über 1. die Kantphilologie, 2. von Kant beeinflußte Philosophen in Deutschland, 3. den Einfluß des Neukantianismus auf andere Wissenschaften, 4. Kant im Ausland.


1. Kantphilologie.

Zu den »Kantphilologen« zählen wir diejenigen Schriftsteller, die entweder als Herausgeber und Textkritiker einen reineren Kanttext herzustellen sich bemüht, oder Beitrage zur Kenntnis von Kants Leben und Persönlichkeit geliefert, oder sich durch Kommentierung seiner Werke verdient gemacht, oder endlich den Entwicklungsgang des Philosophen und sein historisches Verhältnis zu den Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern ohne eigentlich systematische Absicht in den Bereich ihrer Untersuchung gezogen haben. Da wir bereits in der Einleitung zu unserer Darstellung der Kantischen Philosophie (§ 30) auf diese Literatur hingewiesen haben, so begnügen wir uns hier damit, nochmals die verdientesten dieser »Kantphilologen«: Benno Erdmann (jetzt in Berlin), H. Vaihinger (in Halle). E. Arnoldt (1828 bis 1905) und R. Reicke (†) in Königsberg hervorzuheben, sowie auf die seit 1896 alle kantphilologischen Untersuchungen[441] in ihren Rahmen fassenden Kantstudien (begründet von Vaihinger) hinzuweisen. Daneben brachte schon seit einer längeren Reihe von Jahren die Altpreußische Monatsschrift zahlreiche kantphilologische Beiträge von R. Reicke, Arnoldt, Warda, Schöndörffer und anderen Landsleuten Kants. Von den gesammelten und nachgelassenen Schriften des 1905 verstorbenen Emil Arnoldt sind sieben Bände durch O. Schöndörffer veröffentlicht worden. Endlich seien von den Mitarbeitern an der großen, im Werke begriffenen Akademieausgabe von Kants Werken E. Adickes, M. Heinze († 1909), O. Külpe (†), H. Maier, P. Menzer, P. Natorp, K. Vorländer, W. Windelband (†) und Wobbermin auch hier erwähnt.


2. a) Altkantianer und

b) Kant verwandte Philosophen.

a) Um die Wende des Jahrhunderts traten von neuem Denker hervor, die nicht aus philologischem, sondern aus systematischem Interesse auf den urkundlichen Kant zurückgehen und daher wohl als »Altkantianer« bezeichnet werden könnten. So ist L. Goldschmidt (geb. 1853, Gym.-Prof. in Gotha) in einer Reihe von Schriften – zuletzt Zur Wiedererweckung Kantischer Lehre (1909) – mit großem Nachdruck für erneuertes, eindringendes Kantstudium gegen die moderne Kantkritik Paulsens u.a. eingetreten. Unabhängig von ihm strebt Ernst Marcus (Amtsgerichtsrat in Essen) in seinem Buche: Die exakte Aufdeckung des Fundamentes der Sittlichkeit und Religion und die Konstruktion der Welt aus den Elementen des Kant (Leipzig 1899), »die Kritik der reinen und der praktischen Vernunft zum Range der Naturwissenschaft zu erheben«, und in Kants Revolutionsprinzip (Kopernikanisches Prinzip) (1902), Kants Lehre als eine schlechthin einwandfreie sichere Wissenschaft, ähnlich der Mathematik und Astronomie, »gleichsam einen Euklid der Metaphysik« nachzuweisen. Er bezeichnet sich selbst daher auch als »Präzisionsphilosophen«. Populär-polemisch gehalten ist die kleinere Schrift: Das Erkenntnisproblem oder wie man mit der Radiernadel philosophiert (1905). In seiner Elementarlehre zur Logik und die Grundzüge der transzendentalen Logik (1906) protestiert er übrigens gegen seine Klassifizierung als »orthodoxer«, ja auch als »Altkantianer«, will vielmehr »ein nahezu vollständiges Parallelsystem zu Kants Kritik der reinen und der praktischen Vernunft«[442] geben. Vgl. ferner: Das Gesetz der Vernunft und die ethischen Strömungen der Gegenwart 1907 und: Kants Weltgebäude. Eine gemeinverständliche Darstellung 1917.

b) Ferner sind eine ganze Reihe weiterer Philosophen von Kant, dessen Einfluß sich in den letzten Jahrzehnten überhaupt nur wenige unter den kirchlich unabhängigen Denkern ganz entzogen haben, mehr oder weniger stark beeinflußt worden. Ein jeder dieser Denker würde an sich eine eingehendere Würdigung verdienen. Da sie indes keine einheitliche Methode vertreten, sondern jeder sein individuelles Gepräge trägt, so würde eine solche viel zu weit führen. So müssen wir uns mit wenigen Notizen über ihre Grundrichtung und ihre systematischen Schriften begnügen.

1. Dem Neukantianismus steht von ihnen wohl am nächsten Alois Riehl (geb. 1844, lange in Freiburg i. B. und Halle, jetzt in Berlin), dessen Tendenz am kürzesten durch den Titel seines Hauptwerks: Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft (2 Bände, Leipzig 1876-87, Bd. I in umgearbeiteter 2. Auflage 1908) ausgesprochen wird. Riehl liebt die realistische und erkenntnistheoretische Seite des Kritizismus am stärksten hervor. Nach ihm ist Philosophie nicht Weltanschauungslehre, sondern Kritik der Erkenntnis, die von der Grundtatsache der Empfindung ausgeht. Über die Erfahrungsgrenzen hinausgehende Metaphysik ist als unwissenschaftlich zu verwerfen. Philosophie als Wissenschaft kann nur Philosophie der Wissenschaft sein, d.h. deren Voraussetzungen methodisch ableiten und begründen wollen. Die ethischen und ästhetischen Ideen dagegen wollen Handeln und Leben beurteilen und leiten. Vgl. außerdem die treffliche kleinere Schrift: Philosophie der Gegenwart, 4. Aufl. 1913. Als Anhänger Riehls darf R. Hönigswald (geb. 1875, in Breslau) bezeichnet werden; außer dessen Schrift über Hume (S. 110) vgl. auch seine Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre, 1906; Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik, 1912; Naturphilosophie, 1913. Verwandt ist auch der Standpunkt von O. Ewald (geb. 1881, in Wien) in dessen: Kants kritischer Idealismus als Grundlage von Erkenntnistheorie und Ethik (Berlin 1908).

2. Wilhelm Windelband (1848-1915, zuletzt in Heidelberg), der bekannte Philosophiehistoriker, der von Lotze und K. Fischer ausging, definiert die Philosophie als »die kritische Wissenschaft von den allgemeingültigen[443] Werten«, nämlich: der Wahrheit im Denken, der Gutheit im Wollen und Handeln, der Schönheit im Fühlen. Schon in seinen Beiträgen zu der Lehre vom negativen Urteil (1884) bekannte er sich als Anhänger Kants, formulierte aber zugleich den Satz: Kant verstehen heißt über ihn hinausgehen. Später, z.B. in einer Universitätsrede von 1894, 3. Aufl. 1904) betonte er besonders den prinzipiellen Unterschied zwischen Geschichte und Naturwissenschaft: der Naturforscher denke in verallgemeinernden Abstraktionen, nur der Historiker habe es mit der vollen, individualisierenden Wirklichkeit zu tun. Vgl. auch seine Vorlesungen Über Willensfreiheit, Tübingen, 2. Aufl. 1905, die einführenden Präludien. 1884, 6. Aufl. 2 Bde. 1919 und die Einleitung in die Philosophie 1914.

Diese Gedanken Windelbands hat dann weitergebildet Heinrich Rickert (geb. 1863, in Freiburg, seit 1916 Windelbands Nachfolger in Heidelberg) in seinem größeren Werke Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (2 Bde., 1896-1902, 2. Aufl. 1913), das er als »logische Einleitung in die historischen Wissenschaften« bezeichnet: Die Kultur ist ihm ein System allgemeingültiger Werte (Vom System der Werte 1912). Seine Grundgedanken sind auch schon aus der kürzeren Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (3. Aufl. 1915) zu entnehmen. Die erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Wertphilosophie – er nimmt ein ›transzendentales‹ Bewußtsein an, daher der Nebentitel ›Einführung in die Tranzendentalphilosophie‹ – erklärt Der Gegenstand der Erkenntnis (1892, 3. Aufl. 1915). Rickert nahe steht sein Freiburger Kollege J. Cohn (geb. 1861), dessen Werke in § 78 genannt werden. Auch die von Kroner und Mehlis herausgegebene Zeitschrift Logos vertritt die Tendenzen sogenannten Badischen Schule, der auch Emil Lask (1875-1915), F. Kuntze (Kritische Lehre von der Objektivität), Bruno Bauch (s. S. 445) und H. Leser (geb. 1873, Erlangen) angehören oder nahe stehen. Lask fordert in seiner Logik der Philosophie (Tüb. 1911) eine Ausdehnung des Herrschaftsbereichs der Logik über die gesamte Wertsphäre oder wie er im Anschluß an Lotze sagt, das »Geltungs«-Gebiet. Vgl. auch den Sammelband (I) Logik in Ruge-Windelbands Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, der größere Beiträge von Windelband, Royce und Couturat (S. 496) enthält.

3. Otto Liebmann (in Jena, 1840-1912), der in seiner Jugendschrift (s. oben S. 419) besonders eifrig die Rückkehr[444] zu Kant gefordert hatte, will zwar nicht an den Einzellehren der Kritik der reinen Vernunft, wohl aber an dem »Geist der Transzendentalphilosophie« festhalten, aus der jedoch der Begriff des »Dinges an sich« als ein fremder Tropfen Blutes zu entfernen sei; er erstrebt eine »kritische Metaphysik«. Seine Hauptwerke sind: Zur Analysis der Wirklichkeit (1876, 4. Aufl. 1911) und Gedanken und Tatsachen (1899, 3. Aufl. 1904). Über ihn handelt das umfangreiche, zu seinem 70. Geburtstage herausgegebene Festheft der Kantstudien (XV, 1).

4. In der Ethik hat sich Theodor Lipps (1851-1914, zuletzt in München, Die ethischen Grundfragen, 1899, 3. Aufl. 1912) dem Kantianismus genähert, während er sonst dem Psychologismus (s. unten) näher stand. – Auch Jürgen Bona Meyer (1829-97, in Bonn) lehnte sich an den Kritizismus an, den er im Sinne von Fries (§ 45) psychologisch-empirisch weiterzubilden suchte.

Auch Bruno Bauch, Liebmanns Nachfolger in Jena, (geb. 1877, Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften, 1911 I. Kant, 1917), Edmund König (geb. 1858, in Sonderhausen, Die Entwicklung des Kausalproblems, 1888 bis 1890, Kant und die Naturwissenschaft, 1907), und Fr. Schultze (in Dresden, 1846-1908) stehen dem Kritizismus nahe.


3. Einfluß des Kritizismus auf andere Wissenschaften, besonders Naturwissenschaft und Theologie.

  • Literatur: H. Cohen, Kants Einfluß auf die deutsche Kultur. Marburg 1883. Ders., Krit. Nachtrag usw. (S. 425), 487-502. Einiges auch in Ed. Zeller, Gesch. d. deutschen Philosophie, S. 417-422. K. Post, Johannes Müllers philosophische Anschauungen, Halle 1905. L. Goldschmidt, Kant und Helmholtz, 1899 (hebt vor allem die Unterschiede zwischen beiden hervor). Über Wilhelm von Humboldt s. oben S. 260.

Schon zu Kants Lebzeiten und ebenso in der seinem Wirken unmittelbar folgenden Periode hatte sich der Einfluß des Kritizismus auf die verschiedensten Wissenschaften erstreckt. Männer wie der Sprachphilosoph und Staatsmann Wilhelm von Humboldt, der Philologe Gottfried Hermann, der Historiker Niebuhr, die Rechtsgelehrten Thibaut, Anselm Feuerbach und Hugo, der Oberpräsident von Schön, die Militärs Boyen und Clausewitz und der Begründer der modernen Physiologie, Johannes Müller, haben sich teils geradezu als Kantianer[445] bekannt, teils an Kant angeknüpft. Dazu trat seine breite Einwirkung auf den theologischen Rationalismus, dessen Vertreter freilich, auch in ihren bekannteren Namen wie Stäudlin, Paulus, Gesenius, Wegscheider, »samt und sonders hinter Kants geistreicher Behandlung zurückblieben« (Zeller), aber immerhin einen tiefgreifenden Einfluß auf die allgemeine Bildung ausübten. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich bei der Wiederbelebung des Kantianismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und zwar zeigt sich die Einwirkung des Neukantianismus am stärksten in a) der Theologie und b) der Naturwissenschaft.

a) In der ersteren hat sich namentlich die sogenannte Ritschlsche Schule auf Kantische Gedankengänge gestützt, weniger A. Ritschl selbst (1822-89) als dessen. Schüler W. Herrmann (in Marburg, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, 1879) auch J. Kaftan (Berlin, 1848-1908, Das Wesen der christlichen Religion, 2. Aufl. 1888) ferner M. Reischle (Die Frage nach dem Wesen der Religion, Freib. 1889), neuerdings namentlich E. Troeltsch (Berlin, Philosophische Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Tüb. 1905). Diese Theologen fordern vor allem, unter Berufung auf Kant, reinliche Scheidung zwischen Wissenschaft und Glauben, Ethik und Religion, Naturerkennen und Werturteilen. Die Religion findet ihre wahre Stütze nicht in dogmatischer Metaphysik, sondern in der inneren Erfahrung, im Erleben der Persönlichkeit. Das Evangelium ist wahr, weil es wert ist, wahr zu sein. Wie die Begründung der Wissenschaft, so hat auch die Begründung der Ethik ohne alle Rücksicht auf die Religion zu erfolgen, rein aus dem formalen Selbstzweck der autonomen Persönlichkeit heraus; zu ihrer Entfaltung und persönlichen Aneignung freilich bedarf sie der Religion, wobei dann, namentlich von Kaftan, Kants Lehre vom höchsten Gut herangezogen wird. »Deshalb hat die Fortbildung der Erkenntnismethode der Ethik durch Kant zugleich die Bedeutung einer praktischen Wiederherstellung des Protestantismus« (A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 2. Aufl. I, 431).

Auch R. A. Lipsius (1830-92) berief sich zur Begründung seines religiösen Standpunktes auf Kant, lehnte jedoch nicht mit derselben Schärfe wie die vom Neukantianismus stärker beeinflußten Ritschlianer die religiöse Metaphysik ab.[446]

b) Unter den Naturforschern hat Helmholtz (1821-95) schon Mitte der 50er Jahre und seitdem häufig nicht bloß auf Kants Verdienste um die Naturwissenschaften hingewiesen, sondern auch die von Joh. Müller begründete Lehre von den spezifischen Energien der Sinnesorgane ausdrücklich an den Kritizismus angeknüpft. An Kant ist ihm ferner »die fortlaufende Predigt gegen den Gebrauch der Kategorien des Denkens über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus« sympathisch, und mit ihm erkennt er ferner den Apriorismus des Kausalgesetzes an, welches »das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Naturerscheinungen ausspricht«. Dagegen behauptet er, daß die Axiome der Geometrie nicht, wie bei Kant, transzendentale Sätze a priori, sondern bloß empirische Sätze seien.

Auch der Astronom Zöllner (1834-82) hat sich in seinem Buche Über die Natur der Kometen, Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis, Leipzig 1872, vielfach auf Kant berufen, ging jedoch später zum Spiritismus über, für den Du Prel seltsamerweise auch Kant in Anspruch genommen hat.

Desgleichen sind von bereits früher erwähnten philosophierenden Naturforschern Apelt (S. 268), Schleiden (S. 386), Elsas (S. 406) und F. A. Müller (ebenda), außerdem A. Classen und Ad. Fick (in Würzburg, 1829 bis 1901) vom Kritizismus, die beiden früh verstorbenen mittleren speziell vom Neukantianismus Cohens, beeinflußt. Von denjenigen Naturforschern, die das Bedürfnis einer philosophischen Begründung ihres Standpunktes empfinden, hat besonders klar und entschieden der der Wissenschaft zu früh entrissene Heinrich Hertz (1857 bis 1894, Schüler von Helmholtz, zuletzt in Bonn) in seinen Prinzipien der Mechanik (1894) seinen Anschluß an Kants erkenntniskritische Methode ausgesprochen.

c) Auf die seit etwa 1898 hervorgetretene neukantische Bewegung im Sozialismus werden wir im nächsten Paragraphen zu sprechen kommen.


4. Kant im Ausland.

  • Literatur: Wir beschränken uns im folgenden auf eine kurze Übersicht, indem wir bezüglich Spaniens, Nordamerikas, Hollands und Schwedens auf die ausführlichen Berichte in Kantstudien I, II, III, VI und VIII, bezüglich der übrigen Länder auf Ueberweg, Band IV – besonders § 66 (Frankreich), § 75 (England), § 91 (Italien) – verweisen. In Kantstudien II und III finden sich außerdem[447] kurze Notizen über belgische, russische, portugiesische, rumänische und – japanische Kantliteratur.

Die um 1860 in Deutschland einsetzende Kantbewegung hatte Parallelerscheinungen in den außerdeutschen Ländern im Gefolge.

a) In Frankreich lehnte sich an Kant namentlich Renouvier (1818-1903) und seine Schule an, freilich nicht, ohne ihn verschiedentlich umzubilden. Endlichkeit ist ihm der Charakter alles Seins. Das Gesetz der bestimmten Anzahl bestimmt den Begriff des Seins und scheidet ihn von den Willkürlichkeiten der subjektiven Vorstellung. Renouviers Hauptwerk sind die umfangreichen Essais de critique générale, 4 Bde. 1854-64, 2. Aufl. 1875-96. Er gab 1872-89 die Zeitschrift La critique philosophique heraus, an deren Stelle seit 1890 das Jahrbuch L'Année philosophique seines Schülers Pillon getreten ist. Auch der als Lehrer an der Ecole normale besonders einflußreiche Lachelier (1832-1918) ging ursprünglich von Kant aus, später aber zu einer idealistischen Metaphysik über, die sein Schüler Boutroux (1845-1918), Prof. an der Sorbonne, zu einer Philosophie der Freiheit ausgebildet hat. Ins Deutsche übersetzt ist des letzteren Schrift Über den Begriff des Naturgesetzes. Neuerdings suchte man den Kantianismus sogar mit »katholischer« Philosophie zu verbinden; vgl. den ausführlichen Bericht von A. Leclère, Le mouvement catholique Kantien en France à l'heure présente, Kantstudien VII, 300-363. Zur Einführung in das Studium des kritischen Philosophen ist die Darstellung von Ruyssen (Kant, Paris 1900) bestimmt, der auch die neuere französische Philosophie in Ueberweg IV übersichtlich dargestellt hat.

b) In England hatte schon Hamiltons (1788-1856) und seines Anhängers Mansel (1820-71) Lehre von der Relativität der menschlichen Erkenntnis eine gewisse Verwandtschaft mit dem Kritizismus gezeigt. Eingehender hat man sich mit Kant jedoch erst beschäftigt, seit der durch den deutschen Neukantianismus angeregte E. Caird (1835 bis 1908) seine kritische Darstellung der Kantischen Philosophie (1877, erweitert als: The Critical Philosophy of Immanuel Kant, 2 Bde., 1889) erscheinen ließ. Der »kritische Idealismus« von Green und seiner Schule ist mehr ein im Gegensatz zu dem Empirismus und der Assoziationspsychologie entstandener Idealismus schlechtweg.

Auch in Nordamerika wird Kant neuerdings fleißig studiert.[448]

c) In Italien war Kant den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führenden Sensualisten und »Ontologisten« teils kaum bekannt, teils wurde er von ihnen bekämpft. Umsonst versuchte dann Testa (1784-1860) in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens dem damals übermächtigen Hegelianismus die Kantische Lehre entgegenzustellen. Dagegen begann mit den 70er Jahren, der damaligen politischen Annäherung Italiens an das Deutsche Reich folgend, der Neukantianismus auch in Italien einzudringen. Seine Hauptvertreter waren Cantoni (Pavia, 1840-1906), der eine dreibändige Darstellung der Kantischen Philosophie (Emanuele Kant, Milano 1879 bis 84) veröffentlichte und die in kritizistischem Sinne geleitete Rivista filosofica herausgab, und F. Tocco (1845 bis 1911, Florenz), der auch eine Monographie über Cohen (s. oben S. 424) geschrieben hat. Auch in Rom, Mailand, Neapel und Pavia wirken nach dem Berichte Credaros (Ueberweg IV, § 91) Lehrer der Philosophie, die dem Neukantianismus nahe stehen.

d) Auch in Rußland wurde Kant der Gegenstand zahlreicher Schriften, über die A. Wwedenskij (in Petersburg), der Hauptvertreter dieser Richtung, in den Kantstudien II, 349-352 berichtet hat. Der neukantischen Richtung huldigte der Moskauer Professor Fürst Trubetzkoi († 1905); auch ein Teil der russischen Sozialisten neigte der letzteren zu, während andere sich an Mach anschlossen. – In Polen, wo um die Wende des 19. Jahrhunderts der Altkantianismus verschiedene Vertreter fand, vertreten neuerdings einzelne Gelehrte einen positivistisch angehauchten Kritizismus. Stärker lehnt sich der Böhme F. Mares (geb. 1857, in Prag) in Erfahrungslehre und Ethik an Kantische Prinzipien an. – In Ungarn, wo ebenfalls 1795-1830 Kantische Philosophie, namentlich Ethik und Religionsphilosophie, gelehrt wurde, machte sich seit 1875 aufs neue eine Art Kantbewegung bemerkbar. 1887 sind Kants Prolegomena, 1892 die Kritik der reinen Vernunft in ungarischer Übersetzung erschienen.

e) Ähnliche Erscheinungen weisen die skandinavischen Länder auf. In Schweden zeigten sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts Boëthius (1750-1810) und Höijer (1767-1812) von Kant beeinflußt, während der spätere rationale Idealismus des lange Zeit einflußreichsten schwedischen Philosophen Boström (1797-1866, Upsala) nur gewisse Grundgedanken mit Kant gemein hat. Von[449] neueren, stehen dem Kritizismus nahe A. Vannérus (geb. 1862), der eine Erneuerung der schwedischen Philosophie im Sinne Kantischer Erkenntniskritik fordert und meint, daß »auch hier Kant sicherlich die Zukunft für sich habe« (Kantstudien VI, 268 f.) und A. Hägerström (geb. 1868, Upsala). – Der verstärkte Einfluß Kants zeigt sich seit Ende der 70er Jahre auch bei verschiedenen Philosophen Dänemarks (Heegaard, Kromann, Wilkens) und Norwegens (Vold).

f) Auch in Holland, das ebenfalls schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Kantianer zählte, hat der Neukantianismus neuerdings vereinzelte Vertreter, wie den Theologen Groenewegen (Leyden), den Juristen J. A. Levy und vor allem Ovink (Utrecht), gefunden. B. van Loen gab eine holländische Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena heraus. Der angesehenste unter den holländischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Opzoomer (1821-92), war ein geistreicher Eklektiker. In Belgien hielt Dwelshauvers Vorlesungen über Kant an der »freien Universität« zu Brüssel.

g) Selbst auf der Pyrenäischen Halbinsel ist Kant nicht unbekannt. Freilich kann man von einer »Kantbewegung« in Spanien nicht reden. Bis zu der von einem Kubaner Perojo, der 1873-75 in Heidelberg studierte, verfaßten Übersetzung eines Teiles der Kritik der reinen Vernunft (der »transzendentalen Analytik«) kannte man den deutschen Philosophen überhaupt nur aus französischen Übersetzungen oder Übertragungen aus dem Französischen. Dagegen haben sich neuerdings mehrere jüngere spanische Gelehrte, die in Marburg studierten, wie Professor Ortega, dem Neukantianismus angeschlossen. – In Portugal wurde er (nach Kantst. III, 480) um 1900 durch den Rechtsphilosophen Ferreira vertreten, neuerdings ebenfalls durch mehrere Neukantianer.

h) Endlich ist Kant auch in den fernsten Osten gedrungen. In Japan veröffentlichte Professor Kiyono 1896 den ersten Band eines – Kommentars zu Kants Kritik der reinen Vernunft, und während des Weltkrieges haben die Professoren Hatano und Miyamoto Kants Kritik der praktischen Vernunft herausgegeben![450]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 441-451.
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