Aus dem Vorwort zur ersten Auflage.

[4] Man wird diese Arbeit nicht mit den Kompendien verwechseln, wozu wohl sonst Kollegienhefte über die allgemeine Geschichte der Philosophie ausstaffiert worden sind: was ich biete, ist ein ernsthaftes Lehrbuch, welches die Entwicklung der Ideen der europäischen Philosophie in übersichtlicher und gedrängter Darstellung schildern soll, um zu zeigen, durch welche Denkantriebe im Laufe der geschichtlichen Bewegung die Prinzipien zum Bewußtsein gebracht und herangebildet worden sind, nach denen wir heute Welt und Menschenleben wissenschaftlich begreifen und beurteilen.

Dieser Zweck hat die gesamte Gestaltung meines Buches bestimmt. Die literarhistorische Grundlage der Forschung mußte deshalb auf eine Auswahl beschränkt werden, welche dem weiter arbeitenden Leser die Wege zu den besten Quellen eröffnet. Auch auf die eigenen Darlegungen der Philosophen wurde wesentlich nur da verwiesen, wo sie dauernd wertvolle Formulierungen und Begründungen der Gedanken darbieten, und daneben nur hie und da dasjenige angeführt, worauf sich eine von der üblichen abweichende Auffassung des Verfassers stützt.

Den Schwerpunkt legte ich, wie schon in der äußeren Form zu Tage tritt, auf die Entwicklung desjenigen, was im philosophischen Betracht das Wichtigste ist: die Geschichte der Probleme und der Begriffe. Diese als ein zusammenhangendes und überall ineinander greifendes Ganzes zu verstehen, ist meine hauptsächliche Absicht gewesen. Die historische Verflechtung der verschiedenen Gedankengänge, aus denen unsere Welt- und Lebensansicht erwachsen ist, bildet den eigentlichsten Gegenstand meiner Arbeit: und ich bin überzeugt, daß diese Aufgabe nicht durch eine begriffliche Konstruktion, sondern nur durch eine allseitige, vorurteilslose Durchforschung der Tatsachen zu lösen ist. Wenn aber dabei – schon der räumlichen Oekonomie nach – dem Altertum ein verhältnismäßig großer Teil des Ganzen gewidmet erscheint, so beruht das auf der Ueberzeugung, daß für ein historisches Verständnis unseres intellektuellen Daseins die Ausschmiedung der Begriffe, welche der griechische Geist dem Wirklichen in Natur und Menschenleben abgerungen hat, wichtiger ist als alles, was seitdem – die kantische Philosophie ausgenommen – gedacht worden ist.[4]

Die so gestellte Aufgabe verlangte jedoch einen Verzicht, den niemand mehr bedauern kann, als ich selbst: die rein sachliche Behandlung der historischen Bewegung der Philosophie erlaubte nicht, die Persönlichkeit der Philosophen zu eindrucksvoller Geltung zu bringen. Diese konnte nur da berührt werden, wo sie als kausales Moment in der Verknüpfung und Umgestaltung der Ideen wirksam wird. Der ästhetische Zauber, welcher dem individuellen Eigenwesen der großen Träger jener Bewegung innewohnt, und welcher dem akademischen Vortrage wie der breiteren Darstellung der Geschichte der Philosophie einen besonderen Reiz verleiht, mußte hier zugunsten des Einblicks in die pragmatische Notwendigkeit des geistigen Geschehens preisgegeben werden.


Straßburg, November 1891.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. IV4-V5.
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