§ 7. Das Problem der Sittlichkeit.

  • [59] Literatur: MAX WUNDT, Geschichte der griech. Ethik (Leipz. 1908 ff.).

Wie schon die Reflexionen der Gnomiker und die Sentenzen der sog. sieben Weisen zu ihrem Mittelpunkte die Mahnung zum Maßhalten hatten, so richten sich auch die pessimistischen Klagen, denen wir bei Dichtern, Philosophen und Moralisten des 5. Jahrhunderts begegnen, am meisten gegen die Zügellosigkeit der Menschen, den Mangel an Zucht und Gesetzlichkeit. Ernstere Geister durchschauten die Gefahr, welche das leidenschaftliche Aufschäumen des öffentlichen Lebens mit sich brachte, und die politische Erfahrung, daß der Parteikampf nur da sittlich erträglich ist, wo die gesetzliche Ordnung unangetastet bleibt, ließ die Beugung unter das Gesetz als oberste Pflicht erscheinen. Heraklit und die Pythagoreer haben dies mit voller Klarheit ausgesprochen und an die Grundbegriffe ihrer metaphysischen Theorie anzuknüpfen gewußt153.

Zweierlei tritt uns dabei als selbstverständliche Voraussetzung auch bei diesen Denkern entgegen. Das erste ist die Geltung der Gesetze. Der Gehorsam des naiven Bewußtseins befolgt das Gebot ohne zu fragen, woher es kommt und wodurch es berechtigt ist. Die Gesetze sind da, die der Sitte so gut wie die des Rechts: sie bestehen einmal, und der einzelne hat sie zu befolgen. Niemand hat in der vorsophistischen Zeit prinzipiell daran gedacht, das Gesetz zu prüfen und zu fragen, worin sein Anspruch auf Geltung besteht. Das zweite ist eine Ueberzeugung, welche in dem Moralisieren aller Völker und aller Zeiten zu Grunde liegt, diejenige nämlich, daß die Befolgung des Gesetzes Vorteil, seine Mißachtung Nachteil bringt: aus diesem Gedanken heraus nimmt die Mahnung den Charakter eines überredenden Rates an154, der sich an die Klugheit des Ermahnten ebenso wie an die in ihm schlummernden Wünsche richtet.[59]

Mit der griechischen Aufklärung geraten diese beiden Voraussetzungen ins Schwanken, und damit wird ihr die Sittlichkeit zum Problem.

1. Der Anstoß dazu ging von den Erfahrungen des öffentlichen Lebens aus. Schon der häufige und rasche Wechsel der Verfassungen war geeignet, die Autorität des Gesetzes zu untergraben: er nahm nicht nur dem einzelnen Gesetze den Nimbus unbedingter, fragloser Geltung, sondern er gewöhnte zumal den Bürger der demokratischen Republik, in Beratungen und Abstimmungen über den Grund und die Geltung der Gesetze nachzudenken und zu entscheiden. Das politische Gesetz wurde diskutierbar, und der einzelne stellte sich mit seinem Urteil darüber. Beachtet man dann außer diesem zeitlichen Wechsel auch noch die Verschiedenheit, welche nicht nur die politischen Gesetze, sondern auch die durch die Sitte vorgeschriebenen Gewohnheiten in den verschiedenen Staaten und gar bei verschiedenen Völkern aufweisen, so folgt daraus, daß den Gesetzen nicht mehr der Wert allgemeiner Geltung für alle Menschen zugeschrieben werden kann155. Wenigstens gilt das zunächst für alle Gesetze, die von Menschen gemacht sind, jedenfalls also von den politischen.

Erhob sich nun diesen Erfahrungen gegenüber die Frage, ob es denn überhaupt etwas überall und immer Geltendes, ein von der Verschiedenheit der Völker, Staaten und Zeiten unabhängiges und damit für alle maßgebendes Gesetz gäbe, so begann die griechische Ethik mit einem Problem, welches dem Anfangsproblem der Physik völlig parallel lief. Das ewig gleiche, alle Veränderungen überdauernde Wesen der Dinge hatten die Philosophen der ersten Periode die Natur (physis) genannt156: jetzt fragt man, ob durch diese ewig gleiche Natur (physei) auch ein über allen Wechsel und alle Verschiedenheiten erhabenes Gesetz bestimmt sei, und im Gegensatz dazu weist man darauf hin, daß alle die bestehenden, nur zeitweilig und in beschränktem Umfange geltenden Vorschriften durch menschliche Satzung (thesei oder nomô) gegeben und begründet sind.

Der Gegensatz von Natur und Satzung ist die am meisten charakteristische Begriffsbildung der griechischen Aufklärung; er beherrscht ihre ganze Philosophie, und er hat von vornherein nicht etwa nur den Sinn eines Prinzips der genetischen Erklärung, sondern die Bedeutung einer Norm der Wertschätzung. Wenn es etwas Allgemeingültiges gibt, so ist es das, was »von Natur« für alle Menschen ohne Unterschied des Volkes und der Zeit gilt was von Menschen im Lauf der Geschichte festgesetzt worden ist, das hat auch nur historischen, einmaligen Wert. Berechtigt ist nur was die Natur bestimmt, aber die Menschensatzung geht darüber hinaus. Das »Gesetz« (nomos) tyrannisiert den Menschen und zwingt ihn zu vielem was der Natur zuwiderläuft157. Die Philosophie formuliert begrifflich den Gegensatz eines natürlichen, »göttlichen« Rechts gegen das geschriebene Recht (Antigone).

Hieraus ergaben sich die Aufgaben, einerseits festzustellen worin dies überall gleiche Recht der Natur bestehe, anderseits aber zu begreifen, wie daneben[60] die Satzungen des historischen Rechts entstehen und begründet sind.

Der ersten Aufgabe hat sich Protagoras nicht entzogen. In der mythischen Darstellung, die Platon von ihm aufbewahrt hat158, lehrt er, daß die Götter allen Menschen gleichmäßig Gerechtigkeitssinn und sittliche Scheu (dikê und aidôs) gegeben hätten, damit sie im Kampfe des Lebens zu gegenseitiger Erhaltung dauernde Verbindungen schließen könnten. Er fand also die physis des praktischen Lebens in sittlichen Grundgefühlen, welche den Menschen zu gesellschaftlicher und staatlicher Vereinigung treiben. Die nähere Ausführung dieses Gedankens und die Abgrenzung des physei Geltenden von den positiven Bestimmungen der historischen Satzung sind uns leider nicht erhalten.

Daß aber von solchen Grundlagen aus die Theorie der Sophisten zu einer weitgehenden Kritik der gegebenen Zustände und zur Forderung tiefgreifender Umwälzungen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens schritt, dafür liegen mancherlei Anzeichen vor. Schon damals brach sich der Gedanke Bahn, daß alle rechtlichen Unterschiede zwischen den Menschen nur auf Satzung beruhen und die Natur gleiches Recht für Alle verlange. Lykophron begehrte die Abschaffung des Adels, Alkidamas159 und andere160 bekämpften aus diesem Gesichtspunkt die Sklaverei, Phaleas forderte Gleichheit des Besitzes wie der Bildung für alle Bürger, und Hippodamos entwarf als der erste die Grundzüge eines vernünftigen Staatsideals161. Selbst der Gedanke einer politischen Gleichstellung der Frauen mit den Männern ist in diesem Zusammenhange aufgetaucht162.

Weicht nun die positive Gesetzgebung von diesen Anforderungen der Natur ab, so ist ihre Begründung nur in den Interessen derjenigen zu suchen, welche die Gesetze machen. Nach Thrasymachos163 von Chalkedon sind es die Gewalthaber, welche den Unterworfenen durch das Gesetz zwingen, zu tun wie es ihrem Vorteil entspricht: umgekehrt führt Kallikles164 aus, die Gesetze seien von der großen Masse der Schwachen als ein Schutzwall gegen die überlegene Kraft der starken Persönlichkeiten errichtet worden; Lykophron165 sieht den Sinn der Rechtsordnung darin, daß alle die, welche andern kein Leides tun, sich gegenseitig Leben und Besitz verbürgen: – immer wird der Grund der Gesetze in den Interessen derjenigen gefunden, welche sie machen.

2. Ist aber das persönliche Interesse der Grund für die Aufstellung der Gesetze, so ist es auch das einzige Motiv ihrer Befolgung. Auch der Moralist will ja den Menschen davon überzeugen, daß es in seinem Interesse liege, sich dem Gesetze zu fügen. Daraus folgt aber, daß der Gehorsam gegen das Gesetz nur soweit zu reichen hat, als es im Interesse des einzelnen liegt. Und es gibt Fälle, wo das nicht zutrifft. Es ist nicht wahr, daß nur die Unterordnung unter das Gesetz glücklich macht: große Verbrecher, so führt Polos166 aus, gibt es, die durch die schrecklichsten Uebeltaten die glücklichsten Erfolge erreicht haben. Die Erfahrung widerspricht der Behauptung, daß nur[61] Rechttun zur Glückseligkeit führe; sie zeigt vielmehr, daß eine kluge, durch keine Rücksichten auf Recht und Gesetz gehemmte Lebensführung die beste Gewähr des Glücks ist167.

Durch solche Betrachtungen greift allmählich die zunächst nur auf die Geltung des staatlichen Gesetzes gerichtete Skepsis auch diejenige der sittlichen Gesetze an. Was Polos, Kallikles und Thrasymachos in den platonischen Dialogen Gorgias und Politeia über die Begriffe des Rechten und Unrechten (dikaion und adikon) vortragen, bezieht sich (durch die Mittelstellung der strafrechtlichen Bestimmungen) gleichmäßig auf das sittliche wie auf das politische Gesetz und beweist, daß das Naturgesetz nicht nur dem bürgerlichen Gesetz, sondern auch den Forderungen der Sitte gegenübergestellt wurde.

Hinsichtlich beider aber schritt der Naturalismus und Radikalismus der jüngeren Sophisten zu den äußersten Konsequenzen. Mag der Schwache, so hieß es, sich dem Gesetz unterwerfen; er ist ja doch nur der Dumme, der damit fremdem Nutzen dient168; der Starke aber, der zugleich der Weise ist, läßt sich durch das Gesetz nicht irre machen, er folgt lediglich dem Triebe seiner eigenen Natur. Und das ist das Rechte, wenn nicht nach menschlichem Gesetz, so nach. dem höheren Gesetz der Natur. An allen Lebewesen zeigt sie, daß der Stärkere über den Schwächeren herrschen soll; nur dem Sklaven ziemt es, ein Gebot über sich anzuerkennen, der freie Mann soll seine Begierden nicht zügeln, sondern sie sich voll entfalten lassen; nach Menschenrecht mag es eine Schande sein, Unrecht zu tun, – nach dem Naturgebot ist es eine Schande, Unrecht zu leiden169.

In solchen Formen wurde die natürliche Triebbestimmtheit des Individuums als Naturgesetz proklamiert und zur höchsten Norm des Handelns erhoben, und Archelaos, ein der sophistischen Zeit angehöriger Schüler des Anaxagoras, verkündete, daß die Prädikate gut und böse, »recht« und »schimpflich« (dikaion – aischron) nicht der Natur, sondern der Satzung entspringen: alle sittliche Beurteilung ist konventionell170.

3. Selbstverständlich wurden in diesen Umsturz auch die religiösen Vorstellungen um so mehr hineingezogen, als diese, nachdem ihnen die theoretische Geltung durch die kosmologische Philosophie entzogen worden war (Xenophanes), nur noch als allegorische Darstellungen sittlich er Begriffe Anerkennung behalten hatten: in dieser Hinsicht war eine Zeitlang die Schule des Anaxagoras, namentlich ein gewisser Metrodoros von Lampsakos, tätig gewesen. Es war nur eine Konsequenz des ethischen Relativismus der Sophisten, daß Prodikos lehrte, die Menschen hätten aus allem, was ihnen Segen brachte, Götter gemacht, und daß Kritias den Glauben an die Götter für eine Erfindung kluger Staatskunst erklärte171. Wenn solche Ansichten der wissenschaftlich Gebildeten bei den staatlich-priesterlichen Gewalten und zum Teil auch noch beider großen Masse Unwillen erregten172, so hatte es Protagoras leicht, sich diesen Fragen gegenüber in den Mantel seines Skeptizismus zu hüllen173.[62]

4. Die Stellung des Sokrates zu dieser ganzen Bewegung ist doppelseitig: einerseits hat er ihr Prinzip auf den klarsten und umfassendsten Ausdruck gebracht, anderseits hat er sich ihrem Ergebnis auf das kräftigste entgegengestellt. Und diese beiden Seiten seiner Wirksamkeit, so gegensätzlich sie zu sein scheinen und so sehr dieser ihr äußerer Gegensatz das tragische Geschick des Mannes bestimmt hat, stehen doch in dem genauesten und folgerichtigsten Zusammenhange: denn gerade dadurch, daß Sokrates das Prinzip der Aufklärung in seiner ganzen Tiefe erfaßte und in seiner ganzen Energie formulierte, gelang es ihm, daraus ein positives Resultat von gewaltiger Tragweite zu entwickeln.

Auch für ihn ist die Zeit fragloser Befolgung überlieferter Gewohnheiten vorüber: an die Stelle der Autorität ist das selbständige Urteil der Individuen getreten. Während aber die Sophisten der Analyse der Gefühle und Triebe nachgingen, die den tatsächlichen Entscheidungen der Individuen zu Grunde liegen, und sich schließlich genötigt sahen, allen diesen Motiven das gleiche Recht einer naturnotwendigen Entfaltung zuzuerkennen, reflektierte Sokrates auf dasjenige Moment, welches das entscheidende in der Kultur seiner Zeit war, nämlich auf die praktische, politische und soziale Bedeutung, die Wissen und Wissenschaft errungen hatten. Gerade durch die Verselbständigung der Individuen, durch die Entfesselung der persönlichen Leidenschaften war es zu Tage getreten, daß die Tüchtigkeit des Menschen auf seiner Einsicht beruht. Hierin fand Sokrates den positiven Maßstab für die Wertbeurteilung der Menschen und ihrer Handlungen.

Tüchtigkeit also (aretê) ist Einsicht. Wer nach Gefühlen, nach unklaren Voraussetzungen, nach hergebrachten Gewohnheiten handelt, der mag wohl gelegentlich auch einmal das Richtige treffen, aber er weiß es nicht, er ist des Erfolgs nicht sicher; wer gar in Täuschung und Irrtum über das, worum sichs handelt, begriffen ist, der greift sicher fehl: nur der wird des rechten Handelns sicher sein, der die richtige Einsieht von den Dingen und von sich selbst hat174. Daher ist die Erkenntnis (epistêmê) die Grundlage aller Eigenschaften, welche den Menschen tüchtig und brauchbar machen, aller einzelnen aretai.

Diese Einsicht besteht zuerst in der genauen Kenntnis der Dinge, auf welche sich das Handeln beziehen soll. Der Mensch soll seine Sache verstehen. Wie man in Jedem Geschäft den tüchtig findet, der es gründlich erlernt hat und die Gegenstände kennt, mit denen er zu arbeiten hat, so sollte es auch im bürgerlichen und im politischen Leben sein: auch hier soll man nur der Einsicht vertrauen175. Somit unterscheiden sich die einzelnen Tüchtigkeiten nur nach den Gegenständen, welche das Wissen in jedem Falle betrifft176: allen gemeinsam aber ist nicht nur das Wissen überhaupt, sondern auch die Selbsterkenntnis.[63] Darum erklärte es Sokrates für seinen hauptsächlichsten Beruf, sich selbst und seine Mitbürger zu ernster Selbstprüfung zu erziehen: das gnôth seauton galt als das Stichwort seiner Lehre177.

5. Diese Betrachtungen, die Sokrates aus den Wertbestimmungen der praktischen Tüchtigkeit heraus entwickelte, übertrugen sich mit der Doppelsinnigkeit des Wortes aretê178 auch auf die sittliche Tüchtigkeit, die Tugend, und führten so zu der Grundlehre, daß Tugend in der Erkenntnis des Guten bestehe. So weit ist der Gedankengang des Sokrates klar und zweifellos; undeutlicher aber wird die Ueberlieferung, wenn wir fragen, was denn nun der Mann, der so lebhaft auf Deutlichkeit der Begriffsbestimmung drang, unter dem Guten habe verstanden wissen wollen. Nach der Darstellung Xenophons müßte ihm das Gute (agathon) überall mit dem Zuträglichen, Nützlichen (ôphelimon) zusammengefallen, Tugend also die Erkenntnis dessen gewesen sein, was jedesmal das Zweckmäßige, Nützliche wäre. Diese Auffassung schließt sich am leichtesten an jene Analogie der sittlichen Tugend mit den Tüchtigkeiten des täglichen Lebens, welche Sokrates in der Tat gelehrt hat, und auch die Darstellung der frühesten platonischen Dialoge, insbesondere des Protagoras, legt dem Sokrates diesen Standpunkt des individuellen Nutzens bei. Die Einsicht (hier phronêsis genannt) ist eine messende Kunst, welche mit genauer Abwägung des Nutzens und des Schadens, der sich aus der Handlung ergeben wird, das Zweckmäßigste wählt. Dem entspricht weiter, daß Sokrates gerade im Gegensatz zu den Sophisten, die eine kraftgenialische Entfaltung der Leidenschaften verlangten, keine Tugend so sehr betonte und selbst in seinem Leben zur Darstellung brachte, wie diejenige der Selbstbeherrschung (sôphrosynê).

Danach aber wäre der sokratische Begriff des Guten inhaltlich unbestimmt; es müßte von Fall zu Fall entschieden werden, was das Zweckentsprechende, Nützliche wäre, und statt des Guten hätte man wieder immer nur dasjenige, was zu etwas gut179 wäre. Es darf als sicher angesehen werden, daß Sokrates über diesen Relativismus hinausstrebte; aber ebenso auch, daß er vermöge der rein anthropologischen Grundlage seines Denkens mit der begrifflichen Formulierung nicht darüber hinaus kam. Seine Lehre, daß Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun, seine strenge Gesetzlichkeit, mit der er es verschmähte, sich durch die Flucht dem ferneren Leben und Wirken zu erhalten und einem ungerechten Richterspruche zu entziehen, seine Mahnung, daß der wahre Inhalt des Lebens in der eupraxia, in dem dauernden Rechttun, in der unablässigen Arbeit des Menschen an seiner sittlichen Besserung, in der Teilnahme an allem Guten und Schönen (kalokagathia) bestehe, besonders aber seine Erotik, d.h. die Lehre, wonach die Freundschaft und das Verhältnis der Neigung zwischen Lehrer und Schüler nur den Inhalt haben sollten, daß beide in gemeinsamem Leben und gegenseitiger Förderung sich bemühten, gut, d.h. immer besser zu werden, – alles dies geht über die xenophontische Auffassung weit hinaus und läßt sich mit dem Standpunkt der Utilität nur vereinigen, wenn man dem Sokrates die Unterscheidung zwischen dem wahren[64] Seelenheil und dem irdischen Nutzen beilegt, die ihn Platon im Phaidon vortragen läßt, von der sich aber sonst nur geringe Spuren finden; denn der historische Sokrates (auch nach Platons Apologie) verhielt sich gegen den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit durchaus skeptisch, und die platonische scharfe Scheidung zwischen Immaterialität und Körperlichkeit lag ihm noch fern. Zwar lehrt Sokrates auch bei Xenophon, das wahre Glück des Menschen sei nicht in äußeren Gütern noch im Wohlleben, sondern allein in der Tugend zu suchen: wenn aber dann diese Tugend wieder nur in der Fähigkeit bestehen soll, das wahrhaft Nützliche zu erkennen und danach zu handeln, so dreht sich die Lehre im Kreise, sobald sie behauptet, dies wahrhaft Nützliche sei eben wieder die Tugend selbst. In diesem Zirkel ist Sokrates stecken geblieben: die objektive Begriffsbestimmung des Guten, die er suchte, hat er nicht gefunden.

6. Jedenfalls aber – und das hat sich als viel bedeutsamer erwiesen –, so unbestimmt es auch bleiben mochte, worin sachlich die Erkenntnis des Guten bestehen sollte, davon war Sokrates überzeugt, daß diese Erkenntnis allein ausreiche, und das Gute auch zu tun und damit die Glückseligkeit herbeizuführen. Dieser Satz, der als Typus einer rationalistischen Lebensanschauung gelten kann, enthielt zwei folgenschwere Voraussetzungen: psychologisch den ausgesprochenen Intellektualismus, ethisch den ausgesprochenen Eudämonismus.

Die Grundannahme, die Sokrates dabei macht, ist schon der Ausdruck seiner eigenen überlegenden, verständigen Natur: jeder Mensch, sagt er, handelt so, wie er es am zweckmäßigsten, förderlichsten, nützlichsten erachtet; niemand tut dasjenige, was er für unzweckmäßig oder auch nur für das weniger Zweckmäßige erkannt hat. Ist somit Tugend die Erkenntnis des Zweckmäßigen, so folgt daraus unmittelbar, daß der Tugendhafte auch seiner Erkenntnis gemäß, also zweckmäßig, richtig, in der für ihn ersprießlichen Weise handelt. Niemand tut wissentlich und absichtlich das Unrechte: nur wer nicht die rechte Einsicht hat, der handelt auch nicht recht. Scheint es manchmal, als handle jemand gegen bessere Einsicht unrecht, so hatte er eben die bessere Einsicht doch nicht klar und sicher besessen; denn sonst hätte er ja absichtlich sich selbst geschädigt, was absurd ist.

Hierin tritt zwischen Sokrates und den Sophisten eine psychologische Grundverschiedenheit zu Tage: diese behaupteten die Ursprünglichkeit (und deshalb auch die naturalistische Berechtigtheit) des Wollens; für Sokrates aber ist etwas wollen und etwas für gut halten dasselbe. Die Einsicht bestimmt unweigerlich den Willen; der Mensch tut was er für das Beste hält. So sehr Sokrates mit dieser Meinung im Irrtum sein und so sehr die Wahrheit zwischen ihm und den Sophisten in der Mitte liegen mag, so bestimmend ist doch diese seine intellektualistische Auffassung vom Willen für die ganze antike Ethik geworden.

Sünde also ist Irrtum. Wer schlecht handelt, tut es aus verkehrtem Urteil, indem er das Schlechte, d.h. das Schädliche, für das Gute hält: denn jeder glaubt, das Gute, d.h. das Ersprießliche, zu tun. Nur weil es so steht, hat es einen Sinn, die Menschen sittlich zu belehren; nur deshalb ist die Tugend lehrbar. Denn alle Lehre wendet sich an die Einsicht des Menschen. Weil man ihn belehren kann, was das Gute ist, darum – und dadurch allein – kann[65] man den Menschen dazu bringen, daß er das Rechte tut. Wäre die Tugend keine Einsicht, so wäre sie nicht lehrbar.

Von diesem Standpunkt aus hob nun Sokrates die Gewohnheit des populären Moralisierens auf wissenschaftliche Höhe. Allen seinen Scharfsinn, ja, seine Spitzfindigkeit und dialektische Gewandtheit verwendete er darauf180, um gegen die Sophisten zu beweisen, daß nicht nur die sicherste, sondern auch die einzig sichere Art, zu dauernder Glückseligkeit zu gelangen, unter allen Umständen in der Befolgung der sittlichen Vorschriften, in der Unterordnung unter Gesetz und Sitte bestehe. So gibt er der Autorität ihr Recht zurück. Das Prinzip der Aufklärung duldet keine fraglose Unterwerfung unter das Bestehende und verlangt die Prüfung der Gesetze; aber diese Gesetze halten die Prüfung aus, sie erweisen sich als Forderungen der Einsicht in das Zweckmäßige, und deshalb muß ihnen, weil ihre Befolgung nun als das Rechte erkannt ist, unbedingter Gehorsam geleistet werden181. Weit entfernt, mit den Satzungen des Rechts und der Moral im Widerspruch zu sein, ist Sokrates vielmehr derjenige, welcher ihre Vernünftigkeit und damit ihren Anspruch auf allgemeine Geltung zu beweisen unternommen hat182.

7. Zu den psychologisch-ethischen Voraussetzungen, daß der Wille stets auf das als gut Erkannte gerichtet ist und daß daher die Tugend als Erkenntnis des Guten das zweckentsprechende Handeln von selbst nach sich zieht. tritt nun in den Argumentationen des Sokrates noch die weitere Ansicht hinzu, daß dies zweckmäßige Handeln des Tugendhaften auch den Zweck wirklich erreicht und ihn glücklich macht. Die Eudämonie ist der notwendige Erfolg der Tugend: der Wissende erkennt und tut daher das, was ihm gut ist; er muß also durch sein Tun auch glücklich werden. Diese Annahme ist aber nur für ein vollkommenes Wissen zutreffend, welches der Wirkungen, die eine beabsichtigte Handlung in dem Zusammenhange des Weltgeschehens haben wird, absolut sicher wäre.

In der Tat machen die überlieferten Aeußerungen des Sokrates den Eindruck,[66] daß er überzeugt war der Mensch könne diejenige Einsicht, welche zur Herbeiführung der Eudämonie geeignet ist, besitzen oder durch die Philosophie, d.h. durch unablässige ernste Prüfung seiner selbst, der andern und der menschlichen Lebensverhältnisse erwerben. Untersuchungen darüber, wie weit etwa der vom Menschen nicht vorauszusehende Weltlauf die Wirkung auch der zweckmäßigsten und einsichtigsten Lebensfahrung zu durchkreuzen und zu zerstören vermöchte, sind bei Sokrates nicht nachzuweisen. Bei dem geringen Maß von Zutrauen, das er sonst zu der menschlichen Erkenntnis hegte, sobald sie sich über die Feststellung sittlicher Begriffe und praktischer Erfordernisse hinauswagen wollte, ist dies nur dadurch zu erklären, daß er von der providentiellen Führung, die ihm ein Gegenstand zwar nicht der Einsicht, aber des Glaubens war, eine Vereitlung der beglückenden Folgen des rechten Handelns nicht befürchtete (vgl. § 8, 8).

  • Literatur: F WILDAUER, Sokrates' Lehre vom Willen, Innsbruck 1877.
    M. HEINZE, Der Eudämonismus in der griechischen Philosophie, Leipzig 1883.

8. Wenn Sokrates den sittlichen Grundbegriff der Tugend als Einsicht und diese als Erkenntnis des Guten bestimmt, dem Begriff des Guten aber keinen allgemeinen Inhalt gegeben und ihn in gewisser Hinsicht offen gelassen hatte, so war damit die Möglichkeit gegeben, daß die verschiedenen Lebensauffassungen ihre Ansichten vom letzten Zweck (telos) des Menschendaseins an dieser offenen Stelle dem sokratischen Begriffe einfügten; und so hat diese erste ethische Begriffsbildung sogleich eine Anzahl besonderer Ausgestaltungen gefunden183. Die wichtigsten darunter sind die kynische und die kyrenaische: in beiden liegt der Versuch vor, den rechten Wertgehalt des individuellen Lebens in allgemeingültiger Weise zu bestimmen. Beide wollen zeigen, worin die wahre Glückseligkeit des Menschen bestehe und wie der Mensch beschaffen sein und handeln müsse, um sie sicher zu erreichen; beide nennen diese Beschaffenheit. durch welche man der Glückseligkeit teilhaftig wird, Tugend. Die eudämonistische Seite der sokratischen Ethik wird hier ganz einseitig entwickelt, und wenn auch dem aufgestellten Begriffe Allgemeingültigkeit vindiziert wird, so tritt doch der Gesichtspunkt der individuellen Glückseligkeit als so allein maßgebend auf. daß ihm auch die Wertbeurteilung aller Verhältnisse des öffentlichen Lebens unterstellt wird. Im Kynismus wie im Hedonismus geht der griechische Geist daran, die Summe des Ertrages zu ziehen, den die Lebensgestaltung der Zivilisation für das Glück des Individuums abwirft. Die von der Sophistik begonnene Kritik der gesellschaftlichen und politischen Zustände und Mächte hat durch Vermittlung des sokratischen Tugendbegriffs einen festen Maßstab gewonnen.

Die Tugendlehre des Antisthenes184 nimmt anfänglich da, wo sie sich unbehilflich in den Zirkel der sokratischen eingefangen findet, eine hohe und bestechende Wendung. Sie Verzichtet darauf, den Begriff des Actuell inhaltlich näher zu bestimmen, und erklärt die Tugend selbst nicht nur für das höchste,[67] sondern für das einzige Gut, versteht aber dabei unter Tugend im wesentlichen nur die verständige Lebensführung selbst. Diese allein macht glücklich, aber nicht etwa durch die Folgen, welche sie herbeiführt, sondern durch sich selbst. Die dem rechten Leben selbst innewohnende Befriedigung ist somit von dem Weltlauf durchaus unabhängig: die Tugend genügt sich selbst zur Glückseligkeit; der Weise steht dem Schicksal frei gegenüber.

Aber dieser kynische Begriff der sich selbst genügenden Tugend ist, wie die weitere Ausführung zeigt, noch keineswegs so aufzufassen, als sollte der Tugendhafte in dem Tun des Guten um seiner selbst willen unter allen Schicksalslaunen sein Glück finden. Zu dieser Höhe hat sich der Kynismus noch nicht erhoben, so sehr es danach klingen mag, wenn die Tugend als der einzig sichere Besitz in den Wechselfällen des Lebens gefeiert, wenn sie als das einzig zu Erstrebende, Schlechtigkeit dagegen als das einzig zu Meidende bezeichnet wird. Vielmehr ist diese Lehre ein mit großer Folgerichtigkeit aus dem sokratischen Prinzip, daß die Tugend notwendig glücklich mache (vgl. oben 7), gezogenes Postulat, und aus diesem Postulat hat umgekehrt Antisthenes die sachliche Begriffsbestimmung der Tugend zu gewinnen gesucht.

Soll nämlich Tugend sicher und unter allen Umständen glücklich machen, so muß sie diejenige Lebensführung sein, welche den Menschen vom Weltlauf so unabhängig wie nur irgend möglich macht. Nun ist aber jedes Bedürfnis und jede Begierde ein Band, welches den Menschen vom Schicksal abhängig macht, insofern als sein Glück oder Unglück darauf angewiesen wird, ob ihm ein solcher Wunsch durch den Lauf des Uebens erfüllt wird oder nicht. Ueber die Außenwelt haben wir keine Gewalt, wohl aber über unsere Begierden. Wir setzen uns den fremden Mächten um so mehr aus, je mehr wir von ihnen verlangen, hoffen oder fürchten: jede Begierde macht uns zu Sklaven der Außenwelt. Die Tugend also, die den Menschen auf sich selbst stellt, kann nur in der Unterdrückung der Begierden und in der Beschränkung der Bedürfnisse auf das denkbar geringste Maß bestehen. Tugend ist Bedürfnislosigkeit185, – vom Standpunkt des Eudämonismus sicher die konsequenteste Folgerung, und zugleich eine solche, welche Männern geringerer Lebensstellung, wie wir sie teilweise im Kynismus finden, besonders nahe liegen mußte.

Durch die radikale Ausführung dieses Gedankens kamen nun die Kyniker in eine rein verneinende Stellung gegenüber der Zivilisation, und indem sie das Maß der Bedürfnisse des tugendhaften Weisen auf das absolut Unvermeidliche herabsetzen, alle andern Bestrebungen aber als verderblich oder gleichgültig ansehen wollten, verwarfen sie alle Güter der Kultur und gelangten zu dem Ideal eines Naturzustandes, das aller höheren Werte entkleidet war. Frühere sophistische Theorien aufnehmend und fortspinnend lehrten sie, daß der Weise sich nur dem füge, was die Natur unabweislich verlangt, alles das aber verachte, was nur menschliche Meinung und Satzung begehrenswert oder befolgenswert habe erscheinen lassen. Reichtum und feine Lebensgestaltung, Ruhm und Ehre erschienen ihnen ebenso entbehrlich wie die Genüsse der Sinne, die über die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse von Hunger und Liebe hinausgingen. Kunst und Wissenschaft, Familie und Vaterland waren ihnen[68] gleichgültig, und Diogenes verdankte seine paradoxe Popularität dem ostentativen Sport, mitten in dem zivilisierten Griechenland als Naturmensch, lediglich physei leben zu wollen.

Zwang sich auf diese Weise der philosophierende Proletarier zur Verachtung aller der Kulturwerte, von deren Genuß er mehr oder minder sich ausgeschlossen fand, so erkannte er anderseits auch alle die Gesetze, welchen sich die zivilisierte Gesellschaft unterwarf, für sich nicht als bindend an, und wenn nur einiges von den schmutzigen Anekdoten wahr ist, die das Altertum darüber erzählt, so hat diese Sippe sich ein Vergnügen daraus gemacht, den elementarsten Anforderungen der Sitte und des Anstandes öffentlich Hohn zu sprechen. Dieser forcierte und zum Teil offenbar affektierte Naturalismus weiß von dikê und aidôs welche die ältere Sophistik als natürliche Triebe hatten bestehen lassen, nichts mehr und klügelt sich einen Tugendbegriff aus, der das Wesen des natürlichen Menschen mit Gier und Brunst beschlossen glaubt.

Doch waren die Kyniker nicht so schlimm, wie sie sich machten: Diogenes sogar, der Sôkratês mainomenos, bewahrte einen Rest von Achtung vor der geistigen Bildung, die allein den Menschen von den Vorurteilen der Satzung und der Konvention befreien und durch die Einsicht in die Nichtigkeit der vermeintlichen Kulturgüter zur Bedürfnislosigkeit führen könne, und jene Uebertreibungen erscheinen schließlich nur als Auswüchse des Doktrinarismus.

Im ganzen ist diese Philosophie ein charakteristisches Zeichen der Zeit, das Denkmal einer Gesinnung, welche der Gesellschaft, wenn nicht feindlich, so doch gleichgültig gegenübersteht und alles Verständnis für ihre idealen Güter verloren hat: sie läßt uns von innen her sehen, wie um jene Zeit die griechische Gesellschaft in die Individuen zerbröckelte Wenn Diogenes sich einen Kosmopoliten nannte, so lag darin auch keine Spur des idealen Gedankens einer Zusammengehörigkeit aller Menschen, sondern nur die Ablehnung seiner Zugehörigkeit zu irgend einer Kulturgemeinschaft, und wenn Krates lehrte, die Vielheit der Götter bestehe nur in der Meinung der Menschen, »der Natur nach« gäbe es nur Einen Gott, so ist in der kynischen Lehre keine Spur, woraus man schließen dürfte, daß dieser Monotheismus für sie eine klarere Vorstellung oder gar ein tieferes Gefühl gewesen wäre.

9. Den vollen Gegensatz hierzu bildet der Hedonismus, die Philosophie des rücksichtslosen Genusses. Aristipp schlug von der Unfertigkeit der sokratischen Lehre her den entgegengesetzten Weg ein: er war schnell damit bei der Hand, dem Begriffe des Guten einen deutlichen und einfachen Inhalt zu geben – den der Lust (hêdonê). Dabei fungiert dieser Begriff zunächst in dem allgemeinen psychologischen Sinne, wonach er das Gefühl der Befriedigung bedeutet, das aus der Erfüllung eines jeden Strebens und Wünschens erwächst186: Glückseligkeit ist der Zustand der Lust, der aus gestilltem Wollen entspringt. Wenn es sich nur um sie handelt, so ist es gleichgültig, welches der Gegenstand des Wollens und des Wohlgefallens ist: dann kommt es nur auf den Grad der Lust, auf die Stärke des Befriedigungsgefühls an187. Diese aber, meint Aristipp, ist am meisten bei dem sinnlichen, dem körperlichen Genuß vorhanden,[69] der sich auf das unmittelbar Gegenwärtige, auf die Befriedigung des Moments bezieht. Ist also Tugend die auf Glückseligkeit gerichtete Erkenntnis, so muß sie den Menschen befähigen, so viel und so lebhaft wie möglich zu genießen. Tugend ist Genußfähigkeit.

Genießen mag und kann freilich ein jeder; aber nur der Gebildete, nur der Wissende, der Einsichtige und Weise versteht recht zu genießen. Nicht nur um die Abschätzung (phronêsis) handelt es sich dabei, die unter den verschiedenen sich darbietenden Genüssen diejenigen auszuwählen weiß, welche die höchste, reinste, am wenigsten mit Unlust gemischte Lust zu gewähren imstande sind, sondern um die innere Selbstgewißheit des Menschen, der nicht blindlings jedem aufsteigenden Gelüste folgen und, wenn er genießt, niemals ganz darin aufgehen, sondern über dem Genusse stehen und ihn beherrschen soll. Verwerflich ist freilich, wie die Kyniker sagen, der Genuß, der den Menschen zum Sklaven der Dinge macht; aber schwerer, als dem Genusse, wie sie tun, zu entsagen, ist es, sich seiner zu freuen und ihm doch nicht zu verfallen. Dazu aber befähigt allein die rechte Einsicht188.

Aus diesem Grunde haben die Kyrenaiker, insbesondere der jüngere Aristippos, systematische Untersuchungen über den Ursprung der pathê, der Gefühle und Triebe angestellt. In einer physiologischen Psychologie, die sich derjenigen des Protagoras (vgl. unten § 8, 3) anschloß, führten sie die Gefühlsverschiedenheiten auf die Bewegungszustände des Leibes zurück: der Ruhe sollte Gleichgültigkeit, heftiger Bewegung Schmerz, sanfter Bewegung dagegen Lust entsprechen. Neben solchen erklärenden Theorien aber ging diese Philosophie der Lebemänner auf eine vorurteilsfreie Weltkenntnis hinaus. Auch für sie waren, wie Theodoros lehrte, schließlich alle sittlichen Vorschriften und rechtlichen Bestimmungen nur Satzungen, die für die Masse gelten: der gebildete Genußmensch bekümmert sich um sie nicht und genießt die Dinge, wie er ihrer habhaft werden kann. Theodor, der den Beinamen des Atheisten führt, lehnte auch alle religiösen Skrupel ab, welche sich der Hingabe an den Sinnengenuß entgegenstellen, und daß man in diesem Sinne sich bemühte, den religiösen Glauben so viel als möglich seines Nimbus zu entkleiden, beweist die bekannte (übrigens mit keinem der philosophischen Standpunkte näher zusammenhängende) Theorie des Euemeros, der in seiner hiera anagraphê den Glauben an die Götter auf Ahnenkult und Heroenverehrung zurückzuführen unternahm.

So kamen schließlich die Kyrenaiker mit den Kynikern darin überein, daß auch ihnen alles, was nomô, d.h. durch gesellschaftliche Konvention der Sitte und des Gesetzes bestimmt wird, als eine Einschränkung des Rechts auf Genuß galt, welches der Mensch physei, von Natur habe und welches der Weise, unbekümmert um die historischen Satzungen, ausübe. Die Hedonisten nahmen die Verfeinerung des Genießens, welche die Kultur mit sich brachte, gerne mit; sie fanden es bequem und erlaubt, daß der verständige Mann den Honig genieße, den andere bereitet; aber es band sie kein Gefühl der Pflicht oder der Dankbarkeit an die Kultur, deren Früchte sie genossen. Dieselbe Vaterlandslosigkeit, dieselbe Abwendung von politischem Verantwortlichkeitsgefühl, welche bei den Kynikern aus der Verachtung der Kulturgenüsse erwuchs, ergab sich[70] für sie aus dem Egoismus des Genießens. Aufopferung für andere, Patriotismus und Hingebung an ein Allgemeines erklärte Theodoros für eine Torheit, die zu teilen dem Weisen nicht zieme, und schon Aristipp freute sich der staatlichen Ungebundenheit, die ihm sein Wanderleben gewähre189. Die Philosophie der Schmarotzer, die am vollen Tische hellenischer Schönheit schmausten, steht ihrem idealen Inhalt ebenso fern wie diejenige der Bettler, die auf der Türschwelle lagen.

Indessen enthielt schon das Prinzip der sachverständigen Abwägung der Genüsse ein Moment, welches über den Genuß des Augenblicks, den Aristipp predigte, notwendig hinausführte nach zwei Seiten ist diese Konsequenz gezogen worden. Er selbst schon gab zu, daß bei der Abwägung die Lust und die Unlust, die sich für die Zukunft aus dem Genuß ergeben würden, mit in die Rechnung gezogen werden müßten; Theodoros fand, daß das höchste Gut mehr in der heiteren Gemütsstimmung (chara), als im momentanen Genuß zu suchen sei, und Annikeris kam zu der Einsicht, daß dies mehr als durch leibliche Genüsse durch die geistigen Freuden menschlicher Gemeinschaft, der Freundschaft, der Familie und der Staatsgenossenschaft erreicht würde.

Anderseits aber konnte schließlich der hedonischen Schule auch die Einsicht nicht erspart bleiben, daß der leidlose Genuß, zu welchem sie den gebildeten Menschen erziehen wollte, nur ein seltenes Los ist. Im allgemeinen, fand Hegesias, ist schon der glücklich zu preisen, der es zur Schmerzlosigkeit bringt, der von Unlust frei ist. Bei der großen Masse der Menschen überwiegt die Unlust, der Schmerz unerfüllter Begierden: ihnen wäre es darum besser, nicht zu leben. Die Eindringlichkeit, womit er dies vortrug, hat ihm den Beinamen peisithanatos; eingetragen: er überredete zum Tode. Er ist der erste Vertreter des eudämonistischen Pessimismus; damit aber widerlegt sich der Eudämonismus in sich selbst. Er zeigt, daß, wenn Glückseligkeit, Wunschbefriedigung und Genuß der Inhalt und Zweck des Menschenlebens sein soll, es diesen Zweck verfehlt und als wertlos fortzuwerfen ist. Der Pessimismus ist die letzte, aber auch die vernichtende Konsequenz des Eudämonismus, seine immanente Kritik.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 59-71.
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