9. Leben und Traum

[49] Meister Blinkeblick fragte den Alten am Baume und sprach: »Ich habe den Meister sagen hören, solche Worte wie: ›Der Berufene geht nicht an seine Geschäfte mit Eifer, er wendet sich nicht dem Nutzen zu und kehrt sich nicht vom Schaden ab; es freut ihn nicht zu streben, und er folgt nicht dem Pfad; ohne zu reden, redet er, redend redet er nicht; er wandelt jenseits vom Staub und Schmutz der Welt,‹ seien Worte wie wilde Wellen; ich aber halte sie für geheimen SINNS Befolgung. Was haltet Ihr, mein Meister, davon?«

Der Alte am Baume sprach: »Das sind Worte, deren Hören selbst den Herrn der gelben Erde verwirren könnte, wie sollte Kung (Konfuzius) imstande sein, sie zu erkennen? Außerdem bist du zu voreilig in deinen Erwartungen. Du siehst das Ei und willst schon den Hahn krähen hören. Du siehst die Armbrust und begehrst schon gebratene Eulen. Ich will einmal ganz harmlos zu dir von diesen Dingen reden, und du höre ganz harmlos zu! Wer steht zur Seite von Sonne und Mond und vermag das Weltall unter seinen Arm zu fassen? Er hält geschlossen seine Lippen, bringt zurecht seine Unklarheiten und Verwirrungen und ehrt seine Sklaven. Die Menschen der[49] Masse mühen sich ab. Der Berufene ist einfältig und schlicht; er faßt die Jahrtausende zusammen, und das Eine vollendet sich in seiner Reinheit. Alle Dinge kommen an ihr Ende, und er vereinigt sie in seinem Ich miteinander. Wie kann ich wissen, daß die Liebe zum Leben nicht Betörung ist? Wie kann ich wissen, daß der, der den Tod haßt, nicht jenem Knaben gleicht, der sich verirrt hatte und nicht wußte, daß er auf dem Weg nach Hause war?

Gi von Li war die Tochter des Grenzwarts von Ai. Als der Fürst von Dsin sie eben erst genommen hatte, da weinte sie bitterlich, also daß die Tränen ihr Gewand feuchteten. Als sie aber dann zum Palast des Königs kam und die Genossin des Königs wurde, da bereute sie ihre Tränen. Wie kann ich wissen, ob die Toten nicht ihren früheren Kampf ums Dasein bereuen?

Im Traume mag einer Wein trinken, und morgens erwacht er zu Tränen und Klage; im Traume mag einer klagen und weinen, des Morgens geht's zum fröhlichen Jagen. Während des Traumes weiß er nicht, daß es ein Traum ist. Im Traume sucht er den Traum zu deuten. Erwacht er, dann erst bemerkt er, daß er geträumt. So gibt es wohl auch ein großes Erwachen, und danach erkennen wir diesen großen Traum. Aber die Toren halten sich für wachend und maßen sich an zu wissen, ob sie in Wirklichkeit Fürsten sind oder Hirten. Kung und du, ihr seid beide Träumende. Daß ich dich einen Träumenden nenne, ist auch ein Traum. Solche Worte nennt man paradox. Wenn wir aber nach zehntausend Geschlechtern einmal einem großen Berufenen begegnen, der sie aufzulösen vermag, so ist es, als wären wir ihm zwischen Morgen und Abend begegnet.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 49-50.
Lizenz: