3. Fürstenerziehung

[66] Yen Ho war im Begriff, die Stelle eines Erziehers beim ältesten Sohne des Fürsten Ling von We anzutreten. Da befragte er den Gü Be Yü und sprach: »Mein künftiger Zögling ist ein Mensch, der einen natürlichen Hang zum Bösen hat. Läßt man ihn ohne Einschränkung machen, so wird der Staat dadurch gefährdet; handelt man mit ihm nach festen Grundsätzen, so bringt man seine eigene Person in Gefahr. Sein Verstand reicht aus, um die Fehler der anderen ausfindig zu machen; aber er merkt nicht, wodurch er sie zu jenen Fehlern veranlaßt. Was soll ich unter diesen Umständen machen?«

Gü Be Yü sprach: »Du hast mit deiner Frage das Richtige getroffen. Sei vorsichtig, hüte dich, sei korrekt in deinem Benehmen! Der beste Weg ist es, im äußeren Benehmen auf ihn einzugehen, dabei in der inneren Gesinnung unbeirrbar zu bleiben. Immerhin, beides hat seine Schwierigkeiten. Wenn du äußerlich auf ihn eingehst, darfst du doch nicht mitmachen wollen; deine innere Unbeirrbarkeit darf sich niemals äußern wollen. Ließest du dich, indem du äußerlich auf ihn eingehst, dazu hinreißen, bei seinen Taten mitzumachen, so wäre es endgültig um dich geschehen; würdest du deine innere Festigkeit äußerlich hervorkehren, so würde er bald in dir nur den abscheulichen Popanz sehen. Darum, benimmt er sich als Kind, so sei ein Kind mit ihm; schlägt er über die Stränge, so tue mit; ist er überschäumend (in Jugendmut), so sei du[66] ebenso! Auf diese Weise kommst du in innere Verbindung mit ihm, so daß du ihn zum Rechten leiten kannst.

Kennst du nicht die Geschichte von der Gottesanbeterin, die zornig ihre Arme ausstreckte, um den Wagen aufzuhalten, ohne zu bedenken, daß das über ihre Kräfte ging? So geht es denen, die ihre Kräfte überschätzen. Sei vorsichtig, hüte dich! Durch Einbildung und Selbstüberschätzung zieht man sich Widerwillen zu und bringt sich in Gefahr.

Kennst du nicht die Geschichte, daß, wer Tiger füttert, sich hüten soll, ihnen lebende Tiere zu geben, um der Wut willen, die beim Töten erwacht? Man muß sich hüten, ihnen ganze Tiere zu geben, um der Wut willen, die beim Zerreißen erwacht. Man muß zur Zeit ihren Hunger stillen, um zum voraus ihrer Wut zu begegnen. Die Tiger sind wohl ihrer Gattung nach vom Menschen verschieden, und doch: daß sie gegen ihre Pfleger zutraulich sind, entspricht ihrer Natur. Wenn sie daher töten, so kommt es daher, daß sie gereizt wurden.

Da war ein anderer, der hatte ein Pferd, um das er so zärtlich besorgt war, daß er ihm für alle seine natürlichen Bedürfnisse besondere Gefäße untergestellt hatte. Als einmal eine Bremse es belästigte, und der Stallknecht unvermittelt nach ihr schlug, da riß das Pferd sich los und zerbrach sein Kopf- und Brustgeschirr.

So taucht oft plötzlich ein Gefühl der Abneigung auf, vor dem die ganze frühere Anhänglichkeit verschwindet: Grund genug zur Vorsicht!«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 66-67.
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