4. Wolkenfürst und Urnebel

[122] Der Wolkenfürst wandelte nach Osten. Als er am Ende des Luftwirbels vorüber war, traf er den Urnebel. Urnebel hatte die Arme um die Knie geschlungen und hüpfte wie ein Vogel umher. Wolkenfürst erblickte ihn. Betroffen hielt er inne, stellte sich ehrfürchtig auf die Seite und sprach: »Wer seid Ihr, Greis? Was tut Ihr, Greis?«

Urnebel hüpfte weiter und sprach zu Wolkenfürst: »Wandern.«

Wolkenfürst sprach: »Ich möchte eine Frage an Euch richten.«

Urnebel blickte auf, sah den Wolkenfürst an und sprach: »Puh!«

Wolkenfürst sprach: »Des Himmels Kraft ist nicht in Einklang, der Erde Kraft ist gehemmt; die Kräfte der Atmosphäre sind in Mißklang, die Jahreszeiten sind in Unordnung. Ich möchte die reinste Kraft der Atmosphäre in Einklang bringen,[122] um allen Lebewesen Nahrung zu spenden. Was ist da zu tun?«

Urnebel hüpfte weiter, neigte den Kopf und sprach: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht!«

Und Wolkenfürst konnte ihn nichts mehr fragen.

Drei Jahre waren vergangen. Der Wolkenfürst wandelte wieder nach Osten. Als er am Gebiet des Wohnungsbesitzes vorüber war, traf er abermals auf den Urnebel.

Er war hocherfreut, eilte ihm entgegen und sprach: »Hast du mich vergessen, o Himmlischer? Hast du mich vergessen, o Himmlischer?« Zweimal verneigte er sich und berührte mit dem Haupt die Erde, wünschend, vom Urnebel etwas zu erfahren.

Urnebel sprach: »Ich schwebe umher und weiß nicht, was ich will; ich treibe mich herum und weiß nicht, wohin. Wandernd sehe ich mit verschränkten Armen zu, wie alles seine festen Bahnen geht. Was sollte ich da wissen können?«

Wolkenfürst sprach: »Auch ich halte dafür, daß ich ziellos mich umhertreibe. Aber die Menschen folgen mir, wohin ich gehe, und ich werde die Menschen nicht los; so bin ich der, nach dem sich alle Menschen richten. Darum möchte ich ein Wort von Euch hören.«

Urnebel sprach: »Daß die Ordnungen der Natur verwirrt sind, daß die Gefühle der Wesen unbefriedigt sind, daß der unerforschliche Ratschluß des Himmels nicht sich vollendet, daß die Herden der Tiere sich auflösen und die Vögel alle um Mitternacht rufen, daß Unheil kommt über Kraut und Baum, daß Wehe kommt über Schlange und Wurm: ach, all das kommt davon, daß man die Menschen in Ordnung bringen will!«

Wolkenfürst sprach: »Was soll ich aber dann machen?«

Urnebel sprach: »Ach, das ist alles Gift. Mach, daß du fortkommst!«

Wolkenfürst sprach: »Nicht leicht ist's, Euch zu begegnen, Himmlischer. Darum möchte ich ein Wort von Euch hören.«

Urnebel sprach: »Ach, wenn dein Herz fest ist, dann magst du untätig weilen beim Nicht-Handeln, und alle Dinge wandeln sich selber. Laß fahren deinen Leib; spei aus deine[123] Sinneseindrücke; werde gleichgültig und vergiß die Außenwelt; komm in Übereinstimmung mit dem Uranfang; löse dein Herz; entlaß deinen Geist; kehre zurück ins Unbewußte: dann kehren alle Wesen zurück zu ihrer Wurzel. Sie kehren zurück zu ihrer Wurzel, und du weißt es nicht, und die ungeschiedene Einheit verlassen sie nicht ihr Leben lang. Wenn du das Eine erkennst, so wird das Andere dich verlassen. Darum frage nicht nach dem Namen, spähe nicht nach den Beziehungen, und die Wesen werden von selber Leben haben!«

Wolkenfürst sprach: »Ihr seid mir genaht, Himmlischer, mit Eurem Geiste, und Ihr habt mir Euer Geheimnis offenbart. Was ich mein Leben lang erstrebt, heute habe ich's erhalten!«

Darauf verneigte er sich zweimal tief und berührte mit dem Haupt die Erde. Dann erhob er sich, nahm Abschied und ging.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 122-124.
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