6. Der Grenzwart des Blumenlandes

[132] Der Herrscher Yau besichtigte das Blumenland.

Der Grenzwart des Blumenlandes sprach: »Ei, ein Heiliger! Darf ich den Heiligen segnen? Ich wünsche dem Heiligen langes Leben.«

Yau sprach: »Ich lehne ab.«

»Ich wünsche dem Heiligen Reichtum.«

Yau sprach: »Ich lehne ab.«

»Ich wünsche dem Heiligen viele Söhne.«

Yau sprach: »Ich lehne ab.«

Der Grenzwart sprach: »Langes Leben, Reichtum und viele[132] Söhne sind die höchsten Wünsche der Menschen. Warum nur wünschest du sie nicht?«

Yau sprach: »Hat man viele Söhne, so hat man viele Sorgen. Ist man reich, so hat man viele Mühen. Wird man alt, so muß man viel Trübes erfahren. Diese drei Dinge sind nicht geeignet, die Tugend zu fördern. Darum lehne ich ab.«

Der Grenzwart sprach: »Erst hielt ich dich für einen Heiligen, und nun bist du bloß ein tugendhafter Mann. Gott gibt all den Tausenden von Menschen das Leben und gibt einem jeden etwas zu tun. Hat man viele Söhne und gibt einem jeden etwas zu tun, was braucht man da zu sorgen? Ist man reich und läßt die Menschen Anteil daran haben, was braucht man sich da zu mühen? Der Heilige wohnt wie eine Wachtel (ohne Nest); er läßt sich nähren wie ein Küchlein; er ist wie der Vogel, der fliegt und keine Spur hinterläßt. Ist SINN auf Erden, so genießt er mit allen Geschöpfen gemeinsam das Glück. Ist kein SINN auf Erden, so pflegt er sein LEBEN und wendet sich zur Muße. Und ist er nach tausend Jahren des Treibens müde, so läßt er's dahinten und steigt auf zu den seligen Geistern. Er fährt auf einer weißen Wolke empor zum Gottesland. Die Kümmernisse dieser Welt berühren ihn nicht: er bleibt ewig ohne Leid. Was für trübe Erfahrungen gibt es für ihn dann noch?«

Mit diesen Worten ließ ihn der Grenzwart stehen.

Yau ging ihm nach und sagte: »Darf ich fragen ...?«

Der Grenzwart aber sprach: »Vorbei.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 132-133.
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