14. Verblendung

[139] Der pflichttreue Sohn, der seinem Vater nicht schmeichelt, der treue Diener, der seinem Herrn nicht nach dem Munde redet, sind die Blüte der Diener und Söhne. Wenn einer allem, was sein Vater sagt, nur zustimmt und alles, was sein Vater tut, nur gutheißt, so nennt ihn die Welt einen untauglichen Sohn. Wenn einer allem, was sein Herr sagt, nur zustimmt und alles, was er tut, nur gutheißt, so nennt ihn die Welt einen untauglichen Diener, ohne zu bedenken, daß dieses Betragen einer gewissen Nötigung entspringt. Wenn aber die öffentliche Meinung etwas billigt und einer ihr zustimmt oder etwas gutheißt und einer es ihr nachtut, so nennt man einen solchen nicht einen Speichellecker und Schmeichler. Ist aber die öffentliche Meinung etwa wichtiger als der eigne Vater oder ehrwürdiger als der eigne Fürst? Nenne einen solchen Menschen einen Speichellecker, und er braust zornig auf; nenne ihn einen Schmeichler, und er schäumt über vor Ärger: und bleibt doch sein ganzes Leben lang ein Speichellecker und Schmeichler.

Wer schöne Reden drechselt, um die andern für sich zu gewinnen, der verwechselt Anfang und Ende, Wichtiges und Unwichtiges. Wenn einer seine Kleider schleppen läßt, sich mit bunten Farben schmückt, und alle seine Mienen darauf einrichtet, seinem Zeitalter angenehm zu sein, und dabei doch niemals auf den Gedanken kommt, sich einen Speichellecker und Schmeichler zu nennen, und dann noch andre als Schüler ihm nachfolgen und es ihm nachtun in Billigung und Tadel und dabei doch nicht auf den Gedanken kommen, sich Herdenmenschen zu nennen: das ist der Gipfel der Torheit. Wenn einer seine Torheit einsieht, so ist er noch nicht ganz betört; wenn einer seine Verblendung einsieht, so ist er noch nicht ganz verblendet. Wer ganz verblendet ist, der wird sein Leben lang nicht frei; wer ganz betört ist, wird sein Leben lang nicht klug. Wenn drei Leute miteinander gehen, und einer ist verblendet, so läßt es sich doch machen, daß sie ans Ziel gelangen, weil die Verblendung in der Minderzahl ist. Wenn aber zwei verblendet sind, so mühen sie sich ab und kommen[140] doch nicht an, weil die Verblendeten in der Mehrheit sind. Heutzutage aber ist die ganze Welt verblendet, und wenn ich sie auch anflehen wollte, den rechten Weg zu gehen, ich würde nichts erreichen. Ist das nicht jammervoll?

Edle Musik paßt nicht für Bauernohren. Wenn sie aber irgendeinen Gassenhauer hören, so brechen sie in brüllendes Gelächter aus. Ebenso haften hohe Worte nicht im Herzen der Masse. Worte der Wahrheit übertönen nicht das gemeine Geschrei. Mit zwei irdenen Töpfen kann man eine Glocke übertönen, also daß sie ungehört verhallt. Heutzutage aber ist die ganze Welt verblendet, und wenn ich sie auch anflehen wollte, den rechten Weg zu gehen, wie könnte ich etwas erreichen? Wenn man aber weiß, daß man nichts erreichen kann, und will es doch erzwingen, so ist es dieselbe Verblendung. Darum ist es besser, sie laufen zu lassen und sich nicht weiter um sie zu kümmern. Wenn ich mich aber um die Menschen nicht mehr kümmere, wen hab' ich dann, den Schmerz mit mir zu teilen?

Einem aussätzigen Manne ward um Mitternacht ein Sohn geboren. Eilig machte er Feuer an und betrachtete ihn, angstvoll besorgt, er möchte seinesgleichen sein.

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Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 139-141.
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