2. Dschuang Dsï über die Liebe

[156] Dang, der Kanzler des Staates Schang, befragte den Dschuang Dsï über die Liebe.

Dschuang Dsï sprach: »Tiger und Wölfe haben Liebe.«

Jener sprach: »Was soll das bedeuten?«

Dschuang Dsï sprach: »Die Alten und die Jungen sind anhänglich aneinander, das muß man doch als Liebe bezeichnen.«

Jener sprach: »Darf ich fragen, was die höchste Liebe ist?«

Dschuang Dsï sprach: »Die höchste Liebe kennt keine Anhänglichkeit.«

Der Kanzler sprach: »Ich habe sagen hören, ohne Anhänglichkeit gibt es keine Zuneigung, ohne Zuneigung gibt es keine kindliche Ehrfurcht. Ist es nun zulässig, zu behaupten, daß höchste Liebe keine kindliche Ehrfurcht kennt?«

Dschuang Dsï sprach: »Nicht also! Höchste Liebe ist etwas überaus Hohes. Der Begriff der kindlichen Ehrfurcht ist ungenügend, um sie zu bezeichnen. Was ich meine, ist nicht, daß kindliche Ehrfurcht zu weit gehe, sondern daß sie nicht daran heranreiche. Wenn einer nach Süden wandert, kommt er zuletzt nach Ying. Wenn er von dort nach Norden schaut, so sieht er nicht den großen Berg im Ozean. Warum? Er ist zu weit entfernt. Darum sage ich: kindliche Ehrfurcht aus Achtung ist leicht; kindliche Ehrfurcht aus Zuneigung ist schwer. Kindliche Ehrfurcht aus Zuneigung ist leicht; aber die Eltern zu vergessen, ist schwer. Die Eltern zu vergessen, ist leicht; aber zu machen, daß die Eltern uns vergessen, ist schwer. Zu machen, daß die Eltern uns vergessen, ist leicht; aber die ganze Welt zu vergessen, ist schwer. Die ganze Welt zu vergessen, ist leicht; aber zu machen, daß die ganze Welt uns vergißt, ist schwer.

Diese Tugend läßt die Heiligen Yau und Schun weit hinter sich zurück und tritt nicht hervor in einzelnen Taten. Sie spendet Segen allen Geschlechtern, und die Welt weiß es nicht. Wie will man da in einem Atemzug von Liebe und kindlicher Ehrfurcht reden? Was man so gewöhnlich unter kindlicher Ehrfurcht, Brüderlichkeit, Liebe und Pflicht, Treue[157] und Glauben, Reinheit und Uneigennützigkeit versteht, das sind alles Dinge, zu denen man sich gewaltsam aufschwingt, um der Tugend zu dienen; aber sie sind nicht viel wert. Darum heißt es: Wer höchsten Adel besitzt, für den sind die Ehren des Staates nur eine hohle Wand. Wer höchsten Reichtum besitzt, für den sind die Güter des Staates nur eine hohle Wand. Wer höchste Anerkennung besitzt, für den sind Name und Ruhm nur eine hohle Wand. Denn der SINN kann durch nichts anderes ersetzt werden.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 156-158.
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