5. Laotse belehrt den Konfuzius über den [162] Sinn

Kung Dsï war einundfünfzig Jahre lang auf Erden gewandelt und hatte noch nicht den (wahren) SINN der Welt vernommen. Da ging er südwärts nach Pe und besuchte den Lau Dan.

Lau Dan sprach: »So? Seid Ihr da? Ich höre, daß Ihr ein weiser Mann im Norden seid. Habt Ihr auch den SINN erlangt?«

Kung Dsï sprach: »Noch nicht.«

Lau Dsï sprach: »Wie habt Ihr ihn gesucht?«

Er sprach: »Ich habe ihn gesucht in Maß und Zahl fünf Jahre lang und habe ihn nicht erlangt.«

Lau Dsï sprach: »Und wie habt Ihr ihn dann gesucht?«

Er sprach: »Ich habe ihn gesucht in den Urkräften des Weltalls zwölf Jahre lang und habe ihn nicht erlangt.«[162]

Lau Dsï sprach: »Selbstverständlich! Wenn der SINN etwas wäre, das sich darbieten ließe, so würde ihn jedermann seinem Herrscher darbieten. Wenn der SINN etwas wäre, das sich überreichen ließe, so würde ihn jedermann seinen Eltern überreichen. Wenn der SINN etwas wäre, das sich anderen mitteilen ließe, so würde jedermann ihn seinen Brüdern mitteilen. Wenn der SINN etwas wäre, das sich an dern schenken ließe, so würde jedermann ihn seinen Söhnen und Enkeln schenken. Daß das aber nicht möglich ist, hat keinen andern Grund als den: Wo im Inneren kein Herr ist, da verweilt er nicht; wo im Äußeren nicht die rechte Art ist, da kommt er nicht. Wenn er, aus dem Inneren hervorgebracht, keine Aufnahme fände bei denen draußen, so holt ihn der Berufene nicht hervor (aus seinem Inneren, um ihn andern mitzuteilen). Wenn er, von außen eindringend, keinen Herrn fände im Inneren, so vertraut der Berufene ihn nicht an. Begriffe sind allgemeine Werkzeuge; man darf nicht zuviel darauf geben. Liebe und Pflicht sind Nothütten der alten Könige. Man kann darin eine Nacht verweilen, aber nicht dauernd darin wohnen, sonst stellen die, die uns zusehen, zu große Ansprüche an uns. Die höchsten Menschen der alten Zeit benützten die Liebe als Pfad und die Pflicht als Herberge, um zu wandern im Raum freier Muße. Sie nährten sich vom Feld der Wunschlosigkeit und standen im Garten der Bedürfnislosigkeit. Wandern in Muße ist Nicht-Handeln. Wunschlosigkeit ist leicht zu ernähren, und Bedürfnislosigkeit braucht keinen Aufwand. Die Alten nannten das: Wanderschaft, bei der man die Wahrheit pflückt. Die aber Reichtum für ihr Leben halten, sind nicht imstande, anderen ihr Einkommen zu gönnen. Die Berühmtheit für ihr Leben halten, sind nicht imstande, andern ihren Namen zu gönnen. Die der Macht zugetan sind, sind nicht imstande, andern Einfluß zu gewähren. Haben sie diese Güter in der Hand, so zittern sie, und wenn sie sie hergeben müssen, so kommen sie in Trauer, und das eine findet keinen Raum, wo es sich spiegeln könnte. Wenn man ihre ewige Rastlosigkeit betrachtet, so muß man sagen, daß das die Leute sind, die der Himmel zur Sklaverei verdammt hat.[163]

Mißgunst und Gunst, Nehmen und Geben, Lernen und Lehren, Zeugen und Töten: diese acht Dinge sind Werkzeuge des Vollkommenen. Aber nur der, der dem großen Wechsel zu folgen imstande ist und nirgends haftet, vermag sie sich zunutze zu machen. Darum heißt es: Wer andere recht macht, muß selber recht sein. Wer das im Herzen nicht erfahren hat, dem öffnen sich nicht die Tore des Himmels.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 162-164.
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