6. Dschuang Dsï und der König von We

[214] Dschuang Dsï hatte geflickte Kleider an von grobem Tuch, und seine Schuhe hatte er mit Stricken zugebunden. So kam er am König von We vorüber.

Der König von We sprach: »Was seid Ihr, Herr, in solcher Not?«

Dschuang Dsï sprach: »Armut, nicht Not! Wenn ein Mann im Besitz von SINN und LEBEN ist und sie nicht ausbreiten kann: das ist Not. Geringe Kleider und zerrissene Schuhe: das ist Armut, nicht Not. Das bedeutet, daß man seine Zeit nicht getroffen hat. – Habt Ihr, o König, noch nie einen Kletteraffen gesehen? Wenn er Platanen, Katalpen, Eichen und Kampferbäume hat, so klettert er in ihren Zweigen umher[214] als König und Herrscher unter ihnen. Selbst die geschicktesten Schützen können ihn nicht erspähen. Wenn er dagegen auf niederes Dorngestrüpp angewiesen ist, so geht er ängstlich, blickt zur Seite und bewegt sich zitternd voll Furcht. Es ist nicht also, daß seine Muskeln und Knochen steif geworden und nicht mehr gelenkig sind, sondern die Umstände, in denen er weilt, sind ihm nicht angepaßt. So kann er seine Geschicklichkeit nicht entfalten. Wer heutzutage unter betörten Herren und verwirrten Ministern weilen und ohne Not sein wollte, der begehrte Unmögliches. Die Art, wie dem Bi Gan das Herz aus dem Leibe geschnitten wurde, mag dafür als warnendes Beispiel dienen.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 214-215.
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