2. Worte und Weisheit

[219] Ein Weiser aus dem fernen Süden ging nach dem Staate Tsi. Als er in Lu übernachtete, da kamen Leute aus Lu, um ihn zu sehen.

Er aber lehnte ab, indem er sprach: »Ich höre, daß die Herren im Reich der Mitte sich vorzüglich verstehen auf allerlei Umgangsformen, aber gänzlich unzureichend sind, was die Kenntnis des Menschenherzens anlangt. Ich wünsche sie nicht zu sehen.«

Er kam nach dem Staate Tsi und kehrte zurück. Als er abermals in Lu übernachtete, baten dieselben Leute wieder, ihn sehen zu dürfen.

Da sprach er: »Kürzlich baten sie, mich zu sehen, und jetzt tun sie es wieder; die haben mir sicher etwas zu geben.«

So ging er hinaus und empfing die Gäste. Als er wieder in sein Zimmer ging, da seufzte er. Am andern Tag empfing er ebenfalls Gäste. Als er in sein Zimmer ging, da seufzte er wieder.

Da fragte sein Diener: »Immer wenn Ihr Gäste empfangen habt, geht Ihr seufzend ins Zimmer zurück. Was ist der Grund?«

Jener sprach: »Ich habe es ja gleich gesagt, daß die Leute im Reich der Mitte sich vorzüglich verstehen auf allerlei Umgangsformen, aber gänzlich unzureichend sind, was die Kenntnis des Menschenherzens anlangt. Die da eben kamen, um mich zu besuchen, waren in allen ihren Bewegungen[219] abgezirkelt und steif; in ihren Mienen waren sie geheimnisvoll wie ein Drache oder ernst wie ein Tiger. Sie machten mir Vorstellungen wie Söhne, sie suchten mich zu leiten wie Väter; deshalb seufzte ich.«

Kung Dsï besuchte ihn ebenfalls, aber sprach kein Wort.

Da sagte Dsï Lu: »Ihr hattet schon lange den Wunsch, jenen Weisen zu sehen, Meister. Nun sahet Ihr ihn und sprachet kein Wort. Was war der Grund?« Kung Dsï sprach: »Sowie ich einen Blick auf diesen Mann warf, da sah ich den ewigen SINN des Daseins hervorleuchten. Da war dann alles Reden überflüssig.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 219-220.
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