4. Der höchste Mensch II

[221] Kung Dsï besuchte den Lau Dan. Lau Dan hatte eben gebadet und ließ sein Haar zum Trocknen herabhängen. Er saß leblos da, allem Menschlichen vollkommen entrückt. Da wartete Kung Dsï.[221]

Nach einer Weile trat er vor ihn und sprach: »War ich geblendet, oder ist es wirklich so? Euer Körper, Herr, erschien mir eben erstarrt wie ein dürrer Baum, als hättet Ihr die Welt verlassen und Euch von den Menschen geschieden und stündet in der Einsamkeit.«

Lau Dan sprach: »Ich ließ mein Herz wandern im Anfang der Welt.«

Kung Dsï sprach: »Was bedeutet das?«

Er sprach: »Meine Seele ist gebunden und vermag nicht zu denken; mein Mund ist geschlossen und vermag nicht zu reden. Doch will ich dir davon erzählen, was der Sache nahe kommt. Das dunkle Prinzip in seiner höchsten Wirkung ist ernst und still; das lichte Prinzip in seiner Vollendung ist mächtig und wirksam. Das Ernste und Stille geht aus dem Himmel hervor; das Mächtige und Wirksame entwickelt sich aus der Erde. Wenn die beiden sich vereinigen und Harmonie wirken, so entstehen die Dinge. Es ist noch eine geheime Kraft, die diese Tätigkeiten ordnet; aber man sieht nicht ihre Gestalt. Der Wechsel von Zurückebben und Ausatmen, von Fülle und Leere, von Dunkel und Licht, der Wandel der Sonne und die Änderungen des Mondes: das alles findet fortwährend statt, aber man kann nicht sehen, wie es zustande kommt. Das Leben hat einen Anfang, aus dem es hervorsproßt; das Sterben hat einen Endpunkt, zu dem es sich wendet. Anfang und Ende lösen einander ab ohne Unterbrechung, und man kann nicht erkennen die letzte Ursache. Wenn es nicht jene geheime Kraft ist, die das regelt, worauf geht dann alles zurück?«

Kung Dsï sprach: »Darf ich fragen, wie man zu dieser Kraft gelangen kann?« Lau Dan sprach: »Sie zu erreichen, ist höchste Schönheit und höchste Seligkeit. Wer höchste Schönheit erreicht und sich höchster Seligkeit erfreut: das ist der höchste Mensch.«

Kung Dsï sprach: »Ich würde gern hören, wie man dazu gelangt.«

Jener sprach: »Grasfressende Tiere weigern sich nicht, ihren Weideplatz zu wechseln; im Wasser lebende Geschöpfe weigern sich nicht, das Wasser zu wechseln. Sie halten kleine Veränderungen[222] aus, ohne die beständigen Gesetze ihrer Natur zu verlieren. (Wer als Mensch diesen Standpunkt erreicht hat), in dessen Brust finden Lust und Zorn, Trauer und Freude keinen Eingang mehr. Nun ist das, was man Welt nennt, die Einheit aller Geschöpfe. Wer diese Einheit erreicht und mit ihr übereinstimmt, für den ist sein Körper mit allen seinen Gliedern nur Staub und Erde. Leben und Tod, Anfang und Ende sind für ihn wie Tag und Nacht. Sie vermögen ihn nicht zu betören, wieviel weniger wird das, was als Gewinn oder Verlust, als Unglück oder Glück ihm naht, ihn betören können! Wer darum Amt und Würden wegwirft, der ist, als würfe er Schlamm und Erde weg, denn er weiß, daß sein Ich edler ist als sein Amt. Der Adel beruht auf dem eigenen Ich und geht nicht verloren durch äußere Veränderungen. Auch ändert sich alles, und kein Ziel ist abgemessen. Wie wäre es deshalb der Mühe wert, das Herz zu bekümmern? Wer selbst im LEBEN wirkt, für den löst sich das alles auf.«

Kung Dsï sprach: »Euer Leben kommt Himmel und Erde gleich, und dennoch habt Ihr wohl höchste Worte der Weisheit vernommen, deren Ihr Euch bedient, um Eure Seele zu bilden. Wer aber von den großen Männern des Altertums war imstande, solche Worte auszusprechen?«

Lau Dan sprach: »Nicht also! Das Wasser eines Sprudels tut selber nichts, sondern folgt einfach seiner Natur. Also verhält sich der höchste Mensch zum LEBEN. Er sucht nichts zu bilden, und dennoch kann sich kein Wesen seinem Einfluß entziehen. Er ist wie der Himmel, der hoch ist durch sich selber, wie die Erde, die fest ist durch sich selber, wie Sonne und Mond, die klar sind durch sich selber. Was bedarf es da der Bildung?«

Kung Dsï verließ ihn und sagte über diese Unterhaltung zu Yen Hui: »Ich bin gegenüber dem SINN nicht besser als ein Essigälchen. Hätte der Meister nicht die Decke von meinen Augen gehoben, so hätte ich niemals die große Vollkommenheit von Himmel und Erde erkannt.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 221-223.
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