9. Die Zeitlichkeit

[233] Jan Kiu befragte den Kung Dsï und sprach: »Kann man wissen, wie es war, als Himmel und Erde noch nicht bestanden?«

Kung Dsï sprach: »Ja, das Einst gleicht dem Jetzt.«

Jan Kiu fragte nicht und zog sich zurück.

Am andern Tag trat er wieder vor den Meister und sprach: »Gestern fragte ich, ob man wissen könnte, wie es war, als Himmel und Erde noch nicht bestanden, und Ihr antwortetet: ›Ja, das Einst ist wie das Jetzt.‹ Gestern war mir die Sache klar, aber heute versteh ich's nicht mehr. Darf ich fragen, was das bedeutet?«

Kung Dsï sprach: »Daß dir gestern die Sache klar war, kam daher, daß du (meine Antwort) schon vorher im Geiste empfingst. Daß du es heute nicht mehr verstehst, kommt daher, daß du auf eine nicht geistige Weise es zu erfassen strebst. Hältst du es für möglich, daß es kein Einst und kein Jetzt gibt, keinen Anfang und kein Ende; daß, ehe Söhne und Enkel da sind, es schon Söhne und Enkel gibt?«

Jan Kiu erwiderte nichts.

Kung Dsï sprach: »Gut, antworte noch nicht! Durch das Leben wird nicht der Tod lebendig; durch das Sterben wird nicht das Leben getötet. Leben und Tod sind bedingt; sie sind umschlossen von Einem großen Zusammenhang. Es gab Dinge, die der Entstehung von Himmel und Erde vorausgingen; aber was den Dingen ihre Dinglichkeit gibt, ist nicht[233] selbst ein Ding. Innerhalb der Welt der Dinge aber kann man nicht jenseits der Dinge zurückgehen, und da es zu jeder Zeit Dinge gab, ist kein Aufhören. Der berufene Heilige, der die Menschen liebt, ohne jemals damit aufzuhören, hat ebenfalls diese Wahrheit erkannt.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 233-234.
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