5. Die Wahrheit und die Schulen

[254] Dschuang Dsï sprach: »Wenn ein Schütze, der ohne zu zielen trifft, ein guter Schütze genannt werden könnte, so wären alle Menschen auf der Welt Schützenkönige. Zugegeben?«

Hui Dsï sprach: »Zugegeben.«

Dschuang Dsï sprach: »Wenn es auf Erden keine allgemeine Wahrheit gäbe und jeder seine Wahrheit für wahr erklärte,[254] dann wären alle Menschen auf der Welt Propheten. Zugegeben?«

Hui Dsï sprach: »Zugegeben.«

Dschuang Dsï sprach: »Nun aber gibt es die Ethiker (Konfuzianer), die Philanthropen (Schüler des Mo Di), die Pessimisten (Schüler des Yang Dschu), die Sophisten (Schüler des Gung Sun Lung). Das sind vier Schulen; mit Euch, o Meister, sind es zusammen fünf. Wer hat nun wirklich recht? Oder ist es wie in der Geschichte von Lu Gü? Zu dem sprach einer seiner Schüler: ›Ich habe Euren SINN erfaßt, Meister. Ich kann im Winter meinen Kessel erhitzen und im Sommer Eis machen.‹ Lu Gü sprach: ›Das kommt nur davon her, daß du die (zur Zeit der Wintersonnenwende aufsteigende) lichte Kraft benützest, um ihre Wärme dir dienstbar zu machen, daß du die (zur Zeit der Sommersonnenwende zur Herrschaft gelangende) trübe Kraft benützest, um ihre Kälte dir dienstbar zu machen. Derartige Kunststücke sind nicht das, was ich unter SINN verstehe. Ich will dir meinen SINN zeigen.‹ Mit diesen Worten stimmte er zwei Lauten. Er setzte die eine in den Saal und die andere ins Nebenzimmer. Als er nun auf der einen den Grundton anschlug, da klang auf der anderen der Grundton mit; als er auf der einen die Terz anschlug, klang auf der anderen die Terz mit, weil beide auf denselben Grundton gestimmt waren. Wenn man die Saiten der einen in ihrer Stimmung verändert, so daß die einzelnen Töne einander nicht mehr entsprechen, und man schlägt auf der einen einen Ton an, so klingen auf der andern alle fünfundzwanzig Saiten wirr durcheinander. Im angeschlagenen Ton ist kein Unterschied, aber die herrschende Tonart ist nicht mehr da. Verhält es sich also mit dem, was Ihr für Wahrheit haltet?«

Hui Dsï antwortete: »Gesetzt, daß alle jene vier Philosophenschulen sich anschickten, mit mir zu disputieren, daß sie mich zu überwältigen suchten mit ihren Worten, daß sie mich zu übertäuben suchten mit ihrem Geschrei und wären doch nicht imstande, mich ins Unrecht zu setzen, wie wäre das?«

Dschuang Dsï sprach: »Du machst es wie jener Mann, der seinen Sohn ins Ausland schickte, um als Türhüter zu dienen,[255] unbekümmert darum, daß man den Türhütern die Füße abschneidet, und der für seine Vasen und Glocken sorgte, indem er sie vorsichtig einwickelte, oder wie einer, der seinen verlorenen Sohn suchen wollte, ohne seine Nachbarschaft zu verlassen. Es liegt eine Verkennung der Verhältnisse in diesem Benehmen. Wie jener andere, der auf einem Schiffe fuhr zu dem Ort, wo er Türhüter werden sollte, und mitten in der Nacht, während niemand um den Weg war, sich in Streit einließ mit den Bootsleuten. Ehe er imstande war, ans Ufer zu kommen, hatte er sich schon genügend Belästigungen zugezogen.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 254-256.
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