§ 1. Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete.

[387] »Öffentliches« und »Privatrecht« S. 387. – »Anspruchverleihendes Recht und Reglement« S. 388. – »Regierung« und »Verwaltung« S. 389. – »Kriminalrecht« und »Zivilrecht« S. 390. – »Unrechtmäßigkeit« und »Delikt« S. 391. – »Imperium«, »Gewaltbegrenzung« und »Gewaltenteilung« S. 393. – »Recht« und »Prozeß« S. 394. – Die Kategorien des rationalen Rechtsdenkens S. 395.


Die heutige Rechtstheorie und Rechtspraxis kennt als eine der wichtigsten Scheidungen diejenige von »öffentlichem« und »Privatrecht«. Zwar über das Prinzip der Abgrenzung herrscht Streit.


1. Das öffentliche Recht einfach, der soziologischen Scheidung entsprechend, als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der Rechtsordnung zu unterstellenden Sinne nach, staatsanstaltsbezogene, d.h.: dem Bestande, der Ausdehnung und der direkten Durchführung der jeweiligen, kraft Satzung oder einverständnismäßig geltenden, Zwecke der Staatsanstalt als solcher dienende Handeln zu definieren, das Pri vatrecht aber als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der Rechtsordnung unterstellten Sinne nach, nicht staatsanstaltsbezogene, sondern nur von der Staatsanstalt durch Normen geregelte Handeln anzusehen, scheint durch den unformalen Charakter dieser Scheidung technisch erschwert. Dennoch liegt diese Art der Unterscheidung letztlich fast allen Grenzabsteckungen zugrunde.

2. Diese Scheidung verschlingt sich oft mit einer anderen: Man könnte »öffentliches« Recht identifizieren mit der Gesamtheit der »Reglements«, also: der ihrem richtigen juristischen Sinn nach nur Anweisungen an die Staatsorgane enthaltenden, nicht aber erworbene subjektive Rechte Einzelner begründenden Normen, im Gegensatz zu den »Anspruchsnormierungen«, welche solche subjektiven Rechte begründen. Der Gegensatz müßte aber zunächst richtig verstanden werden. Auch öffentlich-rechtliche Normen, z.B. diejenigen über eine Präsidentenwahl, können subjektive und dabei dennoch »öffentliche« Rechte Einzelner begründen, zum Beispiel: das Recht zu wählen. Aber dieses öffentliche Recht des Einzelnen gilt heute allerdings dem juristischen Sinne nach nicht als ein erworbenes Recht im gleichen Sinn wie etwa das Eigentum, welches prinzipiell als für den Gesetzgeber selbst unantastbar gilt und eben deshalb von ihm anerkannt wird. Denn die subjektiven öffentlichen Rechte des Einzelnen gelten dem juristischen Sinne nach in Wahrheit als subjektive Zuständigkeiten des Einzelnen, für bestimmt begrenzte Zwecke als Organe der Staatsanstalt zu handeln. Sie können also trotz der Form des subjektiven Rechts, die sie annehmen, in Wahrheit dennoch als bloße Reflexe eines Reglements, nicht als Ausfluß einer objektiven Anspruchsnormierung angesehen werden. Allein auch bei weitem nicht alle jeweils in einer Rechtsordnung bestehenden, in dem oben unter 1. bezeichneten Sinn privatrechtlichen, Ansprüche sind »erworbene« subjektive Rechte. Selbst der jeweils zugelassene Inhalt des Eigentumsrechts kann als »Reflex« der Rechtsordnung gelten, und die Frage, ob ein Recht als »erworben« gilt, reduziert sich oft praktisch nur auf die Frage: ob seine Beseitigung Entschädigungsansprüche nach sich ziehe. Man könnte also vielleicht behaupten, daß alles öffentliche Recht dem juristischen Sinne nach nur Reglement sei, nicht aber, daß jedes Reglement nur öffentliches Recht schaffe. In Rechtsordnungen aber, wo die Regierungsgewalt als erworbenes patrimoniales Recht eines Monarchen gilt, oder wo umgekehrt gewisse[387] subjektive Bürgerrechte als schlechthin in gleichem Sinn wie das »erworbene« Privatrecht unentziehbar gelten (z.B. kraft »Naturrecht«), träfe auch nicht einmal dies zu.

3. Und endlich könnte man die Scheidung so vornehmen, daß man alle die Rechtsangelegenheiten, bei denen einander mehrere, dem juristischen Sinne nach als »gleichgeordnet« geltende Parteien gegenübertreten, deren Rechtsphären abzugrenzen der juristisch »richtige« Sinn der Tätigkeit, sei es des Gesetzgebers, sei es des Richters, sei es der betreffenden Parteien selbst (durch Rechtsgeschäft) ist, als »privatrechtliche« von den öffentlich-rechtlichen scheidet, bei wel chen ein, dem juristischen Sinne nach, präeminenter Gewaltenträger mit autoritärer Befehlsgewalt anderen ihm, dem juristischem Sinn der Normen nach, »unterworfenen« Personen gegenübertritt. Allein nicht jedes Organ der Staatsanstalt hat Befehlsgewalt, und das öffentlich-rechtlich geregelte Handeln der staatlichen Organe ist nicht immer ein Befehl. Sodann ist offenkundig gerade die Regulierung der Beziehungen zwischen mehreren Staatsorganen, also gleichmäßig präeminenten Gewaltenträgern, die eigentlich interne Sphäre des »öffentlichen« Rechts. Und ferner müssen nicht nur die unmittelbar zwischen Gewaltenträgern und Gewaltunterworfenen bestehenden Beziehungen, sondern [es muß] auch dasjenige Handeln der Gewaltunterworfenen, welches der Bestellung und Kontrolle des oder der präeminenten Gewaltenträger dient, zur Sphäre des »öffentlich-rechtlich« regulierten Handelns geschlagen werden. Dann aber führt diese Art der Scheidung offenbar weitgehend in die Bahnen der oben zuerst angegebenen zurück. Sie behandelt nicht jede autoritäre Befehlsgewalt und deren Beziehungen zu den Gewaltunterworfenen als öffentlich-rechtlich. Diejenige des Arbeitgebers offenbar deshalb nicht, weil sie durch »Rechtsgeschäfte« zwischen formal »Gleichgeordneten« entsteht. Aber auch diejenige des Hausvaters wird als privatrechtliche Autorität behandelt, offenbar nur deshalb, weil die Staatsanstalt allein als Quelle legitimer Gewalt gilt und daher nur dasjenige Handeln, welches seinem von der Rechtsordnung zu unterstellenden Sinne nach auf die Erhaltung der Staatsanstalt und die Durchführung der von ihr sozusagen in eigene Regie genommenen Interessen bezogen ist, als »öffentlich«-rechtlich relevant gilt. Welche Interessen nun jeweils als von der Staatsanstalt selbst wahrzunehmende gelten, ist bekanntlich auch heute wandelbar. Und vor allem kann ein Interessengebiet durch gesatztes Recht absichtlich derart geregelt werden, daß die Schaffung von Privatansprüchen Einzelner und von Befehlsgewalten oder anderen Funktionen von Staatsorganen sogar für ein- und denselben Sachverhalt konkurrierend nebeneinanderstehen.


Auch heute also ist die Abgrenzung der Sphäre von öffentlichem und privatem Recht nicht überall eindeutig. Noch weit weniger war dies in der Vergangenheit der Fall. Die Möglichkeit der Scheidung kann geradezu fehlen. Dann nämlich, wenn alles Recht und alle Zuständigkeiten, insbesondere auch alle Befehlsgewalten gleichmäßig den Charakter des persönlichen Privilegs (beim Staatsoberhaupt meist »Prärogative« genannt) an sich tragen. Dann ist die Befugnis, in einer bestimmten Sache Recht zu sprechen oder jemanden zum Kriegsdienst aufzubieten oder von ihm sonst Gehorsam zu verlangen, genauso ein »erworbenes« subjektives Recht und eventuell ganz ebenso Gegenstand eines Rechtsgeschäfts, einer Veräußerung oder Vererbung, wie etwa die Befugnis, ein bestimmtes Stück Acker zu nutzen. Die politische Gewalt hat dann eben juristisch keine anstaltsmäßige Struktur, sondern wird durch konkrete Vergesellschaftungen und Kompromisse der verschiedenen Inhaber und Prätendenten subjektiver Befehlsbefugnisse dargestellt. Die politische Befehlsgewalt gilt dann als von derjenigen des Hausvaters, Grundherrn, Leibherrn nicht wesensverschieden: der Zustand des »Patrimonialismus«. Soweit eine solche Struktur des Rechts jeweils reicht – und sie war niemals in alle letzten Konsequenzen durchgeführt –, soweit ist juristisch alles, was unserem »öffentlichen« Recht entspricht, Gegenstand von subjektivem Recht konkreter Gewalthaber, genau wie ein Privatrechtsanspruch.

Die Gestaltung des Rechts kann aber auch den gerade entgegengesetzten Charakter annehmen und das in dem zuletzt verwendeten Sinn »private« Recht auf weiten Gebieten, die ihm heute zufallen, gänzlich fehlen. Dann nämlich, wenn alle Normen fehlen, welche den Charakter anspruchsverleihenden objektiven Rechts haben, wenn also der gesamte überhaupt geltende Normenkomplex juristisch den Charakter des »Reglements« hat, d.h. also: alle privaten Interessen nicht als garantierte[388] subjektive Ansprüche, sondern nur als Reflexe der Geltung jener Reglements die Chance des Schutzes besitzen. Soweit dieser Zustand reicht – und auch er hat nie universell geherrscht –, soweit löst sich alles Recht in einen Zweck der Verwaltung: die »Regierung« auf. »Verwaltung« ist kein Begriff nur des öffentlichen Rechts. Es gibt private Verwaltung, etwa des eigenen Haushalts oder eines Erwerbsbetriebs, und öffentliche, d.h. durch die Anstaltsorgane des Staats oder anderer, von ihm dazu legitimierter, also heteronomer öffentlicher Anstalten geführte Verwaltung. Der Kreis der »öffentlichen« Verwaltung umfaßt nun in seinem weitesten Sinne dreierlei: Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und das, was an öffentlicher Anstaltstätigkeit nach Abzug jener beiden Sphären übrig bleibt: »Regierung«, wollen wir hier sagen. Die »Regierung« kann an Rechtsnormen gebunden und durch erworbene subjektive Rechte beschränkt sein. Dies teilt sie dann mit der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung. Aber darin liegt nur zweierlei: 1. positiv: der Legitimitätsgrund ihrer eigenen Zuständigkeit: eine moderne Regierung entfaltet ihre Tätigkeit kraft legitimer »Kompetenz«, welche juristisch letztlich stets als auf der Ermächtigung durch die »Verfassungs«-Normen der Staatsanstalt beruhend gedacht wird. Und ferner ergibt jene Gebundenheit an geltendes Recht und erworbene Rechte 2. negativ: die Schranken ihrer freien Bewegung, mit denen sie sich abzufinden hat. Ihr spezifisches eigenes Wesen aber besteht positiv gerade darin, daß sie nicht nur die Respektierung oder Realisierung von geltendem objektivem Recht, lediglich deshalb, weil es einmal als solches gilt und erworbene Rechte darauf beruhen, zum Objekt hat, sondern die Realisierung von anderen, materialen, Zwecken: politischen, sittlichen, utilitarischen oder welchen Charakters immer. Der Einzelne und seine Interessen sind für die »Regierung«, dem juristischen Sinn nach, grundsätzlich Objekt, nicht Rechtssubjekt. Gerade im modernen Staat besteht allerdings die Tendenz, Rechtsfindung und »Verwaltung« (im Sinn von »Regierung«) einander formal anzunähern. Innerhalb der Rechtspflege nämlich wird dem heutigen Richter teils durch positive Rechtsnormen, teils durch Rechtstheorien nicht selten zugemutet, nach materialen Grundsätzen, Sittlichkeit, Billigkeit, Zweckmäßigkeit, zu entscheiden. Und gegenüber der »Verwaltung« gibt die heutige Staatsorganisation dem Einzelnen, der im Prinzip nur ihr Objekt ist, dennoch Mittel der Wahrung seiner Interessen an die Hand, welche mindestens formell denjenigen der Rechtsfindung gleichartig sind: die »Verwaltungsgerichtsbarkeit«. Aber alle diese Garantien vermögen dennoch den erwähnten letzten Gegensatz von Rechtspflege und »Regierung« nicht zu beseitigen. Der Rechtsschöpfung andererseits nähert sich die »Regierung« überall da an, wo sie, auf die ganz freie Verfügung von Fall zu Fall verzichtend, generelle Reglements für die Art der Erledigung typischer Geschäfte schafft, und zwar in einem gewissen Grade selbst dann, wenn sie selbst sich an diese nicht gebunden hält. Denn immerhin wird diese Bindung als das Normale auch dann von ihr erwartet und das Gegenteil als »Willkür« normalerweise zum mindesten konventionell mißbilligt.

Der urwüchsige Träger aller »Verwaltung« ist die Hausherrschaft. In ihrer primitiven Schrankenlosigkeit gibt es subjektive Rechte der Gewaltunterworfenen dem Hausherrn gegenüber nicht und objektive Normen für sein Verhalten ihnen gegenüber nur allenfalls als heteronomen Reflex sakraler Schranken seines Handelns. Urwüchsig ist demgemäß auch das Nebeneinanderstehen der prinzipiell ganz schrankenlosen Verwaltung des Hausherrn innerhalb der Hausgemeinschaft auf der einen Seite und des auf Sühne- und Beweisvertrag beruhenden Schiedsverfahrens zwischen den Sippen andererseits. Nur hier wird über »Ansprüche«, subjektive Rechte also, verhandelt und ein Wahrspruch abgegeben. Nur hier finden sich – wir werden sehen: weshalb – feste Formen, Fristen, Beweisregeln, kurz die Anfänge einer »juristischen« Behandlung. Das Verfahren des Hausvaters im Umkreis seiner Gewalt weiß von alledem nichts. Es ist ebenso die primitive Form der »Regierung« wie jenes die der Rechtsfindung. Beide scheiden sich auch der Sphäre nach voneinander. An der Schwelle des Hauses machte noch die antike römische Justiz unbedingt halt. Wir[389] werden sehen, wie das Hausherrschaftsprin zip über seinen ursprünglichen Umkreis hinaus auch auf gewisse Arten der politischen Gewalt: das Patrimonialfürstentum, und dadurch auch der Rechtsfindung übertragen worden ist. Wo immer dies der Fall ist, wird die Schranke zwischen Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und Regierung durchbrochen. Die Folge kann aber eine doppelte sein: entweder die Rechtsfindung nimmt formal und sachlich den Charakter von »Verwaltung« an, vollzieht sich wie diese ohne feste Formen und Fristen, nach Zweckmäßigkeits- und Billigkeitsgesichtspunkten durch einfache Bescheide und Befehle des Herrn an die Unterworfenen. In voller Durchführung findet sich dieser Zustand nur in Grenzfällen, Annäherungen daran aber bietet der »Inquisitions«-Prozeß und jede Anwendung der »Offizialmaxime«. Oder umgekehrt: »Verwaltung« nimmt die Form eines Prozeßverfahrens an, – dies war sehr weitgehend in England der Fall und ist es teilweise noch. Das englische Parlament verhandelt über »private bills«, d.h. reine Verwaltungsakte (Konzessionen u. dgl.), im Prinzip ganz so wie über »Gesetzentwürfe«, und die Nichtscheidung beider Sphären ist dem älteren Parlamentsverfahren durchweg eigentümlich, für die Stellung des Parlaments geradezu entscheidend gewesen: es war eben als eine Gerichtsbehörde entstanden und wurde in Frankreich ganz zu einer solchen. Politische Umstände bedingten diese Verwischung der Grenzen. Aber auch bei uns wird das Budget, eine Verwaltungsangelegenheit, nach englischem Muster und aus politischen Gründen, als »Gesetz« behandelt. Flüssig wird andererseits der Gegensatz von »Verwaltung« gegenüber dem »Privatrecht« da, wo das Organhandeln der Verbandsorgane die gleichen Formen wie die Vergesellschaftung zwischen Einzelnen annimmt: wenn also Verbandsorgane kraft ihrer Pflicht als solche eine »Vereinbarung« (Kontrakt) mit Einzelnen, es sei[en] Verbandszugehörige oder andere, schließen über Leistungen und Gegenleistungen zwischen Verbandsvermögen und Vermögen der Einzelnen. Diese Beziehungen werden dann nicht selten den Normen des »Privatrechts« entzogen und abweichend sowohl inhaltlich wie in der Art ihrer Garantie geordnet, den Normen der »Verwaltung« unterstellt. Dadurch hören die Ansprüche der beteiligten Einzelnen, wenn immer sie nur durch Zwangschancen garantiert sind, nicht auf, »subjektive Rechte« zu sein, und die Unterscheidung ist insoweit nur technischer Natur. Als solche kann sie freilich praktisch erhebliche Tragweite gewinnen. Aber es bedeutet doch eine völlige Verkennung der Gesamtstruktur des römischen (antiken) »Privatrechts«, wenn man in dieses nur die mittels des ordentlichen Geschworenenverfahrens auf Grund der »lex« zu verfolgenden Ansprüche und nicht die durch magistratische Kognition zu erledigenden Rechte einbezieht, welchen zeitweilig eine praktisch ungeheuer überwiegende ökonomische Bedeutung zukam.

Ähnlich frei von Beschränkungen durch subjektive Rechte und objektive Normen wie die primitive Macht des Hausherrn kann die Autorität von Magiern und Propheten und unter Umständen auch die Macht der Priester sein, soweit ihre Quelle konkrete Offenbarung ist. Davon ist teils schon gesprochen, teils wird davon noch zu reden sein. Der magische Glaube ist aber auch eine der urwüchsigen Quellen des »Strafrechts« im Gegensatz zum »Zivilrecht«. Die uns heute geläufige Sonderung: daß in der Strafjustiz ein öffentliches, sei es sittliches oder utilitarisches Interesse an der Sühnung eines Verstoßes gegen objektive Normen durch Strafe von seiten der Organe der Staatsanstalt gegen den Verdächtigen unter den Garantien einer geordneten Prozedur wahrgenommen wird, während die Wahrnehmung privater Ansprüche dem Verletzten überlassen bleibt und nicht Strafe, sondern Herstellung des vom Recht garantierten Zustandes zur Folge hat, ist selbst heute nicht ganz eindeutig durchgeführt. Der urwüchsigen Rechtspflege ist sie fremd. Wir werden sehen, daß bis tief in sonst sehr entwickelte Rechtszustände hinein ursprünglich schlechthin jede Klage eine Klage ex delicto war, »Verpflichtungen« und »Verträge« dem Recht ursprünglich gänzlich unbekannt waren. Ein Recht wie das chinesische zeigt noch heute, die Nachwirkungen dieses in allen Rechtsentwicklungen sehr wichtigen Tatbestandes. Jede Verletzung der Prätentionen der eigenen Sippe auf Unverletzlichkeit[390] von Person und beanspruchtem Besitz durch Sippenfremde erheischt im Prinzip Rache oder Sühne, und diese sich zu verschaffen, ist Sache des Verletzten unter dem Beistand seiner Sippe. Das Sühneverfahren zwischen den Sippen kennt zunächst eine Scheidung des racheheischenden Frevels von bloßen restitutionspflichtigen Unrechtmäßigkeiten nicht oder nur in Ansätzen. Die Ungeschiedenheit von bloßer, nach unseren Begriffen »zivilrechtlicher« Anspruchsverfolgung und der Erhebung einer auf »Strafe« antragenden Anklage in dem einheitlichen Begriff der »Sühne« für geschehenes Unrecht findet ihre Stütze in zwei Eigentümlichkeiten des primitiven Rechtes und Rechtsganges: 1. dem Fehlen der Berücksichtigung der »Schuld« und also auch des durch die »Gesinnung« definierten Schuldgrades. Der Rachedurstige fragt nicht nach dem subjektiven Motiv, sondern nach dem sein Gefühl beherrschenden objektiven Erfolg des sein Rachebedürfnis erregenden fremden Handelns. Sein Zorn wütet gegen tote Naturobjekte, an denen er sich unerwartet beschädigt, gegen Tiere, die ihn unerwartet verletzen (so auch im ursprünglichen Sinn der römischen actio de pauperie: – Haftung dafür, daß das Tier sich anders verhält, als es sollte! – und der noxae datio von Tieren zur Rache), und gegen Menschen, die ihn unwissentlich, fahrlässig, vorsätzlich kränken, ganz gleichmäßig, Jedes Unrecht ist daher sühnepflichtiges »Delikt«, und kein Delikt ist etwas mehr als ein sühnepflichtiges »Unrecht«. Ferner aber 2. wirkt die Art der »Rechtsfolgen« des »Urteils«, der »Exekution« – wie wir sagen würden –, im Sinn der Erhaltung dieser Ungeschiedenheit. Denn sie ist die gleiche, mag es sich um den Streit um ein Grundstück oder um Totschlag handeln. Eine Exekution des Urteils »von Amts wegen« gibt es ursprünglich, oft auch bei schon leidlich fest geordnetem Sühneverfahren, nicht. Man erwartet von dem unter Benutzung von Orakeln und Zaubermitteln, eidlicher Anrufung der magischen oder göttlichen Gewalten zustandegekommenen Wahrspruch, daß seine durch Scheu vor bösem Zauber geschützte Autorität sich Geltung verschaffe, weil seine Verletzung ein schwerer Frevel ist. Da, wo – infolge bestimmter, bald zu erwähnender militärischer Entwicklungen – dies Sühneverfahren die Form eines Rechtsganges vor einer Dinggenossenschaft angenommen hat und diese als »Umstand« an der Entstehung des Urteils beteiligt ist – wie bei den Germanen in historischer Zeit –, darf überdies auch als Folge dieser Assistenz gewärtigt werden, daß kein Dingge nosse dem Vollzug des einmal gesprochenen und nicht oder nicht mit Erfolg gescholtenen Urteils etwas in den Weg legen werde. Aber mehr als dies passive Verhalten hat der obsiegende Teil nicht zu erwarten. Es ist an ihm und seiner Sippe, durch Selbsthilfe dem ihnen günstigen Urteil Nachachtung zu verschaffen, wenn diese nicht alsbald von selbst erfolgt, und bei den Germanen wie in Rom erfolgt diese Selbsthilfe normalerweise – einerlei ob Streit um ein Sachgut oder um Totschlag vorlag – durch Pfandnahme der Person des Verurteilten bis zur Begleichung der durch den Wahrspruch festgesetzten oder aber nunmehr erst zu vereinbarenden Sühne. Das imperium des Fürsten oder Magistrats erst schreitet im politischen Interesse der Befriedung gegen den ein, der die Vollstreckung stört, und bedroht von sich aus den Widerstand des Verurteilten mit Rechtsnachteilen bis zur völligen Friedloslegung, stellt schließlich direkt amtliche Apparate zur Vollstreckung zur Verfügung. Alles das zunächst ohne Scheidung »zivilrechtlicher« von »kriminellen« Prozeduren. Diese ursprüngliche völlige Ungeschiedenheit wirkt in denjenigen Rechten, welche, unter dem Einfluß spezifischer Rechtshonoratioren, wie wir sehen werden, am längsten gewisse Elemente der Kontinuität der Entwicklung aus der alten Sühnejustiz bewahrten und am wenigsten »bürokratisiert« wurden: dem römischen und dem englischen z.B., noch nach in der Ablehnung der Realexekution zur Wiedererlangung konkreter Objekte. Die Verurteilung erfolgt grundsätzlich, bei einer Eigentumsklage um ein Grundstück z.B., in Geld. Dies ist nicht etwa Folge einer vorgeschrittenen Marktentwicklung, die alles in Geld abzuschätzen gelehrt hat, sondern Konsequenz des urwüchsigen Prinzips, daß Unrechtmäßigkeit, auch unrechtmäßiger Besitz, Sühne und nur Sühne heischt und der Einzelne dafür mit seiner Person einzustehen hat. Die Realexekution[391] ist auf dem Kontinent im frühen Mittelalter, entsprechend der schnell steigenden Macht des fürstlichen imperium, relativ früh durchgeführt worden. Dagegen ist bekannt, durch welche eigentümlichen Fiktionen sich der englische Prozeß bis in die neueste Zeit half, um sie bei Grundstücken zu ermöglichen. In Rom war die allgemeine Minimisierung der Offizialtätigkeit – wie wir später sehen werden: eine Folge der Honoratiorenherrschaft – der Grund für das Fortbestehen der Geldkondemnation statt der Realexekution.

Der gleiche Umstand, daß grundsätzlich eine Klage ursprünglich stets nicht nur ein objektiv bestehendes Unrecht, sondern einen Frevel des Verklagten voraussetzte, hat auch das materielle Recht sehr tiefgehend beeinflußt. Alle »Obligationen« ohne Ausnahme waren ursprünglich Deliktsobligationen; die Kontraktsobligationen sind daher, wie wir noch sehen werden, durchweg zuerst deliktartig konstruiert worden, in England noch im Mittelalter formell an fiktive Delikte angeknüpft worden. Daß Schulden ursprünglich nicht auf den »Erben« als solchen übergehen, hat, neben dem Fehlen der Vorstellung von einem »Erbrecht« überhaupt, auch darin seinen Grund, und nur auf dem Wege über die Mithaftung zuerst der Sippengenossen, dann der Hausgenossen und Gewaltunterworfenen oder Gewalthaber für Unrecht ist, mit höchst verschiedenem Resultat, wie wir sehen [werden], die Erbenhaftung für Kontraktschulden konstruiert worden. Ein solcher Rechtssatz ferner wie das dem heutigen Handelsverkehr angeblich unentbehrliche Prinzip: »Hand muß Hand wahren« – der Schutz des gutgläubigen Erwerbers von Sachen gegen den Zugriff des Eigentümers – folgte ursprünglich ganz direkt aus dem Grundsatz, daß man eine Klage nur ex delicto gegen den Dieb oder Hehler hatte, machte dann freilich mit der Entwicklung der Kontraktsklagen und der Scheidung »dinglicher« und »persönlicher« Klagen in den einzelnen Rechtssystemen sehr verschiedene Schicksale durch. So hatte ihn sowohl das antike römische, wie das englische, wie das, im Gegensatz zum chinesischen, relativ rational entwickelte indische Recht, zugunsten der Vindikation beseitigt, und er ist in den beiden letzteren dann erst wieder, und zwar nun rational, im Interesse der Verkehrssicherheit, zugunsten des Kaufs auf dem offenen Markt, neu geschaffen worden. Seine Nichtgeltung im römischen und englischen im Gegensatz zum deutschen Recht ist wiederum ein Beispiel für die Möglichkeit der Anpassung der Verkehrsinteressen an sehr verschieden geartetes materielles Recht und die weitgehende Eigengesetzlichkeit der Rechtsentwicklung. Auch das »malo ordine tenes« der Grundstücksklage in den fränkischen Formeln hat man – unbestimmt mit welchem Recht – auf das Erfordernis eines Delikts für den Prozeß gedeutet. Immerhin lassen die doppelseitige römische Vindikation und die hellenische Diadikasie ebenso wie die germanischen, ganz anders konstruierten Grundbesitzklagen darauf schließen, daß hier, wo es sich ursprünglich um Statusklagen handelte: um die Frage der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der kraft Bodenbesitzes vollberechtigten Genossen (»fundus« heißt »Genosse«, κλῆρος Genossenanteil), besondere Rechtsgrundsätze obwalteten.

Ebensowenig wie eine eigentliche amtliche Exekution von Urteilen gibt es ursprünglich eine Verfolgung von Delikten »von Amts wegen«. Innerhalb der Hausherrschaft andererseits erfolgt jede Züchtigung kraft der Hausgewalt des Herrn. Konflikte unter Sippengenossen entscheiden die Sippenältesten. Da aber Grund, Art und Maß in allen diesen Fällen im freien Ermessen der Gewalthaber stehen, gibt es kein »Straf recht«. Ein solches entwickelte sich in primitiver Form außerhalb des Hauses, und zwar da, wo das Handeln eines Einzelnen einen nachbarschaftlichen oder sippenmäßigen oder politischen Verband, dem er zugehört, in der Gesamtheit seiner Mitglieder gefährdete. Dies konnte vor allem durch zwei Arten von Handeln geschehen: Religions- und Militärfrevel. Einmal also dadurch, daß eine magische, z.B. eine Tabunorm verletzt wurde und dies den Zorn der magischen Gewalten, Geister oder Götter, außer auf den Frevler selbst auch auf die Gemeinschaft, welche ihn in ihrer Mitte duldete, in Gestalt bösen Zaubers herabziehen[392] konnte. Dann reagierten auf Veranlassung der Magier oder Priester die Genossen dagegen durch Verstoßung (Friedlosigkeit) oder durch Lynchjustiz (wie es die Steinigung der Juden war) oder durch ein sakrales Sühneverfahren. Der Religionsfrevel also war die eine Hauptquelle der »internen Strafe«, wie man diese Prozedur im Gegensatz zur »Rache«, die zwischen den Sippen stattfindet, nennen kann. Die zweite Hauptquelle der »internen« Strafe war politischen, ursprünglich also: militärischen, Ursprungs. Wer durch Verrat oder, nach dem Aufkommen des disziplinierten Kampfs, durch Disziplinbruch oder durch Feigheit die Sicherheit des Wehrverbandes gefährdete, setzte sich der strafenden Reaktion von Kriegsführer und Heer nach einer meist sehr summarischen Feststellung des Tatbestandes aus.

Vornehmlich von der Rache aus aber führte direkt ein Weg zu einem »Kriminalverfahren«, welches – wir werden sehen: aus welchen Gründen – an feste Formen und Regeln gebunden war. Die hausväterliche, religiöse, militärische Reaktion auf Frevel weiß prinzipiell von Formen und Regeln zunächst nichts. Bei der hausväterlichen Gewalt bleibt dies im allgemeinen so. Sie wird zwar durch das Eingreifen anderer Gewalten – zunächst: der Sippengewalt, dann religiöser und militärischer Gewalt – unter Umständen in Schranken gebannt, aber innerhalb ihres Bereichs nur sehr vereinzelt an Rechtsregeln gebunden. Dagegen die primitiven außerhäuslichen Gewalten mit Einschluß der auf außerhäusliche Beziehungen übertragenen hausherrschaftsartigen (»patrimonialfürstlichen«) Gewalt, alle jene nicht innerhäuslichen Gewalten also, die wir unter dem gemeinsamen Namen »imperium« zusammenfassen wollen, verfielen, nur in verschiedenem Grade, allmählich der Bindung an Regeln. Welcher Provenienz diese Regeln waren, inwieweit sie sich der Träger des imperium im eigenen Interesse setzte oder mit Rücksicht auf die faktischen Schranken der Obödienz setzen mußte oder durch andere Gewalten gesetzt erhielt, lassen wir vorläufig dahingestellt: es gehört in die Erörterung der Herrschaft. Die Macht zu strafen, insbesondere Ungehorsam nicht nur durch direkte Gewalt zu brechen, sondern auch durch Androhung von Nachteilen, ist – in der Vergangenheit fast noch mehr als jetzt – ein normaler Bestandteil jedes imperium. Sie kann sich gegen andere, dem betreffenden Träger eines imperium untergeordnete »Organe« wenden (Disziplinargewalt) oder gegen die »Untertanen« (Bußgewalt). An diesem Punkt berührt sich das »öffentliche Recht« direkt mit dem »Strafrecht«. Jedenfalls aber entsteht ein »öffentliches Recht« ebenso wie ein »Strafrecht«, »Strafprozeßrecht«, »Sakralrecht« als gesondertes Objekt wissenschaftlicher Betrachtung auch im Keime erst da, wo wenigstens irgendwelche derartige Regeln als Komplex von faktisch verbindlich geltenden Normen feststellbar sind.

Stets bedeuten solche Normen ebensoviele Schranken des betreffenden imperium, obwohl andererseits nicht jede Schranke desselben »Norm«-Charakter hat. Die Art dieser Schranken kann nun aber eine doppelte sein: 1. Gewaltbegrenzung, – 2. Gewaltenteilung. Entweder (1) stößt ein konkretes imperium kraft heilig geltender Tradition oder durch Satzung auf die subjektiven Rechte der ihm Unterworfenen: daß dem Gewalthaber nur Befehle einer bestimmten Art oder auch Befehle aller mit Ausnahme bestimmter Arten und nur unter bestimmten Voraussetzungen zustehen, also nur dann legitim und verbindlich sind. Für die Frage: ob es sich dabei um eine »rechtliche« oder um eine »konventionelle« oder nur »gewohnheitsmäßige« Begrenzung handle, ist entscheidend: ob ein Zwangsapparat die Innehaltung dieser Schranken irgendwie garantiert, einerlei mit welchen noch so prekären Zwangsmitteln, oder nur die konventionelle Mißbilligung, oder ob endlich eine einverständnismäßige Schranke ganz fehlt. Oder aber (2) das imperium stößt auf ein anderes, ihm gleich oder in bestimmten Hinsichten übergeordnetes imperium, an dessen Geltung es seine Schranken findet. Beides kann zusammentreffen, und auf dieser Kombination beruht die Eigentümlichkeit der modernen, nach »Kompetenzen« gegliederten Staatsanstalt. Sie ist ihrem Wesen nach: eine anstaltsmäßige Vergesellschaftung der, nach bestimmten Regeln ausgelesenen, Träger bestimmter, ebenfalls[393] durch allgemeine Regeln der Gewaltenteilung nach außen gegeneinander abgegrenzter imperia, welche zugleich auch sämtlich durch gesatzte Gewaltenbegrenzung innere Schranken der Legitimität ihrer Befehlsgewalt haben. Beide: sowohl die Gewaltenteilung als die Gewaltenbegrenzung können nun aber eine von der für die moderne Staatsanstalt charakteristischen Form höchst verschiedene Struktur haben. Speziell gilt dies auch für die Gewaltenteilung. Sie ist im antik römischen Interzessionsrecht der »par majorve potestas«, im patrimonialen, ständischen, feudalen politischen Gebilde absolut verschieden geartet, wie später zu erörtern sein wird. Durchweg aber gilt allerdings, richtig verstanden, Montesquieus Satz: daß erst die Gewaltenteilung die Konzeption eines »öffentlichen Rechts« möglich mache, nur nicht notwendig eine solche von der Art, wie er sie in England vorzufinden glaubte. Andererseits schafft aber auch nicht jede Art von Gewaltenteilung schon den Gedanken eines öffentlichen Rechts, sondern erst die der rationalen Staatsanstalt spezifische. Eine wissenschaftliche Lehre vom öffentlichen Recht hat nur der Okzident entwickelt, weil nur hier der politische Verband ganz den Charakter der Anstalt mit rational gegliederten Kompetenzen und Gewaltenteilung angenommen hat. Die Antike kennt genau so viel von wissenschaftlichem Staatsrecht, als rationale Gewaltenteilung vorhanden war: die Lehre von den imperia der einzelnen römischen Beamten ist wissenschaftlich gepflegt worden. Alles andere war wesentlich Staatsphilosophie, nicht Staatsrecht. Das Mittelalter kennt die Gewaltenteilung nur als Konkurrenz subjektiver Rechte (Privilegien oder feudaler Ansprüche) und daher keine gesonderte Behandlung eines Staatsrechts. Was es davon gab, steckt im »Lehens«- und »Dienstrecht«. Erst die Kombination von mehreren Momenten: in der Welt der Tatsachen die Vergesellschaftung der Privilegierten zur öffentlichen Korporation im Ständestaat, welcher Gewaltenbeschränkung und Gewaltenteilung zunehmend mit anstaltsmäßiger Struktur verbindet, auf dem Boden der Theorien der römische Korporationsbegriff, das Naturrecht und schließlich die französische Doktrin schufen die entscheidenden juristischen Konzeptionen des modernen öffentlichen Rechts. Wir werden von der Entwicklung desselben, soweit sie uns angeht, bei Besprechung der Herrschaft zu reden kommen. Daher soll im Nachfolgenden vorwiegend von der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung auf den ökonomisch direkt relevanten Gebieten, welche heute dem »Privatrecht« und »Zivilprozeß« überlassen sind, gehandelt werden.

Unseren heutigen juristischen Denkgepflogenheiten zerfällt die Tätigkeit der öffentlichen Verbände [auf dem Gebiet des] »Rechts« in zweierlei: »Rechtsschöpfung« und »Rechtsfindung«, an deren letztere sich, als rein technisch, die »Vollstreckung« anschließt. Unter »Rechtsschöpfung« aber stellen wir uns heute die Satzung genereller Normen vor, deren jede in der Sprache der Juristen den Charakter eines oder mehrerer rationaler »Rechtssätze« annimmt. Und die »Rechtsfindung« denken wir uns als »Anwendung« jener gesatzten Normen und der durch die Arbeit des juristischen Denkens aus ihnen abzuleitenden einzelnen »Rechtssätze« auf konkrete »Tatbestände«, welche unter sie »subsumiert« werden. Keineswegs alle Epochen der Rechtsgeschichte haben so gedacht. Der Unterschied zwischen Rechtsschöpfung: Schaffung von »Rechtsnormen«, und Rechtsfindung: deren »Anwendung« auf den Einzelfall, besteht überall da nicht, wo alle Rechtspflege freie, von Fall zu Fall entscheidende »Verwaltung« ist. Hier fehlt die Rechtsnorm sowohl wie das subjektive Recht auf ihre »Anwendung«. Ebenso aber auch da, wo das objektive Recht als subjektives »Privileg« gilt und also der Gedanke einer »Anwendung« objektiver Rechtsnormen als der Grundlagen der subjektiven Rechtsansprüche nicht konzipiert ist. Außerdem aber überall da und soweit, als die Rechtsfindung nicht [als] Anwendung von generellen Rechtsnormen auf den konkreten Fall, durch dessen Subsumtion unter die Norm also, stattfindet. Dies ist bei aller irrationalen Rechtsfindung der Fall, welche, wie wir gesehen haben, die ursprüngliche Art der Rechtsfindung überhaupt darstellt und, wie wir noch sehen werden, die ganze Vergangenheit, außerhalb des Anwendungsgebietes des römischen Rechts, teils gänzlich, teils mindestens[394] in Rudimenten beherrscht hat. Ebenso ist auch die Scheidung zwischen Normen des (durch Rechtsfindung zur Anwendung zu bringenden) Rechts und solchen des Hergangs der Rechtsfindung selbst nicht immer so klar vollzogen worden, wie heute der Unterschied zwischen materiellem und Prozeßrecht. Wo z.B. der Rechtsgang auf dem Einfluß des imperium auf die Prozeßinstruktion beruhte, wie etwa im älteren römischen Recht und, in technisch ganz anderer Art, auch im englischen Recht, liegt die Auffassung nahe, daß der materielle Rechtsanspruch mit dem Recht auf Benutzung eines prozessualen Klageschemas: der römischen »actio«, des englischen »writ«, identisch sei. In der Tat scheidet daher die ältere römische Rechtssystematik Prozeßrecht und Privatrecht nicht in der Art wie wir. Aus ganz anderen formalen Gründen konnte eine wenigstens ähnliche Mischung von, nach unseren Begriffen, prozessual- und materiell-rechtlichen Fragen da entstehen, wo die Rechtsfindung auf irrationalen Beweismitteln: Eid und Eideshilfe und ihrer ursprünglichen magischen Bedeutung oder auf Ordalien ruhte. Dann erscheint Recht oder Pflicht zu diesem magisch bedeutsamen Akt als Teil des materiellen Rechtsanspruchs oder, sehr leicht, als mit ihm identisch. Immerhin ist trotzdem die Scheidung von Normen für den Rechtsgang und materiellen Rechtsnormen in der Sonderung der Richtsteige von den Rechtsbüchern anders, aber in ihrer Art ungefähr ebenso klar durchgeführt wie in der älteren römischen Systematik.

Wie das Gesagte zeigt, ist die Art der Herausdifferenzierung der einzelnen uns heute geläufigen Grundkonzeptionen von Rechtssphären in hohem Maße von rechtstechnischen Momenten, teils von der Art der Struktur des politischen Verbandes, abhängig und kann daher nur indirekt als ökonomisch bedingt gelten. Ökonomische Momente spielen insofern hinein, als die Rationalisierung der Wirtschaft auf der Basis der Marktvergemeinschaftung und der freien Kontrakte und damit die immer weitere Kompliziertheit der durch Rechtsschöpfung und Rechtsfindung zu schlichtenden Interessenkonflikte sowohl die Entwicklung der fachmäßigen Rationalisierung des Rechtes als solcher wie die Entwicklung des Anstaltscharakters des politischen Verbandes auf das allerstärkste beförderte, wie wir stets erneut sehen werden. Alle anderen rein ökonomischen Einflüsse sind konkret bedingt und nicht auf allgemeine Regeln zu bringen. Andererseits werden wir immer erneut auch sehen, daß die von intern rechtstechnischen und politischen Momenten bedingten Eigenschaften des Rechts stark auf die Gestaltung der Wirtschaft zurückwirken. Im Nachfolgenden sollen nur die wichtigsten der auf die allgemeinen formellen Qualitäten des Rechts, der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung einwirkenden Umstände kurz betrachtet werden. Und zwar kommt es uns unter diesen Qualitäten speziell an auf Maß und Art der Rationalität des Rechts, vor allem natürlich: des ökonomisch relevanten Rechts (des heutigen »Privatrechts«).

Ein Recht kann aber in sehr verschiedenem Sinne »rational« sein, je nachdem, welche Richtungen der Rationalisierung die Entfaltung des Rechtsdenkens einschlägt. Zunächst: im Sinne der (scheinbar) elementarsten Denkmanipulation: des Generalisierens, was in diesem Fall bedeutet: der Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalls maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere »Prinzipien«: diese sind die »Rechtssätze«. Diese Reduktion ist normalerweise bedingt durch eine vorhergehende oder gleichzeitige Analyse des Tatbestandes auf diejenigen letzten Bestandteile hin, welche für die rechtliche Beurteilung in Betracht kommen. Und umgekehrt wirkt die Herausläuterung immer weiterer »Rechtssätze« wieder auf die Abgrenzung der einzelnen, möglicherweise relevanten Merkmale der Tatbestände zurück: sie beruht auf Kasuistik und fördert sie ihrerseits. Allein keineswegs jede entwickelte Kasuistik verläuft in der Richtung oder parallel mit der Entwicklung von logisch hoch sublimierten »Rechtssätzen«. Vielmehr gibt es auch auf dem Boden bloßen parataktischen und anschaulichen Assoziierens: der »Analogie«, sehr umfassende Rechtskasuistiken. Hand in Hand mit der analytischen Gewinnung von »Rechtssätzen« aus den Einzelfällen geht bei uns die synthetische Arbeit der[395] »juristischen Konstruktion« von »Rechtsverhältnissen« und »Rechtsinstituten« [einher], das heißt: die Feststellung, was an einem in typischer Art verlaufenden Gemeinschafts- oder Einverständnishandeln rechtlich relevant sei und in welcher in sich logisch widerspruchslosen Weise diese relevanten Bestandteile [als] rechtlich geordnet, also als ein »Rechtsverhältnis«, zu denken seien. So eng die Manipulation mit den früheren zusammenhängt, so kann doch eine sehr hochgradige Sublimierung der Analyse mit sehr geringer konstruktiver Erfassung der rechtlich relevanten Lebensverhältnisse parallel gehen und umgekehrt: eine Synthese eines »Rechtsverhältnisses« praktisch relativ befriedigend trotz sehr geringer Entwicklung der Analyse, zuweilen sogar infolge Einschränkung der Pflege der reinen Analyse, gelingen. Dieser letztere Widerspruch ist die Folge davon, daß aus der Analyse eine weitere logische Aufgabe zu entspringen pflegt, welche sich mit der synthetischen »Konstruktions«-Arbeit zwar prinzipiell verträgt, faktisch aber nicht selten in Spannungen zu ihr steht: die Systematisierung. Sie ist in jeder Form ein Spätprodukt. Das urwüchsige »Recht« kennt sie nicht. Nach unserer heutigen Denkgewohnheit bedeutet sie: die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der rechtlichen Garantie entbehre. Einen solchen Anspruch erhebt selbst heute nicht jedes Recht (z.B. das englische nicht), und noch viel weniger regelmäßig haben ihn die Rechte der Vergangenheit erhoben. Auch wo sie ihn erhoben, da war sehr oft die logische Sublimierung des Systems äußerst unentwickelt. In der Regel aber war die Systematisierung vorwiegend ein äußeres Schema der Ordnung des Rechtsstoffes und nur von geringem Einfluß auf die Art der analytischen Bildung der Rechtssätze sowohl wie auf die Konstruktion der Rechtsverhältnisse. Die spezifisch moderne (am römischen Recht entwickelte) Systematisierung geht eben von »logischer Sinndeutung« sowohl der Rechtssätze [wie] des rechtlich relevanten Sichverhaltens aus, die Rechtsverhältnisse und die Kasuistik dagegen sträuben sich dieser Manipulation gegenüber nicht selten, da sie ihrerseits zunächst von »anschaulichen« Merkmalen aus erwachsen sind.

Mit allen diesen Gegensätzen teils zusammenhängend, teils sie kreuzend aber gehen die Verschiedenheiten der rechtstechnischen Mittel [einher], mit welchen die Rechtspraxis im gegebenen Fall zu arbeiten hat. Folgende einfachste Fälle ergeben sich:

Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können entweder rational oder irrational sein. Irrational sind sie formell dann, wenn für die Ordnung von Rechtsschöpfung und Rechtsfindungsproblemen andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden, z.B. die Einholung von Orakeln oder deren Surrogaten. Materiell sind sie irrational insoweit, als ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen. »Rationale« Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können wieder in formeller oder in materieller Hinsicht rational sein. Formell mindestens relativ rational ist jedes formale Recht. »Formal« aber ist ein Recht insoweit, als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden. Dieser Formalismus aber kann wieder doppelten Charakter haben. Entweder nämlich können die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich anschaulichen Charakter besitzen. Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z.B. daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte, ein- für allemal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung vorgenommen ist, bedeutet die strengste Art des Rechtsformalismus. Oder die rechtlich relevanten Merkmale werden durch logische Sinndeutung erschlossen und darnach feste Rechtsbegriffe in Gestalt streng abstrakter Regeln gebildet und angewendet. Bei[396] dieser logischen Rationalität ist zwar die Strenge des anschaulichen Formalismus abgeschwächt, da die Eindeutigkeit des äußeren Merkmals schwindet. Aber der Gegensatz gegen die materiale Rationalität ist damit nur gesteigert. Denn diese letztere bedeutet ja gerade: daß Normen anderer qualitativer Dignität als logische Generalisierungen von abstrakten Sinndeutungen auf die Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluß haben sollen: ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen, welche sowohl den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen. Eine spezifisch fachmäßige juristische Sublimierung des Rechts im heutigen Sinne ist aber nur möglich, soweit dieses formalen Charakter hat. Soweit der absolute Formalismus des sinnlichen Merkmals reicht, ist sie auf Kasuistik beschränkt. Erst die sinndeutende Abstraktion läßt die spezifisch systematische Aufgabe entstehen: die einzelnen anerkanntermaßen geltenden Rechtsregeln durch die Mittel der Logik zu einem in sich widerspruchslosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen zusammenzufügen und zu rationalisieren.

Wir wollen nun sehen, wie die an der Rechtsbildung beteiligten Mächte auf die Entfaltung der formellen Qualitäten des Rechts einwirken. Die heutige juristische Arbeit, wenigstens diejenige ihrer Formen, welche den Höchstgrad methodischlogischer Rationalität erreicht hatte: die von der gemeinrechtlichen Jurisprudenz geschaffene, geht von den Postulaten aus, 1. daß jede konkrete Rechtsentscheidung »Anwendung« eines abstrakten Rechtssatzes auf einen konkreten »Tatbestand« sei, – 2. daß für jeden konkreten Tatbestand mit den Mitteln der Rechtslogik eine Entscheidung aus den geltenden abstrakten Rechtssätzen zu gewinnen sein müsse, – 3. daß also das geltende objektive Recht ein »lückenloses« System von Rechtssätzen darstellen oder latent in sich enthalten oder doch als ein solches für die Zwecke der Rechtsanwendung behandelt werden müsse, – 4. daß das, was sich juristisch nicht rational »konstruieren« lasse, auch rechtlich nicht relevant sei, – 5. daß das Gemeinschaftshandeln der Menschen durchweg als »Anwendung« oder »Ausführung« von Rechtssätzen oder umgekehrt [als] »Verstoß« gegen Rechtssätze gedeutet werden müsse (diese Konsequenz ist namentlich von Stammler – wenn auch nicht expressis verbis – vertreten), da, entsprechend der »Lückenlosigkeit« des Rechtssystems, ja auch die »rechtliche Geordnetheit« eine Grundkategorie alles sozialen Geschehens sei.

Wir kümmern uns zunächst garnicht um diese Postulate des Denkens, sondern wollen einige der für das Funktionieren des Rechts wichtigen allgemeinen formalen Qualitäten desselben untersuchen.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 387-397.
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