§ 2. Entstehung und Umbildung der charismatischen Autorität.

[661] Veralltäglichung des Charisma S. 661. – Das Problem der Führer-Auslese (Nachfolger-Bestimmung) S. 663. – Charismatische Designation und Akklamation S. 664. – Uebergang zum demokratischen Wahlsystem S. 666. – Charismatische Elemente im Repräsentativsystem S. 667. – Charismatische, Honoratioren- und bürokratische Parteileitung S. 668. – Die charismatische Struktur und die Dauergebilde des Gemeinschaftslebens S. 670. – »Versachlichung« des Charisma; Haus- und Gentilcharisma; »Geschlechterstaat«; Primogenitur S. 671. – Amtscharisma S. 674. – Das charismatische Königtum S. 676. – Erwerbbarkeit des versachlichten Charisma. Charismatische Erziehung S. 677. – Plutokratisierung des Charisma-Erwerbs S. 679. – Charismatische Legitimierung der bestehenden Ordnung S. 679.


Die Schöpfung einer charismatischen Herrschaft in dem geschilderten »reinen« Sinn ist stets das Kind ungewöhnlicher äußerer, speziell politischer oder ökonomischer, oder innerer seelischer, namentlich religiöser Situationen, oder beider zusammen, und entsteht aus der, einer Menschengruppe gemeinsamen, aus dem Außerordentlichen geborenen Erregung und aus der Hingabe an das Heroentum gleichviel welchen Inhalts. Daraus allein schon folgt: in ungebrochener Macht, Einheitlichkeit und Stärke wirkt sich sowohl der Glaube des Trägers selbst und seiner Jünger an sein Charisma, – sei dieses nun prophetischen oder welchen Inhalts sonst –, wie die gläubige Hingabe derjenigen, an welche er sich gesandt fühlt, an ihn und seine Sendung regelmäßig nur in statu nascendi aus. Flutet die Bewegung, welche eine charismatisch geleitete Gruppe aus dem Umlauf des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurück, so wird zum mindesten die reine Herrschaft des Charisma regelmäßig gebrochen, ins »Institutionelle« transponiert und umgebogen, und dann entweder geradezu mechanisiert oder unvermerkt durch ganz andere Strukturprinzipien zurückgedrängt oder mit ihnen in den mannigfachsten Formen verschmolzen und verquickt, so daß sie dann eine faktisch untrennbar mit ihnen verbundene, oft bis zur Unkenntlichkeit entstellte, nur für die theoretische Betrachtung rein herauszupräparierende Komponente des empirischen historischen Gebildes darstellt.

Die »reine« charismatische Herrschaft ist also in einem ganz spezifischen Sinne labil, und alle ihre Alterationen haben im letzten Grunde eine und dieselbe Quelle. Normalerweise der Wunsch des Herrn selbst, stets der seiner Jünger und am meisten die Sehnsucht der charismatisch beherrschten Anhänger geht überall dahin: das Charisma und die charismatische Beglückung der Beherrschten aus einer einmaligen, äußerlich vergänglichen freien Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen in ein Dauerbesitztum des Alltags zu verwandeln. Damit wandelt sich aber unerbittlich der innere Charakter der Struktur. Einerlei ob aus der charismatischen Gefolgschaft eines Kriegshelden ein Staat, aus der charismatischen Gemeinde eines Propheten, Künstlers, Philosophen, ethischen oder wissenschaftlichen Neuerers eine Kirche, Sekte, Akademie, Schule, aus einer charismatisch geleiteten, eine Kulturidee verfolgenden Gefolgschaft eine Partei oder auch nur ein Apparat von Zeitungen und Zeitschriften wird, – stets ist die Existenzform des Charisma nun den Bedingungen des Alltags und den ihn beherrschenden Mächten, vor allem: den ökonomischen Interessen, ausgeliefert. Stets ist dies der Wendepunkt,[661] mit welchem aus charismatischen Gefolgsleuten und Jüngern zunächst – wie in der »trustis« des fränkischen Königs – durch Sonderrechte ausgezeichnete Tischgenossen des Herrn, dann Lehensträger, Priester, Staatsbeamte, Parteibeamte, Offiziere, Sekretäre, Redakteure und Herausgeber, Verleger, welche von der charismatischen Bewegung leben wollen, oder Angestellte, Lehrer oder andere berufsmäßige Interessenten, Pfründenbesitzer, Inhaber patrimonialer Aemter oder dergleichen werden. Die charismatisch Beherrschten andererseits werden regulär zinsende »Untertanen«, steuernde Kirchen-, Sekten- oder Partei-oder Vereinsmitglieder, nach Regel und Ordnung zum Dienst gepreßte, abgerichtete und disziplinierte Soldaten oder gesetzestreue »Staatsbürger«. Die charismatische Verkündigung wird, auch wenn der Apostel mahnt: »den Geist nicht zu dämpfen«, unvermeidlich – je nachdem – Dogma, Lehre, Theorie oder Reglement oder Rechtssatzung oder Inhalt einer sich versteinernden Tradition. Zumal das Ineinanderfließen der beiden, in der Wurzel einander fremden und feindlichen Mächte: Charisma und Tradition, ist dabei regelmäßige Erscheinung. Begreiflicherweise: beider Macht ruht nicht auf plan- und zweckvoll geschaffenen Regeln und deren Kenntnis, sondern auf dem Glauben an die spezifische absolute oder relative, für den Beherrschten – Kind, Klient, Jünger, Gefolgs-oder Lehensmann – schlechthin gültige Heiligkeit der Autorität konkreter Personen und auf der Hingabe an Pietätsbeziehungen und -pflichten ihnen gegenüber, die bei beiden stets eine irgendwie religiöse Weihe an sich tragen. Auch die äußeren Formen der beiden Herrschaftsstrukturen gleichen einander oft bis zur Identität. Ob die Tischgemeinschaft eines Kriegsfürsten mit seinem Gefolge »patrimonialen« oder »charismatischen« Charakter hat, kann man ihr äußerlich nicht ansehen, – es hängt von dem »Geist« ab, der die Gemeinschaft beseelt, und das heißt: von dem Grunde, auf den sich die Stellung des Herrn stützt: durch Tradition geheiligte Autorität oder persönlicher Heldenglaube. Und der Weg vom ersteren zum letzteren ist eben flüssig. Sobald die charismatische Herrschaft den sie vor der Traditionsgebundenheit des Alltags auszeichnenden akut emotionalen Glaubenscharakter und die rein persönliche Unterlage einbüßt, ist das Bündnis mit der Tradition zwar nicht das einzige Mögliche, wohl aber, zumal in Perioden mit unentwickelter Rationalisierung der Lebenstechnik, das unbedingt Nächstliegende, meist unvermeidlich. Damit scheint nun das Wesen des Charisma endgültig preisgegeben und verloren, und das ist, soweit sein eminent revolutionärer Charakter in Betracht kommt, auch in der Tat der Fall. Denn es bemächtigen sich seiner nunmehr – und dies ist der Grundzug dieser typisch sich wiederholenden Entwicklung – die Interessen aller in ökonomischen oder sozialen Machtstellungen Befindlichen an der Legitimierung ihres Besitzes durch Ableitung von einer charismatischen, also heiligen, Autorität und Quelle. Statt also, seinem genuinen Sinn gemäß, allem Traditionellen oder auf »legitimem« Rechtserwerb Ruhenden gegenüber revolutionär zu wirken, wie in statu nascendi, wirkt es nun seinerseits gerade umgekehrt als Rechtsgrund »erworbener Rechte«. Und, in eben dieser ihm innerlich wesensfremden Funktion wird es nun Bestandteil des Alltags. Denn das Bedürfnis, dem es damit entgegen kommt, ist ein ganz universelles. Vor allem aus einem allgemeinen Grunde.

Die frühere Analyse der Alltagsgewalten der bürokratischen, patriarchalen und feudalen Herrschaft hatte nur erörtert: in welcher Weise diese Gewalten funktionieren. Aber die Frage: nach welchen Merkmalen der in der Hierarchie höchststehende, bürokratische oder patriarchalische, Gewalthaber selbst ausgelesen wird, ist damit noch nicht erledigt. Das Haupt eines bürokratischen Mechanismus könnte ja denkbarerweise auch seinerseits ein nach irgendwelchen generellen Normen in seine Stellung einrückender höchster Beamter sein. Aber es ist nicht zufällig, daß er dies meist nicht ist, wenigstens nicht nach den gleichen Normen, wie die ihm hierarchisch unterstehenden Beamten. Gerade der reine Typus der Bürokratie: eine Hierarchie von angestellten Beamten, erfordert irgendeine[662] Instanz, die ihre Stellung nicht ihrerseits auch wieder auf »Anstellung« im gleichen Sinn wie die anderen gründet. Die Person des Hausgewalthabers ergibt sich in der Kleinfamilie von Eltern und Kindern von selbst und ist in den Großfamilien regelmäßig durch eindeutige Regeln der Tradition festgelegt. Nicht aber ohne weiteres die des Hauptes eines patriarchalen Staatswesens oder einer Lehenshierarchie.

Und auf der andern Seite ist offenbar das grundlegende erste Problem, vor dem die charismatische Herrschaft steht, wenn sie zu einer perennierenden Institution sich umgestalten will, ebenfalls gerade die Frage des Nachfolgers des Propheten, Helden, Lehrers, Parteihaupts. Gerade an ihr beginnt unvermeidlich zuerst die Einmündung in die Bahn von Satzung und Tradition.

Zunächst kann, da es sich um Charisma handelt, keine Rede von einer freien »Wahl« des Nachfolgers sein, sondern wiederum nur von einem »Anerkennen«, daß das Charisma bei dem Prätendenten der Nachfolge vorhanden sei. Entweder also muß auf die Epiphanie eines persönlich seine Qualifikation erweisenden Nachfolgers oder irdischen Stellvertreters oder Propheten geharrt werden: – die Buddhaverkörperungen und Mahdî's sind spezifische Beispiele dafür. Aber eine solche neue Inkarnation fehlt oft oder ist sogar aus dogmatischen Gründen gar nicht zu erwarten. So für Christus und ursprünglich für Buddha. Nur der genuine (südliche) Buddhismus hat tatsächlich die radikale Konsequenz dieser Auffassung gezogen: die Jüngerschaft Buddhas blieb hier nach seinem Tode Bettelmönchsgemeinschaft mit einem Minimum von irgendwelcher Organisation und Vergesellschaftung und der Wahrung des Charakters einer möglichst amorphen Gelegenheitsvergemeinschaftung. Wo die alte Ordnung der Pâli-Texte wirklich durchgeführt war – und dies war in Indien und Ceylon vielfach der Fall –, da fehlt nicht nur ein Patriarch, sondern auch eine feste Verbindung des Einzelnen mit einer konkreten Klostervergesellschaftung. Die »Diözesen« sind nur ein geographischer Rahmen für die bequemere Abgrenzung der Gebiete, innerhalb deren sich die Mönche zu den wenigen gemeinsamen Zeremonien – denen jeder »Kultus« fehlt – zusammenfinden. Die »Beamten« der Klöster sind auf Kleiderbewahrer und wenige ähnliche Funktionäre beschränkt, die Eigentumslosigkeit des Einzelnen sowohl wie der Gemeinschaft als solcher und die rein mäzenatische Bedarfsdeckung (durch Schenkungen und Bettel), so weit durchgeführt, wie dies unter den Bedingungen des Alltags überhaupt möglich ist. Einen »Vorrang« beim Sitzen und Reden gibt bei Zusammenkünften nur das Alter (als Mönch) und die Beziehung des Lehrers zum Novizen, der ihm als famulus dient. Ausscheiden ist jederzeit freigestellt und nur die Zulassung an höchst einfache Vorbedingungen (Lehrzeit, Leumunds- und Freiheitsattest des Lehrers und ein Minimum von Zeremonien) geknüpft. Eine eigentliche »Dogmatik« fehlt, ebenso wie die Ausübung eines Schul- oder Predigtberufes. Die beiden halb legendären »Konzilien« der ersten Jahrhunderte haben keine Nachfolge gehabt.

Dieser hochgradig amorphe Charakter der Mönchs gemeinschaft hat sicherlich zum Verschwinden des Buddhismus in Indien stark beigetragen. Möglich war er überhaupt nur bei einer reinen Mönchsgemeinschaft und zwar einer solchen, bei welcher das individuelle Heil ausschließlich von dem Einzelnen selbst zu schaffen war. Denn bei jeder andersartigen Gemeinschaft gefährdet natürlich solches Verhalten und ebenso ein bloßes passives Harren auf eine neue Epiphanie den Zusammenhalt der charismatischen Gemeinde, welche nach dem leibhaftig gegenwärtigen Herrn und Leiter ruft. Mit dem Entgegenkommen gegenüber dieser Sehnsucht, einen Träger des Charisma dauernd in der eigenen Mitte zu besitzen, wird ein wichtiger Schritt in der Richtung der Veralltäglichung gemacht. Die stets erneute Inkarnation bewirkt eine Art von »Versachlichung« des Charisma. Sein berufener Träger muß nun entweder systematisch nach irgendwelchen, sein Charisma verratenden Merkmalen, also immerhin nach »Regeln«, gesucht werden, wie – prinzipiell ganz nach Art des Apisstiers – der neue Dalai Lama. Oder es muß ein anderes, angebbares,[663] also ebenfalls nach Regeln bestimmbares Mittel zur Verfügung stehen, ihn herauszufinden. Dahin gehört zunächst der naheliegende Glaube, daß der Träger des Charisma selbst seinen Nachfolger, oder, wenn er dem Sinne nach nur eine einmalige Inkarnation sein kann – wie Christus –, seinen irdischen Stellvertreter zu bezeichnen, qualifiziert sei. Die Kreation des eigenen Nachfolgers oder Stellvertreters durch den Herrn ist eine allen ursprünglich charismatischen Organisationen, prophetischen wie kriegerischen, sehr adäquate Form der Wahrung der Herrschaftskontinuität. Aber selbstverständlich bedeutet sie einen Schritt von der freien, auf persönlicher Eigengewalt des Charisma ruhenden Herrschaft nach der Seite der auf der Autorität der »Quelle« ruhenden »Legitimität« hin. Neben den bekannten religiösen Beispielen bewahrte die Form der Kreation der römischen Magistrate: Ernennung des eigenen Nachfolgers im Kommando aus der Reihe der Qualifizierten und Akklamation des zusammenberufenen Heeres, im Zeremoniell diese charismatischen Züge auch dann noch, als man das Amt, um seine Macht zu beschränken, an Fristen und an die vorherige Zustimmung (»Wahl«) des Bürgerheeres in geordneten Formen band; und die Diktatorenernennung im Felde, in der Not, welche den Nichtalltagsmenschen forderte, blieb lange Zeit als charakteristisches Rudiment des alten »reinen« Kreationstypus fortbestehen. Der aus der Heeresakklamation des siegreichen Helden als »imperator« erwachsene, mit der »lex de imperio« nicht etwa zum Herrscher kreierte, sondern als zu Recht die Herrschaft prätendierend anerkannte Prinzipat in seiner spezifischsten Zeit kennt als »legitime« Thronsukzession nur die Kollegen- und Nachfolgerdesignation, welche sich freilich regelmäßig in die Form der Adoption kleidet, wie umgekehrt in der römischen Hausgewalt zweifellos von diesen Gepflogenheiten beim Kommando her die gänzlich freie Ernennung des eigenen »heres«, der den Göttern wie der familia pecuniaque gegenüber in die Stelle des toten pater familias einrückt, eingedrungen ist. Wurde in der Nachfolge durch Adoption der Gedanke der Erblichkeit des Charisma mit herangezogen, ohne übrigens in dem genuinen römischen Heerkaisertum jemals wirklich als Prinzip anerkannt zu sein, so blieb auf der anderen Seite dem Prinzipat doch stets der Charakter des Amts: der princeps ist ein Beamter mit geordneter, auf Regeln beruhender bürokratischer Zuständigkeit geblieben, solange das Heerkaisertum seinen römischen Charakter behielt. Ihm diesen Amtscharakter verliehen zu haben, ist das Werk des Augustus, welches, im Gegensatz stehend zu dem Gedanken einer hellenistischen Monarchie, wie er Cäsar vorgeschwebt haben dürfte, von den Zeitgenossen als die Erhaltung und Herstellung römischer Tradition und Freiheit angesehen wurde.

Hat nun aber der Träger des Charisma seinerseits keinen Nachfolger bezeichnet und fehlt es an eindeutigen äußeren Merkmalen, wie sie bei den Inkarnationen den Weg zu weisen pflegen, so liegt für die Beherrschten der Glaube nahe, daß die Teilhaber (clerici) seiner Herrschaft: die Jünger und Gefolgsleute, die Berufensten seien, den nunmehr Qualifizierten als solchen zu erkennen. Es fällt ihnen daher, zumal sie allein sich faktisch im Besitz der Machtmittel befinden, nicht schwer, sich diese Rolle als »Recht« anzueignen. Freilich, da das Charisma die Quelle seiner Wirksamkeit in dem Glauben der Beherrschten findet, so kann die Anerkennung des designierten Nachfolgers durch sie nicht entbehrt werden. Vielmehr ist die Anerkennung durch die Beherrschten das ursprünglich Entscheidende. Es war noch in der Zeit, als sich das Kurfürstenkollegium als wahlvorbereitendes Gremium schon fest abgegrenzt hatte, eine auch praktisch wichtige Frage: wer von den Kurfürsten den Wahlvorschlag an das versammelte Heer zu bringen habe. Denn prinzipiell wenigstens war er in der Lage, seinem ganz persönlichen Kandidaten, entgegen dem Willen der anderen Kurfürsten, die Akklamation zu verschaffen.

Designation durch die nächsten und mächtigsten Gefolgsleute, Akklamation durch die Beherrschten ist also die normale Form, in welche diese Art der Nachfolgerkreierung ausläuft. Im patrimonialen und feudalen Alltagsstaat findet sich[664] jenes, charismatischen Wurzeln entspringende, Designationsrecht der Gefolgsleute als »Vorwahlrecht« der bedeutendsten Patrimonialbeamten oder Lehensträger. Die deutschen Königswahlen sind darin den Bischofswahlen der Kirche nachgebildet. Die »Wahl« eines neuen Königs, welche ganz ebenso wie die eines Papstes, Bischofs, Predigers mittels 1. Bezeichnung durch die Jünger und Gefolgsleute (Kurfürsten, Kardinäle, Diözesanpriester, Kapitel, Aelteste) und 2. nachfolgender Akklamation durch das Volk erfolgte, war also keine »Wahl« im Sinne moderner Präsidentenoder Abgeordnetenwahlen, sondern wenigstens dem genuinen Sinn nach etwas durchaus Heterogenes: Erkennung oder Anerkennung des Vorhandenseins der durch die Wahl nicht erst entstehenden, sondern vorher vorhandenen Qualifikation, eines Charisma also, auf dessen Anerkennung umgekehrt der zu Wählende als sein Träger einen Anspruch hat. Daher kann es im Prinzip ursprünglich keine Majoritätswahl geben, denn eine noch so kleine Minorität kann, in der Erkennung des echten Charisma, ganz ebenso im Rechte sein, wie die noch so große Mehrheit irren kann. Nur einer kann der Richtige sein; die dissentierenden Wähler begehen also einen Frevel. Alle Normen der Papstwahl suchen die Erzielung der Einstimmigkeit zu erreichen. Doppelwahl eines Königs aber ist ganz dasselbe wie kirchliches Schisma: Verdunkelung der richtigen Erkenntnis des Berufenen, welche prinzipiell nur durch dessen Bewährung im Gottesgericht des persönlichen Kampfes mit physischen oder magischen Mitteln zu beseitigen ist, wie er bei Thronprätendenten von Negerstämmen (namentlich zwischen Brüdern) und auch sonst sich als Institution findet.

Und wenn das Majoritätsprinzip durchgedrungen ist, so gilt es als eine sittliche »Pflicht« der Minderheit, sich dem nunmehr durch den Ausfall der Abstimmung erwiesenen Recht zu fügen und der Mehrheit nachträglich beizutreten.

Selbstverständlich hat aber nichtsdestoweniger die charismatische Herrschaftsstruktur mit dieser Art der Nachfolgebestimmung, sobald das Majoritätsprinzip durchdringt, die Bahn zum eigentlichen Wahlsystem betreten. Nicht jede moderne, auch nicht jede demokratische Form der Kreierung des Herrschers ist charismafremd. Jedenfalls das demokratische System der sogenannten plebiszitären Herrschaft – die offizielle Theorie des französischen Cäsarismus – trägt seiner Idee nach wesentlich charismatische Züge, und die Argumente seiner Vertreter laufen alle auf die Betonung eben dieser seiner Eigenart hinaus. Das Plebiszit ist keine »Wahl«, sondern erstmalige oder (beim Plebiszit von 1870) erneute Anerkennung eines Prätendenten als persönlich qualifizierten, charismatischen Herrschers. Aber auch die Demokratie des Perikles, der Idee ihres Schöpfers nach die Herrschaft des Demagogos durch das Charisma von Geist und Rede, enthielt gerade in der Wahl des einen Strategen (neben der Auslosung der anderen – wenn Ed. Meyers Hypothese zutrifft –) ihren charakteristischen charismatischen Einschlag. Auf die Dauer tritt überall, wo ursprünglich charismatische Gemeinschaften den Weg der Kürung des Herrschers betreten, eine Bindung des Wahlverfahrens an Normen ein. Zunächst weil mit dem Schwinden der genuinen Wurzeln des Charisma die Alltagsmacht der Tradition und der Glaube an ihre Heiligkeit wieder die Uebermacht gewinnt, und ihre Beachtung nun allein die richtige Wahl verbürgen kann. Hinter dem durch charismatische Prinzipien bedingten Vorwahlrecht der Kleriker oder Hofbeamten oder großen Vasallen tritt dann die Akklamation der Beherrschten zunehmend zurück, und es entsteht schließlich eine exklusive oligarchische Wahlbehörde. So in der katholischen Kirche wie im Heiligen Römischen Reich. Das gleiche aber vollzieht sich überall, wo eine geschäftserfahrene Gruppe das Vorschlags- oder Vorwahlrecht hat. Namentlich in den meisten Stadtverfassungen aller Zeiten ist daraus ein tatsächliches Kooptationsrecht regierender Geschlechter geworden, welche auf diese Art sowohl den Herrn aus seiner Herrenstellung in die eines primus inter pares herabzogen (Archon, Konsul, Doge), wie andererseits die Gemeinde aus der Mitwirkung bei der Bestellung ausschalteten. In der Gegenwart72 finden wir z.B.[665] in den Entwicklungstendenzen der Senatoren wahl in Hamburg dafür Parallelerscheinungen. Es ist dies, formal betrachtet, der weitaus häufigste »legale« Weg zur Oligarchie.

Die Akklamation der Beherrschten kann sich aber umgekehrt zu einem regulären »Wahlverfahren« entwickeln, mit einem durch Regeln normierten »Wahlrecht«, direkten oder indirekten, »Bezirks«- oder »Proportionalwahlen«, »Wahlklassen« und »Wahlkreisen«. Der Weg dahin ist weit. Soweit es sich um die Wahl des auch formell höchsten Herrschers selbst handelt, ist er nur in den Vereinigten Staaten – wo einer der allerwesentlichsten Teile des Wahlgeschäftes natürlich innerhalb der »Nominations«-Kampagne jeder der beiden Parteien liegt – zu Ende gegangen worden, sonst überall höchstens nur bis zu den für die Besetzung des Premierministerpostens und seiner Kollegen maßgebenden »Repräsentanten«-Wahlen für die Parlamente. Die Entwicklung von der charismatischen Herrscherakklamation zur eigentlichen Herrscherwahl direkt durch die Gemeinschaft der Beherrschten ist auf den allerverschiedensten Kulturstufen vollzogen worden, und jedes Vordringen einer rationalen, von emotionalem Glauben befreiten Betrachtung des Vorgangs mußte ja diesen Umschlag herbeiführen helfen. Dagegen zum Repräsentativsystem ist die Herrscherwahl nur im Okzident allmählich entwickelt worden. Im Altertum sind z.B. die Boiotar chen Repräsentanten ihrer Gemeinde – wie ursprünglich auch die Delegierten der englischen »Commoner« –, nicht der Wähler als solcher, und wo, wie in der attischen Demokratie, die Beamten wirklich nur Mandatare und Vertreter des Demos sein sollen und dieser in Abteilungen zerlegt wird, gilt vielmehr das Turnusprinzip und nicht der eigentliche »Repräsentations«-Gedanke. Nur ist der Gewählte bei rücksichtsloser Durchführung des Prinzipis formell ebenso wie in der unmittelbaren Demokratie Beauftragter und also der Diener seiner Wähler, nicht ihr gekürter »Herr«. Damit ist der Struktur nach die charismatische Grundlage völlig verlassen. Allein diese rücksichtslose Durchführung der Prinzipien der »unmittelbaren« Demokratie unter den Verhältnissen großer Verwaltungskörper ist stets nur fragmentarisch möglich.

Das »imperative« Mandat des Repräsentanten ist schon rein technisch, infolge der stets wandelbaren Situation und der stets entstehenden unvorhergesehenen Probleme, nur unvollkommen durchführbar, die »Abberufung« des Repräsentanten durch Mißtrauensvotum seiner Wähler bisher nur ganz vereinzelt versucht worden, und die Ueberprüfung der Beschlüsse der Parlamente durch das »Referendum« bedeutet in der Hauptsache eine wesentliche Stärkung aller irrationalen Mächte des Beharrens, weil es Feilschen und Kompromiß zwischen den Interessenten technisch normalerweise ausschließt. Die häufige Wiederholung der Wahlen endlich verbietet sich durch deren zunehmende Kosten. Alle Versuche der Bindung der Volksvertreter an den Willen der Wähler bedeuten im Effekt auf die Dauer regelmäßig nur: Stärkung der ohnehin steigenden Macht der Repräsentanten [der] Parteiorganisation über ihn, da diese allein das »Volk« in Bewegung setzen können. Sowohl das sachliche Interesse an der Elastizität des parlamentarischen Apparates wie das Machtinteresse sowohl der Volksvertreter wie der Parteifunktionäre vereinigen sich in der Richtung: den »Volksvertreter« nicht als Diener, sondern als gekürten »Herrn« seiner Wähler zu behandeln. Fast alle Verfassungen drücken dies in der Form aus: daß er – wie der Monarch – unverantwortlich ist für seine Abstimmungen und daß er »die Interessen des ganzen Volkes vertrete«. Seine faktische Macht kann sehr verschieden sein. In Frankreich ist der einzelne Deputierte tatsächlich nicht nur der normale Chef der Patronage aller Aemter, sondern überhaupt im eigentlichsten Sinn »Herr« seines Wahlkreises – daher der Widerstand gegen die Proportionalwahl und das Fehlen der Parteizentralisation –; in den Vereinigten Staaten steht dem die Uebermacht des Senats im Wege und nehmen die Senatoren eine ähnliche Stellung ein; in England und noch mehr in Deutschland ist, aus einander sehr entgegengesetzten Gründen, der einzelne Deputierte als solcher mehr der Kommis als der Herr seiner[666] Wahlkreisinsassen für deren ökonomische Interessen und liegt der Einfluß auf die Patronage in den Händen der einflußreichen Parteichefs als solcher. Es können die, in der historisch bedingten Art der Herrschaftsstrukturen liegenden, zum erheblichen Teil eigengesetzlichen, d.h. technisch bedingten Gründe, wie der Wahlmechanismus die Macht verteilt, hier nicht weiter verfolgt werden. Nur auf die Prinzipien kam es an. Jede »Wahl« kann den Charakter einer bloßen Form ohne reale Bedeutung annehmen. So bei den Komitien der ersten Kaiserzeit und in vielen hellenischen und mittelalterlichen Städten, sobald entweder ein oligarchischer Klub oder ein Gewaltherrscher über die politischen Machtmittel verfügte und die zu wählenden Amtskandidaten faktisch bindend designierte. Auch wo dies aber formal nicht der Fall ist, tut man gut, wo immer für die Vergangenheit in den Quellen in allgemeinen Wendungen von einer »Wahl« der Fürsten oder anderer Gewalthaber durch die Volksgemeinde die Rede ist – wie bei den Germanen –, den Ausdruck nicht im modernen Sinne, sondern in dem einer bloßen Akklamation eines in Wahrheit durch irgendeine andere Instanz designierten, und überdies nur einem oder wenigen qualifizierten Geschlechtern entnommenen Kandidaten zu nehmen. Ueberhaupt keine »Wahl« liegt natürlich auch dann vor, wo eine Abstimmung über die Herrengewalt plebiszitären, also charismatischen Charakter trägt, wo also nicht ein Wählen zwischen Kandidaten, sondern die Anerkennung der Machtansprüche eines Prätendenten vorliegt. – Auch jede normale »Wahl« aber kann der Regel nach lediglich eine Entscheidung zwischen mehreren, schon vorher als allein in Betracht kommend, feststehenden und dem Wähler präsentierten Prätendenten sein, welche auf dem Kampfplatz der Wahlagitation durch persönlichen Einfluß, Appell an materielle oder ideelle Interessen herbeigeführt wird und bei welcher die Bestimmungen über das Wahlverfahren gewissermaßen die Spielregeln für den in der Form »friedlichen« Kampf darstellen. Die Designation der allein in Betracht kommenden Kandidaten hat alsdann ihren primären Sitz innerhalb der Parteien. Denn selbstverständlich ist es nicht ein amorphes Gemeinschaftshandeln von Wahlberechtigten, sondern sind es Parteiführer und ihre persönlichen Gefolgschaften, welche nun den Kampf um die Wahlstimme und damit um die Patronage der Aemter organisieren. Die Wahlagitation kostet schon jetzt in den Vereinigten Staaten innerhalb des Quadrienniums direkt und indirekt etwa so viel wie ein Kolonialkrieg, und ihre Kosten steigen auch in Deutschland für alle nicht mit den billigen Arbeitskräften der Kapläne, feudalen oder amtlichen Honoratioren oder der anderweit bezahlten Gewerkschafts- und anderen Sekretäre arbeitenden Parteien bedeutend. Neben der Macht des Geldes – entfaltet dabei das »Charisma der Rede« seine Gewalt. Deren Macht ist an sich nicht an eine besondere Kulturlage gebunden. Die indianischen Häuptlingsversammlungen und die afrikanischen Palavers kennen sie auch. In der hellenischen Demokratie erlebte sie ihre erste gewaltige qualitative Entfaltung mit unermeßlichen Folgen für die Entwicklung der Sprache und des Denkens, während freilich rein quantitativ die modernen demokratischen Wahlkämpfe mit ihren »stump speeches« alles früher Dagewesene übertreffen. Je mehr Massenwirkung beabsichtigt ist und je straffer die bürokratische Organisation der Parteien wird, desto nebensächlicher wird dabei die Bedeutung des Inhalts der Rede. Denn ihre Wirkung ist, soweit nicht einfache Klassenlagen und andere ökonomische Interessen gegeben und daher rational zu berechnen und zu behandeln sind, rein emotional und hat nur den gleichen Sinn wie die Parteiumzüge und Feste: den Massen die Vorstellung von der Macht und Siegesgewißheit der Partei und vor allem von der charismatischen Qualifikation des Führers beizubringen.

Daß alle emotionale Massenwerbung notwendig gewisse »charismatische« Züge an sich trägt, bewirkt es auch, daß die zunehmende Bürokratisierung der Parteien und des Wahlgeschäfts gerade dann, wenn sie ihren Gipfel erreicht, durch ein plötzliches Aufflammen charismatischer Heldenverehrung in deren Dienst gezwungen werden kann. Das charismatische Heldentum gerät in diesem Fall – wie die[667] Roosevelt-Kampagne73 zeigte – in Konflikt mit der Alltagsmacht des »Betriebs« der Partei.


Das allgemeine Schicksal aller Parteien, die fast ausnahmslos als charismatische Gefolgschaften sei es legitimer, sei es cäsaristischer Prätendenten, Demagogen perikleischen oder kleonischen oder lassalleschen Stils beginnen, ist es, wenn sie überhaupt in den Alltag einer Dauerorganisation ausmünden, sich in ein durch »Honoratiren« geleitetes Gebilde, man kann behaupten, bis Ende des 18. Jahrhunderts fast stets in eine Adelsföderation, umzuformen. In den italienischen Städten des Mittelalters gab es mehrfach – da die ganz große Lehnbürgerschaft allerdings fast durchweg ghibellinisch war – eine direkte »Strafversetzung« unter die Nobili, gleichbedeutend mit Amtsdisqualifikation und politischer Entrechtung. Dennoch ist es die höchst seltene Ausnahme, auch unter den »popolani«, daß ein Nicht adliger ein leitendes Amt erhält, obwohl doch hier, wie stets, das Bürgertum die Parteien finanzieren mußte. Entscheidend war damals, daß die Militärmacht der sehr oft zu direkter Gewalt greifenden Parteien durch den Adel, bei den Guelfen z.B. nach einer festen Matrikel, ge stellt wurde. Hugenotten und Liga, die englischen Parteien einschließlich der »Roundheads«, überhaupt alles, was an Parteien vor der französischen Revolution liegt, zeigt den gleichen typischen Vorgang eines Hinübergleitens aus einer charismatischen Erregungsperiode, welche Klassen- und Ständeschranken zugunsten eines oder einiger Helden durchbricht, zur Entwicklung von Honoratiorenverbänden mit meist adliger Führung. Auch die »bürgerlichen« Parteien des 19. Jahrhunderts, die radikalsten nicht ausgenommen, gerieten stets in das Geleise der Honoratiorenherrschaft. Schon weil nur die Honoratioren, wie den Staat selbst, so auch die Partei, ohne Entgelt regieren konnten. Außerdem aber natürlich infolge ihres ständischen oder ökonomischen Einflusses. Wo immer auf dem platten Lande ein Grundherr die Partei wechselte, verstand es sich in England ganz ebenso wie später etwa bis in die 70er Jahre [des 19. Jahrhunderts] in Ostpreußen annähernd von selbst, daß nicht nur die patrimonial von ihm Abhängigen, sondern – Zeiten revolutionärer Erregung ausgenommen – auch die Bauern ihm folgten. In den Städten, wenigstens den kleineren, spielten neben den Bürgermeistern die Richter, Notare, Advokaten, Pfarrer und Lehrer, vor der Organisation der Arbeiterschaft als Klasse oft auch die Fabrikanten, eine wenigstens annähernd ähnliche Rolle. Warum diese letzteren, auch abgesehen von der Klassenlage, zu dieser Rolle relativ wenig qualifiziert sind, ist in anderem Zusammenhang zu erörtern. Die Lehrer sind in Deutschland diejenige Schicht, welche – aus den durch die »ständi sche« Lage des Berufs gegebenen Gründen – den spezifisch »bürgerlichen« Parteien als unentgeltliche Wahlagenten ebenso zur Verfügung stehen wie die Geistlichen (normalerweise) den autoritären. In Frankreich waren es von jeher die Advokaten, welche, teils infolge ihrer technischen Qualifiziertheit, teils – in und nach der Revolutionszeit – infolge ihrer ständischen Lage, den bürgerlichen Parteien zur Verfügung standen.

Einzelne Gebilde der französischen Revolution, denen aber eine zu kurze Dauer beschieden war, um eine definitive Struktur zu entwickeln, zeigen zuerst einige Ansätze zu bürokratischer Formung, und erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnt diese überall die Oberhand zu gewinnen. An die Stelle des Pendelns zwischen einerseits charismatischer und andererseits honoratiorenmäßiger Obödienz tritt nun das Ringen des bürokratischen Betriebes mit der charismatischen Parteiführerschaft. Der Parteibetrieb gerät, je entwickelter die Bürokratisierung ist und je umfangreichere direkte und indirekte Pfründeninteressen und Chancen an ihm hängen, desto sicherer in die Hände von »Fachmännern« des Betriebes, – mögen diese sofort als offizielle Parteibeamte oder zunächst als freie Unternehmer wie die Bosse in Amerika auftreten, – in deren Hand die systematisch angeknüpften persönlichen Beziehungen zu den Vertrauensmännern, Agitatoren, Kontrolleuren und dem sonstigen unentbehrlichen Personal, die Listen und Akten und alles andere Material liegen, dessen Kenntnis allein die Lenkung der Parteimaschi ne ermöglicht. Eine erfolgreiche Beeinflussung der Haltung der Partei und eventuell eine erfolgreiche Abspaltung von ihr kann dann nur vermittels des Besitzes eines solchen Apparates durchgeführt werden. Daß der Abg. Rickert die Vertrauensmännerlisten besaß, ermöglichte die »Sezession«, daß Eugen Richter und Rickert jeder seinen Sonderapparat in der Hand behielten, prognostizierte die Spaltung der Freisinnigen Partei, und daß sich die »Altnationalliberalen« das Material der Parteikontrolle zu beschaffen wußten, war ein ernsthafteres Symptom wirklicher Abspaltungsabsichten als alles Gerede vorher. Umgekehrt pflegt an der Unmöglichkeit der persönlichen Verschmelzung rivalisierender Apparate weit mehr als an sachlichen Differenzen jeder Versuch von Parteiverschmelzungen zu scheitern, wie ebenfalls deutsche Erfahrungen illustrieren.[668] Dieser mehr oder minder konsequent entwickelte bürokratische Apparat bestimmt nun in normalen Zeiten das Verhalten der Partei, einschließlich der entscheidend wichtigen Kandidatenfragen. Aber: selbst innerhalb so streng bürokratisierter Gebilde, wie die nordamerikanischen Parteien es sind, entwickelt sich, wie die letzte Präsidentschaftskampagne lehrte, in Zeiten starker Erregung gelegentlich immer wieder der charismatische Typus der Leitung. Steht ein »Held« zur Verfügung, so sucht er die Herrschaft der Parteitechniker durch Oktroyierung plebiszitärer Designationsformen, unter Umständen durch Umgestaltung der ganzen Nominationsmaschinerie zu brechen. Jede solche Erhebung des Charisma stößt natürlich auf den Widerstand des in normalen Zeiten herrschenden Apparats der professionellen Politiker, insbesondere der die Leitung und Finanzierung organisierenden und das Funktionieren der Partei in Gang haltenden Bosse, deren Kreaturen die Kandidaten zu sein pflegen. Denn nicht nur die materiellen Interessen der Stellenjäger hängen an der Auswahl der Parteikandidaten. Auch die materiellen Interessen der Parteimäzenaten – Banken, Lieferanten, Trustinteressenten – werden natürlich sehr tief von diesen Personenfragen berührt. Der große Geldgeber, der im Einzelfall einen charismatischen Parteiführer finanziert und von seinem Wahlsiege, je nachdem, Staatsaufträge, Steuerpachten, Monopole oder sonstige Privilegien, vor allem Rückerstattung seiner Vorschüsse mit entsprechender Verzinsung erwartet, ist seit den Zeiten des Crassus eine typische Figur. Auf der anderen Seite lebt aber auch der reguläre Parteibetrieb von Parteimäzenaten. Die ordentlichen Einkünfte der Partei: Beiträge von Mitgliedern und etwaige Steuern vom Gehalte der durch die Partei ins Amt gebrachten Beamten (Nordamerika), reichen selten aus. Die direkte ökonomische Ausbeutung der Machtstellung der Partei bereichert zwar die Beteiligten, ohne aber zugleich notwendig die Parteikasse selbst zu füllen. Die Mitgliedsbeiträge sind gar nicht selten, der Propaganda halber, ganz abgeschafft oder auf Selbsteinschätzung gestellt und damit die Großgeldgeber auch formell zu Beherrschern der Parteifinanzen gemacht. Der reguläre Betriebsleiter und eigentliche Fachspezialist, der Boss oder Parteisekretär, kann aber durch weg auf ihr Geld nur rechnen, wenn er die Parteimaschinerie fest in der Hand hat. Jede Erhebung des Charisma bedroht daher den regulären Betrieb auch finanziell. Es ist deshalb kein seltenes Schauspiel, daß sich die einander bekämpfenden Bosse oder sonstigen Leiter der konkurrierenden Parteien untereinander zusammenschließen, um im gemeinsamen geschäftlichen Interesse das Aufkommen charismatischer Führer, die vom regulären Betriebsmechanismus unabhängig wären, zu ersticken. Diese Kastrierung des Charisma gelingt dem Parteibetrieb in der Regel leicht und wird in Amerika auch im Fall der Durchführung der plebiszitären charismatischen »presidential primaries« immer wieder gelingen, weil eben die Kontinuierlichkeit des fachmännischen Betriebes als solchen taktisch auf die Dauer der emotionalen Heldenverehrung überlegen bleibt. Nur außerordentliche Bedingungen können dem Charisma über den Betrieb zum Siege verhelfen. Jenes eigentümliche Verhältnis von Charisma und Bürokratie, welches bei der Einbringung der ersten Homerule-Vorlage die englische liberale Partei spaltete, ist bekannt: Gladstones ganz persönliches, für den puritanischen Rationalismus unwiderstehliches, Charisma zwang die Caucusbürokratie, trotz entschiedenster sachlicher Abneigung und übler Wahlprognose, in ihrer Mehrheit bedingungslos zu schwenken und zu ihm zu stehen, führte so zur Spaltung des von Chamberlain geschaffenen Mechanismus und damit zum Verlust der Wahlschlacht. Aehnlich im letzten Jahr [1912] in Amerika.

Es ist zuzugeben, daß für das Maß von Chancen, welche das Charisma im Kampf mit der Bürokratie in einer Partei hat, deren allgemeiner Charakter nicht bedeutungslos sein kann. Je nachdem sie eine einfache »gesinnungslose«, d.h. ihr Programm nach den Chancen des einzelnen Wahlkampfs ad hoc formende Gefolgsschaftspartei von Stellenjägern ist, oder vorwiegend eine rein ständische Honoratioren- oder eine Klassenpartei oder ob sie in stärkerem Maße den Charakter einer ideellen »Programm«- und »Weltanschauungspartei« wahrt – Gegensätze, die natürlich stets relativ sind –, ist die Chance des Charisma sehr verschieden groß, in gewissen Hinsichten am größten beim Vorwiegen des erstgenannten Charakters, welcher eindrucksvollen Persönlichkeiten die Gewinnung der nötigen Gefolgschaft ceteris paribus weit leichter macht als die kleinbürgerliche Honoratiorenorganisation der deutschen, zumal der liberalen Parteien mit ihren ein- für allemal festen »Programmen« und »Weltanschauungen«, deren Anpassung an die jeweiligen demagogischen Chancen jedesmal eine Katastrophe bedeuten kann. Aber etwas allgemeines läßt sich darüber wohl nicht aussagen. »Eigengesetzlichkeit« der Parteitechnik und ökonomische und soziale Bedingungen des konkreten Falls sind dazu im Einzelfall in zu intimer Verbindung wirksam.


Wie diese Beispiele zeigen, gibt es charismatische Herrschaft keineswegs lediglich auf primitiven Entwicklungsstufen, wie denn überhaupt die drei Grundtypen der[669] Herrschaftsstruktur nicht einfach hintereinander in eine Entwicklungslinie eingestellt werden können, sondern miteinander in der mannigfachsten Art kombiniert auftreten. Allerdings aber ist es das Schicksal des Charisma, mit zunehmender Entwicklung institutioneller Dauergebilde zurückzutreten. In den uns zugänglichen Anfängen von Gemeinschaftsverhältnissen tritt jede Gemeinschaftsaktion, welche über den Bereich der traditionellen Bedarfsdeckung in der Hauswirtschaft hinausgeht, in charismatischer Struktur auf. Der primitive Mensch sieht in allen Einflüssen, die von außen her sein Leben bestimmen, die Wirkung spezifischer Gewalten, welche den Dingen, toten ebenso wie lebenden, und den Menschen, abgeschiedenen ebenso wie lebendigen, eigen sind und ihnen Macht geben, zu nützen oder zu schaden. Der ganze Begriffsapparat primitiver Völker, einschließlich ihrer Natur- und Tierfabeln geht von solchen Voraussetzungen aus. Die Begriffe mana und orenda und ähnliche, deren Bedeutung die Ethnographie lehrt, bezeichnen solche spezifischen Gewalten, deren »Uebernatürlichkeit« ausschließlich darin besteht, daß sie nicht jedermann zugänglich, sondern an ihren persönlichen oder sachlichen Träger geknüpft sind. Magische und Heldenqualitäten sind nur besonders wichtige Fälle solcher spezifischen Gewalten. Jedes aus dem Geleise des Alltags herausfallende Ereignis läßt charismatische Gewalten, jede außergewöhnliche Fähigkeit charismatischen Glauben aufflammen, der dann im Alltag an Bedeutung wieder verliert. In normalen Zeiten ist die Gewalt des Dorfhäuptlings außerordentlich gering, fast nur schiedsrichterlich und repräsentativ. Ein eigentliches Recht, ihn abzusetzen, schreiben sich die Teilhaber der Gemeinschaft zwar im allgemeinen nicht zu, denn seine Gewalt war durch Charisma, und nicht durch Wahl begründet. Aber man läßt ihn eventuell unbedenklich im Stich und siedelt sich anderweit an. Eine Verschmähung des Königs wegen mangelnder charismatischer Qualifikation kommt in dieser Art noch bei den germanischen Stämmen vor. Eine nur durch die gedankenlose, oder irgendwelche unbestimmten Folgen von Neuerungen scheuende, Innehaltung des faktisch Gewohnten regulierte Anarchie kann fast als der Normalzustand primitiver Gemeinschaften angesehen werden. Und ähnlich steht es im normalen Alltag mit der sozialen Gewalt der Zauberer. Aber jedes besondere Ereignis: große Jagdzüge, Dürre oder anderweite Bedrohung durch den Zorn der Dämonen, vor allem aber kriegerische Gefährdung, lassen sofort das Charisma des Helden oder Zauberers in Funktion treten. Der charismatische Jagd- und Kriegsführer steht sehr oft als eine Sondergestalt neben dem Friedenshäuptling, der vornehmlich ökonomische und daneben etwa schiedsrichterliche Funktion hat. Wird die Beeinflussung der Götter und Dämonen Gegenstand eines Dauerkultus, so entsteht aus dem charismatischen Propheten und Zauberer der Priester. Wird der Kriegszustand chronisch und nötigt die technische Entwicklung der Kriegführung zu systematischer Uebung und Aushebung der wehrhaften Mannschaft, so wird aus dem charismatischen Heerführer der König. Die fränkischen Königsbeamten: Graf und Sakebaro sind ursprünglich Militär- und Finanzbeamte, alles andere, insbesondere die zunächst ganz dem alten charismatischen Volksschiedsrichter verbliebene Rechtspflege kam erst später dazu. Die Entstehung eines Kriegsfürstentums als Dauergebilde und mit einem Dauerapparat bedeutet gegenüber dem Häuptling, – der je nachdem bald mehr ökonomische Funktionen im Interesse der Gemeinwirtschaft und der Wirtschaftsregulierung des Dorfs oder der Markgemeinde, bald mehr magische (kultische oder ärztliche), bald mehr richterliche (ursprünglich: schiedsrichterliche) Funktionen hat, – denjenigen entscheidenden Schritt, an welchen man zweckmäßiger Weise den Begriff Königtum und Staat anknüpft. Dagegen ist es willkürlich, Königtum und Staat, in Anlehnung an Vorstellungen Nietzsches, damit beginnen zu lassen, daß ein siegreicher Stamm einen anderen unterwirft und nun einen Dauerapparat schafft, um ihn in Abhängigkeit und Abgabepflichtig keit zu halten. Denn genau die gleiche Differenzierung von wehrhaften und abgabefreien Kriegern und wehrlosen und abgabepflichtigen Ungenossen derselben kann sich – nicht notwendig in der Form patrimonialer Abhängigkeit der letzteren, sondern sehr häufig[670] ohne dieselbe – sehr leicht auch innerhalb jedes Stammes entwickeln, der chronisch kriegsbedroht ist. Die Gefolgschaft eines Häuptlings kann sich dann zu einer militärischen Zunft zusammenschließen und politische Herrenrechte ausüben, so daß eine Aristokratie feudalen Gepräges entsteht, oder der Häuptling kann zunehmend Gefolge in seinen Sold nehmen, zunächst um Beutezüge zu machen, dann um die eigenen Volksgenossen zu beherrschen, wofür es ebenfalls Beispiele gibt. Richtig ist nur: daß das normale Königtum das zu einem Dauergebilde gewordene charismatische Kriegsfürstentum ist, mit einem Herrschaftsapparat zur Domestikation der unbewehrten Gewaltunterworfenen. Freilich und ganz naturgemäß wird dieser Apparat am straffsten entwickelt auf fremdem Eroberungsgebiet, wo die ständige Bedrohung der Herrenschicht dies gebietet. Die normannischen Staaten, vor allem England, waren nicht zufällig die einzigen Feudalstaaten des Okzidents mit einer wirklich zentralisierten und technisch hoch entwickelten Verwaltung, und das gleiche gilt für die arabischen, sasanidischen und türkischen Kriegerstaaten, die auf erobertem Gebiet am straffsten organisiert waren. Ganz ebenso übrigens im Bereich der hierokratischen Gewalt. Die straff organisierte Zentralisation der katholischen Kirche hat sich auf dem Missionsgebiet des Okzidents entwickelt und nach der Vernichtung der historischen kirchlichen Lokalgewalten durch die Revolution ihre Vollendung erreicht: als »ecclesia militans« hat die Kirche sich ihren technischen Apparat geschaffen. Aber Königs- und Hohepriestergewalt an sich gibt es auch ohne Eroberung und Mission, wenn man den institutionellen Dauercharakter der Herrschaft und also das Vorhandensein eines kontinuierlichen Herrschaftsapparats, sei er nun bürokratischen, patrimonialen oder feudalen Charakters, als das entscheidende Merkmal ansieht. –

Während alles das, was wir bisher als mögliche Konsequenzen der Veralltäglichung des Charisma betrachtet haben, dessen streng an die konkrete Person gebundenen Charakter unberührt ließ, haben wir uns nun Erscheinungen zuzuwenden, deren gemeinsames Merkmal eine eigentümliche Versachlichung des Charisma darstellt. Aus einer streng persönlichen Gnadengabe wird es dabei eine Qualität, die entweder 1. übertragbar oder 2. persönlich erwerbbar oder 3. nicht an eine Person als solche, sondern an den Inhaber eines Amts oder an ein institutionelles Gebilde ohne Ansehen der Person geknüpft ist. Dabei noch von Charisma zu sprechen, rechtfertigt sich nur dadurch, daß stets der Charakter des Außergewöhnlichen, nicht jedermann Zugänglichen, den Qualitäten der charismatisch Beherrschten gegenüber prinzipiell Präeminenten erhalten bleibt und daß es eben hierdurch für diejenige soziale Funktion tauglich ist, zu der es Verwendung findet. Aber natürlich bedeutet gerade diese Form des Hineinströmens des Charisma in den Alltag, seine Umwandlung in ein Dauergebilde, die tiefgreifendste Umgestaltung seines Wesens und seiner Wirkungsart.

Der geläufigste Fall einer Versachlichung des Charisma ist der Glaube an seine Uebertragbarkeit durch das Band des Blutes. Die Sehnsucht der Jünger oder Gefolgen und der charismatisch beherrschten Gemeinde nach einer Verewigung des Charisma wird so auf die einfachste Weise gestillt. Dabei ist der Gedanke an ein eigentliches individuelles Erbrecht hier noch ebenso fern zu halten, wie er der Struktur der Hausgemeinschaft ursprünglich überhaupt fehlt. An Stelle des Erbrechts steht einfach die Unsterblichkeit der perennierenden Hausgemeinschaft als Trägerin des Besitzes gegenüber den wechselnden Einzelnen. Auch bei der Erblichkeit des Charisma handelt es sich ursprünglich darum, daß es an eine Hausgemeinschaft und Sippe geheftet ist, welche ein- für allemal als magisch begnadet gilt, derart, daß nur aus ihrem Kreise die Träger des Charisma hervorgehen können. Die Vorstellung ist an sich so naheliegend, daß ihre Entstehung kaum nach besonderer Erklärung verlangt. Das als dergestalt begnadet angesehene Haus wird dadurch mächtig über alle anderen hinausgehoben, und der Glaube an diese spezifische, auf natürlichem Wege nicht erreichbare, also charismatische Qualifikation ist überall die Grundlage der Entwicklung von Königs- und Adelsmacht gewesen. Denn wie das Charisma des Herrn an[671] sein Haus, so heftet sich dasjenige der Jünger und Gefolgsleute an deren Häuser. Die Kobetsu, die (angeblich) aus dem Haus (uji) des japanischen charismatischen Herrschers Jimmu Tennô stammenden Familien, erscheinen als dauernd spezifisch begnadet und behalten diesen Vorrang vor den anderen uji, unter denen die Shinbetsu, das heißt die Häuser der Gefolgsleute jenes Herrschers, die (angeblich) mit ihm eingewanderten fremden ebenso wie die von ihm in sein Gefolge eingegliederten alteinheimischen Geschlechter, den charismatischen Adel bilden. Dieser verteilt die Verwaltungsfunktionen unter sich. Die beiden Sippen der Muraji und der Omi standen charismatisch im Range obenan. Innerhalb ihrer wie aller anderen Sippen wiederholt sich dann beim Zerfall der Hausgemeinschaften stets das Gleiche: ein Haus der Sippe gilt als das große (ō = oho) Haus: die Häuser Ô Muraji und Ô Omi insbesondere sind die Träger des spezifischen Charisma ihrer Sippe, und ihre Hausvorstände beanspruchen daher das Anrecht auf die entsprechenden Stellungen bei Hof und innerhalb der politischen Gemeinschaft. Alle berufsständische Gliederung bis hinab zu den letzten Handwerkern ist oder gilt, wo das Prinzip voll durchgeführt wird, wenigstens theoretisch, als ruhend auf der gleichen Bindung je eines spezifischen Charisma an bestimmte Sippen und des Vorstandsrechtes in der Sippe an deren charismatisch bevorzugtes (»großes«) Haus. Alle politische Gliederung des Staats ist eine solche nach Geschlechtern und deren Anhang und territorialem Besitzstand. Dieser Zustand des reinen »Geschlechterstaats« ist von jeder Art von Lehensstaat, Patrimonialstaat oder Amtsstaat mit erblichen Aemtern, so flüssig in der historischen Realität die Uebergänge sind, dennoch als Typus streng zu scheiden. Denn nicht irgendeine persönliche Treuebeziehung kraft Beleihung mit Vermögensobjekten oder Aemtern ist der »Legitimitäts«-Grund der Rechte der einzelnen Geschlechter auf ihre Funktionen, sondern das den einzelnen Häusern selbständig eigene besondere Charisma. Wie schon früher erwähnt, hat der Uebergang von hier aus zum Lehensstaat sehr regelmäßig – auf seiten des Herrn – gerade das Motiv, mit der »Eigen-Legitimität« dieser Geschlechterrechte ein Ende zu machen und eine von ihm, dem Herrn, abgeleitete Lehens-Legitimität an deren Stelle zu setzen.

Ob der Reinheit des Typus die Realität je gänzlich entsprach, interessiert hier nicht, es genügt, daß das Prinzip in mehr oder minder entwickelter oder rudimentärer Form bei den allerverschiedensten Volksstämmen wiederkehrt und in Resten in die Struktur noch der historischen Antike (Blutsvorrecht der Eteobutaden in Athen – als Kehrseite: Disqualifikation der Alkmaioniden durch Blutschuld) ebenso hineinragt wie in das germanische Altertum.

Die Regel ist in historischer Zeit freilich eine weit weniger konsequente Durchführung des haus- und gentilcharismatischen Prinzips. Sowohl auf den primitivsten wie auf den höchsten Kulturstufen besteht im allgemeinen nur das charismatische Vorrecht des politischen Herrscherhauses und eventuell einer eng begrenzten Zahl anderer mächtiger Geschlechter. Das Charisma des Zauberers, Regenmachers, Medizinmanns, Priesters ist, wenn es nicht mit politischen Herrenrechten in der gleichen Person vereinigt ist, in primitiven Verhältnissen weit weniger häufig hauscharismatisch gebunden, und erst die Entwicklung eines regulären Kultus gibt regelmäßig den Anlaß zu jener gentilcharismatischen Bindung von bestimmten Priestertümern an Adelsgeschlechter, die dann so überaus häufig ist und auf die Vererblichung anderer Charismen zurückwirkt. Mit der steigenden Wertung des physiologischen Blutbandes beginnt dann regelmäßig der Prozeß der Vergöttlichung zunächst der Ahnen, schließlich, wenn die Entwicklung ungehemmt weitergeht, auch des jeweiligen Herrn selbst, von deren Konsequenzen weiterhin noch die Rede sein muß.

Das bloße Gentilcharisma als solches garantiert nun aber noch nicht die Eindeutigkeit der persönlichen Berufung zum Nachfolger. Dafür ist eine bestimmte Erbordnung nötig, und damit diese entsteht, muß zu dem Glauben an die charismatische Bedeutung des Blutes als solchen der weitere Glaube an das spezifische[672] Charisma der Erstgeburt treten. Denn alle anderen Systeme, auch das im Orient öfter vorkommende Seniorat, führen zu wilden Palastintrigen und -revolutionen, vollends wenn Polygamie herrscht und so neben das Interesse des Herrn, etwaige andere Thronanwärter zugunsten eigener Abkömmlinge zu beseitigen, noch der Kampf der Weiber um die Erbfolge ihrer Kinder tritt. Das einfache Primogeniturprinzip pflegt in einem Lehensstaat durch die Notwendigkeit, die Teilung des erblich gewordenen Lehens im Interesse seiner Prästationsfähigkeit an Schranken zu binden, zuerst für die Lehensträger entwickelt und dann von ihm aus auf die oberste Spitze sozusagen zurückprojiziert zu werden. So geschah es im Okzident mit fortschreitender Feudalisierung. Im Patrimonialstaat, sei es orientalischen, sei es merowingischen Gepräges, ist die Geltung des Primogeniturprinzips weit unsicherer. Fehlt es, so besteht die Alternative: Erbteilung der politischen Gewalt wie jedes anderen Besitztums des patrimonialen Herrn oder Auswahl des Nachfolgers auf einem geordneten Wege: Gottesgericht (Zweikampf der Söhne, der sich bei primitiven Völkern mehrfach findet), Losorakel (das heißt praktisch: priesterliche Auswahl, so bei den Juden seit Josua), oder endlich die reguläre Form der charismatischen Kreierung: Auswahl des Qualifizierten durch Vorwahl und Akklamation durch Gefolgschaft und Volk, ein Vorgehen, welches in diesem Fall freilich noch mehr als sonst die Gefahr von Doppelwahlen und Kämpfen in sich birgt. In jedem Fall aber ist die Herrschaft der Monogamie als allein legitime Eheform eine der wichtigsten Grundlagen einer geordneten Kontinuität der Monarchengewalt gewesen und den Monarchien des Okzidents im Gegensatz zu den Zuständen des Orients zugute gekommen, bei denen der Gedanke an den bevorstehenden oder möglichen Thronwechsel die gesamte Verwaltung in Atem hält und der Thronwechsel jedesmal die Chance einer Katastrophe des Staatswesens mit sich bringt. Der Glaube an die Erblichkeit des Charisma gehört überhaupt zu jenen Bedingungen, welche die allergrößten »Zufälligkeiten« in den Bestand und die Struktur von Herrschaftsgebilden hineingetragen haben, um so mehr, als das Erblichkeitsprinzip mit anderen Formen der Nachfolgerdesignation in Konkurrenz geraten kann. Daß Muhammed ohne männliche Nachkommen starb und daß seine Gefolgschaft den Khalifat nicht auf Erbcharisma gründete, ja, in der Omajjadenzeit, ihn direkt antitheokratisch entwickelte, hat für die Struktur des Islâm die allertiefstgehenden Konsequenzen gehabt; der auf das Erbcharisma der Familie 'Alî's bauende Schî'itismus mit seiner Konsequenz eines mit unfehlbarer Lehrautorität ausgestatteten »Imâm« steht dem auf Tradition und »idschmâ« (consensus ecclesiae) ruhenden orthodoxen Sunnitismus in erster Linie auf Grund jener Differenzen über die Herrscherqualifikationen so schroff gegenüber. Die Beseitigung der Familie Jesu und ihrer anfänglich bedeutenden Stellung in der Gemeinde ist offenbar schmerzloser gelungen. Das Aussterben der deutschen Karolinger und dann der nachfolgenden Königsgeschlechter, fast stets in dem Augenblick, wo das Erbcharisma vielleicht die Kraft hätte gewinnen können, das von den Fürsten in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht in den Hintergrund zu drängen, im Gegensatz zu Frankreich und England, ist für den Verfall der deutschen Königsmacht im Gegensatz zu der Stärkung der französischen und englischen von außerordentlicher Tragweite gewesen und hat historisch vermutlich weittragendere Folgen gehabt als selbst das Schicksal der Familie Alexanders. Dagegen ist umgekehrt, was von den römischen Cäsaren der drei ersten Jahrhunderte hervorragend qualifiziert war, fast ohne Ausnahme nicht durch Blutsband, sondern durch Nachfolgerdesignation in Form der Adoption auf den Thron gekommen und haben die kraft Blutsbandes zum Thron Berufenen in ihrer überwältigenden Mehrzahl die Gewalt geschwächt. Dies hängt offensichtlich mit der abweichenden Struktur der politischen Gewalt in Feudalstaaten einerseits, in einem zunehmend bürokratisch regierten, dabei aber auf der ausschlaggebenden Rolle eines stehenden Heeres und seiner Offiziere ruhenden Staatswesen andererseits zusammen. Wir verfolgen das hier nicht näher.

Nachdem einmal der Glaube an die Gebundenheit des Charisma an das Blutsband[673] gegeben ist, kehrt sich dessen ganze Bedeutung um. Wo ursprünglich die eigene Tat nobilitierte, wird nun der Mann nur noch durch Taten seiner Vorfahren »legitimiert«. Zur römischen Nobilität gehört, nicht wer selbst, sondern wessen Vorfahren ein nobilitierendes Amt innehatten, und das Bestreben des so umschriebenen Amtsadels geht dahin, die Aemter innerhalb dieses Kreises zu monopolisieren. Diese Entwicklung, die Umkehrung des genuinen Charisma in sein gerades Gegenteil, verläuft überall nach dem gleichen Schema. Während die genuin amerikanische (puritanische) Denkweise den selfmademan, der selbst sein Vermögen »gemacht« hatte, als Träger des Charisma glorifizierte, der bloße »Erbe« als solcher aber nichts galt, kehrt sich diese Empfindung jetzt vor unseren Augen in ihr Gegenteil um und gilt nur noch die Abkunft – von den Pilgrim Fathers, von der Pocahontas, von den Knickerbockers – oder die Zugehörigkeit zu den einmal rezipierten Familien (relativ) »alten« Reichtums. Die Schließung der Adelsbücher, die Ahnenproben, die Zulassung des Neureichtums nur als »gentes minores« und alle derartigen Erscheinungen sind alle in gleichem Maße Produkt des Bestrebens, das soziale Prestige durch Schaffung eines Seltenheitsmonopols zu steigern. Von ökonomischen Motiven spielt neben der Monopolisierung direkt oder indirekt einträglicher Staatsstellungen oder anderer sozialer Beziehungen zu der jeweiligen Staatsmacht vor allem die Monopolisierung des Konnubiums: die durch die Nobilität gegebene Vorzugschance auf die Handreicher Erbinnen und die Steigerung der Nachfrage nach der Hand der eigenen Töchter mit. –

Neben jener Art von »Versachlichung« des Charisma, welche seine Behandlung als Erbgut darstellt, stehen andere, historisch wichtige Arten. Zunächst kann statt der Uebertragung durch das Blut die künstliche, magische, Uebertragbarkeit treten: die apostolische »Sukzession« durch die Manipulationen der Bischofsweihe, die durch die Priesterordination erworbene, unvertilgbare charismatische Qualifikation, die Bedeutung der Krönung und Salbung der Könige und zahllose andere ähnliche Vorgänge bei Natur- und Kulturvölkern führen darauf zurück. Weniger das an sich meist zur Form gewordene Symbol als solches ist praktisch wichtig, als der in vielen Fällen damit verbundene Gedanke: die Verknüpfung des Charisma mit der Innehabung eines Amtes – in welches die Handauflegung, Salbung usw. einführt – als solchen. Denn hier liegt der Uebergang zu jener eigentümlichen institutionellen Wendung des Charisma: seine Anhaftung an ein soziales Gebilde als solches, als Folge der an die Stelle des charismatischen persönlichen Offenbarungs- und Heldenglaubens tretenden Herrschaft der Dauergebilde und Traditionen.

Die Stellung des römischen Bischofs (ursprünglich: dieses Bischofs in Gemeinschaft mit der römischen Ekklesia) in der alten Kirche war wesentlich charismatischen Charakters: sehr früh gewinnt diese Kirche eine spezifische Autorität, welche sich der intellektuellen Ueberlegenheit des hellenistischen Orients gegenüber – der fast alle großen Kirchenväter hervorbrachte, die Dogmen prägte und alle ökumenischen Konzilien auf seinem Gebiete sah – immer wieder behauptete, solange die Einheit der Kirche bestand und auf dem festen Glauben ruhte, Gott werde gerade die Kirche der Welthauptstadt, trotz ihrer so viel geringeren intellektuellen Mittel, nicht irren lassen. Etwas anderes als ein Charisma war dies nicht: einen Primat im modernen Sinn eines maßgebenden »Lehramts« oder einer universellen Jurisdiktionsgewalt im Sinn einer Appellations- oder gar einer universell mit den Lokalgewalten konkurrierenden Bischofskompetenz stellte es in keiner Weise dar, denn diese Begriffe waren damals noch gar nicht entwickelt. Und ferner: wie jedes Charisma, galt auch dies zunächst als eine labile Gnadengabe: einen römischen Bischof wenigstens hat das Anathema eines Konzils getroffen. Aber im ganzen stand es als eine Verheißung an die Kirche fest. Noch Innocenz III. auf der Höhe seiner Macht hat nicht mehr als den ganz allgemeinen und inhaltlich unbestimmten Glauben an jene Verheißung in Anspruch genommen, und erst die juristisch bürokratisierte und intellektualisierte Kirche der Neuzeit hat daraus eine Amtskompetenz gemacht, mit der für jede Bürokratie charakteristischen Scheidung von Amt (»ex cathedra«) und Privatmann.

[674] Das Amtscharisma – der Glaube an die spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solcher – ist keineswegs eine nur den Kirchen und noch weniger eine nur primitiven Verhältnissen eigene Erscheinung. Es äußert sich auch unter modernen Bedingungen in politisch wichtiger Art in den innerlichen Beziehungen der Gewaltunterworfenen zur staatlichen Gewalt. Denn diese kann sehr verschieden sein, je nachdem sie dem Amtscharisma freundlich oder feindlich gegenübersteht. Die spezifische Respektlosigkeit des Puritanismus gegenüber allem Kreatürlichen, seine Ablehnung aller Kreaturvergötterung wirkte dahin, im Bereiche seiner Herrschaft alle charismatischen Respektverhältnisse aus der inneren Stellungnahme gegenüber den Gewaltigen der Erde auszumerzen: alle Amtsführung ist ein business wie ein anderes, der Herrscher und seine Beamten sind Sünder wie andere (von Kuyper in seinen Konsequenzen stark betont), nicht klüger als andere. Durch Gottes unerforschliche Ratschlüsse sind zufällig gerade sie an diese Stelle geraten und dadurch mit der Macht ausgestattet, Gesetze, Verordnungen, Urteile, Verfügungen zu fabrizieren. Aus dem kirchlichen Amt muß freilich derjenige, welcher die Zeichen der Verwerfung an sich trägt, entfernt werden. Aber im Mechanismus des Staats ist ein solcher Grundsatz undurchführbar und auch entbehrlich. Solange die weltlichen Gewalthaber nichts direkt gegen das Gewissen und Gottes Ehre tun, nimmt man ihre Gewalt hin, denn eine Aenderung würde nur andere, ebenso sündige und wahrscheinlich ebenso törichte, Menschen an ihre Stelle setzen. Aber irgendeine innerlich bindende Autorität haben sie, die ja nur Bestandteile eines menschlich geschaffenen, menschlichen Zwecken dienenden Mechanismus sind, nicht. Das Amt besteht um sachlicher Notwendigkeit willen, es ist aber nichts, was unter und über seinem jeweiligen Inhaber schwebt und auf diesen irgendeine Weihe zurückstrahlen könnte, wie sie etwa nach normalem deutschen Empfinden das »königliche Amtsgericht« besitzt. Diese naturalistisch rationale innere Haltung und innere Stellungnahme zum Staat, welche, je nachdem, sehr konservativ oder auch sehr revolutionär wirken konnte und gewirkt hat, ist eine Grundbedingung zahlreicher wichtiger Eigentümlichkeiten innerhalb der vom Puritanismus beeinflußten Welt. Die grundsätzlich ganz andere Stellung etwa des normalen Deutschen zum Amt, zu der als etwas Ueberpersönliches gedachten Behörde und deren Nimbus ist allerdings zum Teil durch die ganz konkrete Eigenart der lutherischen Religiosität bedingt, entspricht aber, in der Ausstattung der Gewalten mit dem Amtscharisma der »gottgewollten Obrigkeit«, einem sehr allgemeinen Typus, und die rein empfindungsmäßige Staatsmetaphysik, welche auf diesem Boden wächst, hat politisch weittragende Konsequenzen. Das Gegenstück gegen die puritanische Verwerfung des Amtscharisma ist die katholische Theorie vom character indelebilis des Priesters mit ihrer strengen Scheidung von Amtscharisma und persönlicher Würdigkeit. Sie ist die radikalste Form der Versachlichung und Umwandlung der rein persönlichen, an der Bewährung der Person haftenden charismatischen Berufung in eine jedem, der in die Amtshierarchie durch eine magische Handlung als Glied aufgenommen ist, unverlierbar anhängende, den Amtsmechanismus ohne Ansehen des Werts der Person seiner Träger heiligende, charismatische Befähigung. Diese Versachlichung des Charisma war das Mittel, einen hierokratischen Mechanismus in eine Welt, welche magische Befähigungen auf Schritt und Tritt vor sich sah, hineinzupflanzen. Nur wenn der Priester persönlich absolut verworfen sein konnte, ohne daß deshalb seine charismatische Qualifikation fraglich wurde, war die Bürokratisierung der Kirche möglich und ihr Anstaltscharakter in seinem charismatischen Werte allen persönlichen Zufälligkeiten entrückt. Da gerade dem noch nicht verbürgerlichten Menschen die moralisierende Betrachtung der irdischen, ebenso wie die der überirdischen Welt noch fern liegt, die Götter nicht gut, sondern nur stark sind, magische Befähigung aber bei allen möglichen tierischen, menschlichen und übermenschlichen Wesen anzutreffen ist, so knüpft diese Art von Scheidung der Person von der Sache durchaus an geläufige Vorstellungen an, welche sie nur in wohl überlegter Weise in den Dienst einer großen Strukturidee: eben der Bürokratisierung stellte. –[675]

Einen historisch besonders wichtigen Fall der charismatischen Legitimierung von Institutionen stellt nun diejenige des politischen Charisma dar: die Entwicklung des Königtums.

Der König ist überall primär ein Kriegsfürst. Das Königtum wächst aus charismatischem Heldentum heraus. In seiner aus der Geschichte der Kulturvölker bekannten Ausprägung ist es nicht die entwicklungsgeschichtlich älteste Form der »politischen« Herrschaft, d.h. einer über die Hausgewalt hinausreichenden, von ihr prinzipiell zu scheidenden, weil nicht in erster Linie der Leitung des friedlichen Ringens des Menschen mit der Natur gewidmeten, sondern den gewaltsamen Kampf einer Menschengemeinschaft mit anderen leitenden Gewalt. Seine Vorfahren sind die Träger aller derjenigen Charismata, welche die Abhilfe außerordentlicher äußerer und innerer Not oder das Gelingen außerordentlicher Unternehmungen verbürgten. Der Häuptling der Frühzeit, der Vorläufer des Königtums, ist noch eine zwiespältige Figur: patriarchales Familien- oder Sippenhaupt auf der einen Seite, charismatischer Anführer zur Jagd und zum Kriege, Zauberer, Regenmacher, Medizinmann, also Priester und Arzt, und endlich Schiedsrichter auf der anderen Seite. Nicht immer, aber oft spalten sich diese charismatischen Funktionen in ebensoviele Sonder-Charismata mit besonderen Trägern. Ziemlich oft steht neben dem aus der Hausgewalt geborenen Friedenshäuptling (Sippenhaupt) mit wesentlich ökonomischen Funktionen der Jagd- und Kriegshäuptling, und dann wird der letztere im Gegensatz zum ersteren durch Bewährung seines Heldentums in mit freiwilliger Gefolgschaft unternommenen erfolgreichen Zügen auf Sieg und Beute erworben (deren Aufzählung noch in den assyrischen Königsinschriften, untermischt mit den Zahlen der erschlagenen Feinde und dem Umfang der mit ihren abgezogenen Häuten bedeckten Stadtmauern eroberter Plätze, Jagdbeute und für Bauzwecke mitgeschleppte Libanonzedern umfaßt). Der Erwerb der charismatischen Stellung erfolgt dann ohne Rücksicht auf die Stellung in den Sippen und Hausgemeinschaften, überhaupt ohne Regel irgendwelcher Art. Dieser Dualismus zwischen Charisma und Alltag findet sich sowohl bei den Indianern, z.B. im Irokesenbunde, wie in Afrika und sonst sehr häufig. Wo Krieg und Jagd auf große Tiere fehlen, fehlt auch der charismatische Häuptling, der »Fürst«, wie wir ihn zur Vermeidung der üblichen Verwirrung im Gegensatz zum Friedenshäuptling nennen wollen. Es kann dann, besonders wenn Naturschrecknisse, namentlich Dürre oder Krankheiten häufig sind, ein charismatischer Zauberer eine im wesentlichen gleichartige Macht in Händen haben: ein Priesterfürst. Der Kriegsfürst mit seinem je nach Bewährung oder aber auch je nach Bedarf im Bestande labilen Charisma wird zur ständigen Erscheinung, wenn der Kriegszustand chronisch wird. Ob man nun dann das Königtum, und mit ihm den Staat, erst mit der An- und Eingliederung von Fremden, Unterworfenen in die eigene Gemeinschaft anfangen lassen will, ist an sich eine bloß terminologische Frage: den Ausdruck »Staat« werden wir weiterhin zweckmäßigerweise für unsern Bedarf wesentlich enger zu begrenzen haben. Sicher ist, daß die Existenz des Kriegsfürsten als regulärer Erscheinung an dem Bestande einer Stammesherrschaft über Unterworfene anderer Stämme und auch an dem Vorhandensein individueller Sklaven nicht hängt, sondern lediglich an dem Bestande des chronischen Kriegszustandes und einer auf ihn abgestellten umfassenden Organisation. Richtig ist auf der anderen Seite, daß die Entfaltung des Königtums zu einer regulären königlichen Verwaltung wenigstens ungemein häufig erst auf der Stufe der Beherrschung arbeitender oder zinsender Massen durch eine Gefolgschaft königlicher Berufskrieger auftritt, ohne daß doch die gewaltsame Unterwerfung fremder Stämme ein absolut unentbehrliches Zwischenglied der Entwicklung wäre: die innere Klassenschichtung infolge der Entwicklung des charismatischen Kriegsgefolges zu einer herrschenden Kaste kann ganz die gleiche soziale Differenzierung mit sich bringen. In jedem Fall aber strebt die Fürstengewalt und streben ihre Interessenten, die Fürstengefolgschaft, sobald die Herrschaft stetig geworden[676] ist, nach »Legitimität«, d.h. nach einem Merkmal des charismatisch berufenen Herrschers74. –

Ist einmal die charismatische Befähigung zu einer sachlichen Qualität geworden, die durch irgendwelche, zunächst rein magische, Mittel übertragen werden kann, so ist damit der Weg zu ihrer Verwandlung aus einer Gnadengabe, deren Beisitz erprobt und bewährt, nicht aber mitgeteilt oder angeeignet werden kann, in etwas dem Prinzip nach Erwerbbares beschritten. Damit wird die charismatische Befähigung möglicher Gegenstand der Erziehung. Freilich, wenigstens ursprünglich, nicht in der Form rationaler oder empirischer Lehre. Heldentum und magische Fähigkeiten gelten zunächst nicht als lehrbar. Sondern sie können nur, wo sie latent vorhanden sind, durch Wiedergeburt der ganzen Persönlichkeit geweckt werden. Wiedergeburt und dadurch Entfaltung der charismatischen Qualität, Erprobung, Bewährung und Auslese des Qualifizierten ist daher der genuine Sinn charismatischer Erziehung. Isolierung von der gewohnten Umgebung und dem Einfluß aller natürlichen Bande der Familie (bei primitiven Völkern direkt Uebersiedlung der Epheben in den Wald), immer aber Eintritt in eine besondere Erziehungsgemeinschaft, Umgestaltung der gesamten Lebensführung, Askese, körperliche und seelische Exercitia in den verschiedensten Formen zur Weckung der Fähigkeit zur Ekstasis und zur Wiedergeburt, fortwährende Erprobung der jeweils erreichten Stufe charismatischer Vervollkommnung durch psychische Erschütterungen und physische Torturen und Verstümmelungen (die Beschneidung ist vielleicht in erster Linie als Bestandteil dieser asketischen Mittel entstanden), endlich stufenweise feierliche Rezeption der Erprobten in den Kreis der bewährten Träger des Charisma. Der Gegensatz gegen die Fachbildung ist natürlich innerhalb gewisser Grenzen flüssig. Jede charismatische Erziehung schließt irgendwelche fachbildungsmäßigen Bestandteile in sich, je nachdem in den Novizen der Kriegsheld, Medizinmann, Regenmacher, Exorzist, Priester, Rechtskundige entwickelt werden soll, und dieser, sehr oft im Interesse des Prestiges und der Monopolisierung als Geheimlehre behandelte, empirisch fachliche Bestandteil, die Lehre, nimmt mit steigender Differenzierung der Berufe und Erweiterung des Fachwissens stetig sowohl quantitativ wie an rationaler Qualität zu, bis als caput mortuum der alten asketischen Mittel zur Weckung und Erprobung charismatischer Fähigkeit die bekannten pennalistischen Erscheinungen des Kasernen- und Studentenlebens innerhalb einer wesentlich fachmäßigen Abrichtung übrig bleiben. Die genuin charismatische Erziehung ist aber der radikale Gegenpol der von der Bürokratie postulierten fachspezialistischen Lehre. Zwischen der auf charismatische Wiedergeburt gerichteten Erziehung und dem auf bürokratisches Fachwissen gerichteten rationalen Unterricht mitten inne liegen alle jene auf »Kultivierung« in dem früher besprochenen Sinn des Wortes: Umgestaltung der äußeren und inneren Lebensführung, gerichteten Arten der Bildung, welche die ursprünglichen irrationalen Mittel der charismatischen Erziehung nur in Resten bewahren, und deren wichtigster Fall von jeher die Heranbildung zum Krieger oder Priester war. Auch die Erziehung zu Kriegern oder Priestern ist ursprünglich vor allem: Auslese der charismatisch Qualifizierten. Wer die Heldenproben der Kriegererziehung nicht besteht, bleibt ebenso »Weib«, wie der magisch nicht Erweckbare »Laie« bleibt. Die Erhaltung und Steigerung der Qualifikationserfordernisse wird nach uns bekanntem Schema eifrig gefördert durch die Interessen des Gefolges, welches den Herrn zwingt, nur die durch die gleichen Proben Hindurchgegangenen an dem Prestige und den materiellen Vorteilen der Herrschaft teilnehmen zu lassen.

Die ursprünglich charismatische Erziehung kann im Verlauf dieser umbildenden Entwicklung zu einer formell staatlichen oder kirchlichen Institution werden oder auch der formell freien Initiative der zu einer Zunft zusammengeschlossenen Interessenten[677] überlassen bleiben. Welchen Weg die Entwicklung einschlägt, hängt von den verschiedensten Umständen und namentlich von den Machtverhältnissen der einzelnen konkurrierenden charismatischen Gewalten ab. So insbesondere auch die Frage: inwieweit innerhalb einer Gemeinschaft die militärisch ritterliche oder die priesterliche Erziehung universelle Bedeutung gewinnen. Gerade der Spiritualismus der geistlichen Erziehung macht diese leicht zur rationalen Erziehung im Gegensatz zur ritterlichen. Die Erziehung zum Priester, Regenmacher, Medizinmann, Schamanen, Derwîsch, Mönch, heiligen Sänger und Tänzer, Schreiber und Rechtskundigen und ebenso zum Ritter und Krieger finden sich in den mannigfachsten Formen von letztlich doch immer wieder ähnlichem Wesen. Verschieden ist nur die Tragweite der so gezüchteten Bildungsgemeinschaften im Verhältnis untereinander. Diese hängt nicht nur von den weiterhin zu erörternden gegenseitigen Machtverhältnissen von Imperium und sacerdotium ab, sondern zunächst davon, inwieweit die Militärleistungen den Charakter einer sozialen Ehre, als Obliegenheit einer dadurch spezifisch qualifizierten Schicht an sich tragen. Nur dann, dann aber überall entwickelt der Militarismus eine eigene Erziehung, während umgekehrt die Entwicklung einer spezifisch klerikalen Erziehung Funktion der Bürokratisierung der Herrschaft, zunächst der sakralen, zu sein pflegt.

Die hellenische Ephebie als Bestandteil der für die hellenische Kultur grundlegenden gymnastisch-musischen Durchbildung der Persönlichkeit ist nur ein Spezialfall einer über die ganze Erde verbreiteten Erscheinung militärischer Erziehung. Vor allem die Vorbereitungen zur Jünglingsweihe, d.h. zur Heldenwiedergeburt, die Aufnahme in den Männerbund und in die gemeinsame Kriegerbehausung (eine Art von primitiver Kaserne, denn dies ist ursprünglich das von Schurtz so liebevoll überall aufgespürte Männerhaus) gehören hierher. Sie sind Laienerziehung: die kriegerischen Geschlechter beherrschen die Erziehung. Die Institution zerfällt, wo immer der Angehörige der politischen Gemeinschaft nicht mehr in erster Linie Krieger, der Kriegszustand nicht mehr die chronische Beziehung zwischen den politischen Nachbargebilden ist. Auf der anderen Seite steht als Beispiel weitgehender Klerikalisierung der Erziehung die Beherrschung mindestens der Beamten- und Schreiberausbildung durch die Priesterschaft in dem typisch bürokratischen ägyptischen Staatswesen. Auch bei einem erheblichen Teil der übrigen Völker des Orients war und blieb die Priesterschaft, weil sie allein ein rationales Erziehungssystem entwickelte und dem Staat seinen Bedarf an Schreibkundigen und im rationalen Denken geübten Bürobeamten lieferte, Herrin der Beamtenerziehung und das hieß: der Erziehung überhaupt. Auch im Okzident während des Mittelalters war die Erziehung durch die Kirche und die Klöster, als durch die Stätten jeder Art rationaler Erziehung, von sehr großer Bedeutung. Aber während ein Gegengewicht gegen die Klerikalisierung der Erziehung in dem rein bürokratischen ägyptischen Staatswesen nicht vorhanden war, während auch die übrigen patrimonialen Staatsbildungen des Orients eine spezifische Rittererziehung nicht entwickelten, weil die ständische Unterlage dazu fehlte, und während vollends die gänzlich entpolitisierten, auf den Zusammenhalt durch Synagoge und Rabbinentum angewiesenen Israeliten einen Haupttypus streng klerikaler Erziehung entwickelten, bestand dagegen im abendländischen Mittelalter, dem feudalen und ständischen Charakter der Herrenschicht zufolge, ein Neben-, Gegen- und Miteinander klerikal rationaler und ritterlicher Erziehung, welche dem abendländischen Menschentum des Mittelalters und auch den Universitäten des Abendlandes ihren spezifischen Charakter gab.

In der hellenischen Polis und in Rom fehlte nicht nur der staatliche, sondern ebenso auch der priesterliche bürokratische Apparat, der ein klerikales Erziehungssystem hätte schaffen können. Daß das Litera turprodukt einer mit den Göttern höchst respektlos umgehenden weltlichen Adelsgesellschaft: daß Homer untrennbar an der Spitze der literarischen Erziehungsmittel blieb – daher der tiefe Haß eines Mannes wie Plato gegen ihn –, war nur zum Teil ein schicksalsvoller Zufall, welcher[678] jeder theologischen Rationalisierung der religiösen Mächte im Wege stand. Das Entscheidende blieb das Fehlen eines spezifisch priesterlichen Erziehungssystems überhaupt.

In China endlich ist die Eigenart des konfuzianischen Rationalismus, sein Konventionalismus und seine Rezeption als Grundlage der Erziehung, bedingt durch die bürokratische Rationalisierung des weltlichen Patrimonialbeamtentums und das Fehlen feudaler Mächte. –

Jede Art von Erziehung, sowohl zu einem magischen Charisma wie zum Heldentum, kann Sache eines engen Kreises von Zunftgenossen werden, welche dann priesterliche Geheimbünde auf der einen Seite, vornehme Adelsklubs auf der anderen Seite aus sich herausentwickeln können. Von einer geordneten Beherrschung bis zur gelegentlichen Ausplünderung durch die namentlich in West-Afrika oft als Geheimbund konstituierte politische oder magische Zunft gibt es da alle denkbaren Stadien. Und allen jenen zu Klubs und Zünften entwickelten Gemeinschaften, seien sie nun ursprünglich aus kriegerischen Gefolgschaften oder aus dem Verbande aller erprobt wehrhaften Männer entwickelt, ist gemeinsam die Tendenz, an Stelle der charismatischen zunehmend die rein ökonomische Qualifikation treten zu lassen. Um sich der, geraume Zeit in Anspruch nehmenden und ökonomisch nicht unmittelbar nutzbaren, charismatischen Erziehung unterziehen zu können, war für den jungen Mann die Entbehrlichkeit seiner Arbeitskraft in der Hauswirtschaft Voraussetzung, welche mit zunehmender Intensität der ökonomischen Arbeit immer weniger gegeben war. Diese zunehmende Monopolisierung der charismatischen Erziehung durch die Wohlhabenden wurde künstlich weiter gesteigert. Mit dem Verfall der ursprünglichen magischen oder militärischen Funktionen trat die rein ökonomische Seite der Sache immer mehr in den Vordergrund. In die verschiedenen Stufen der politischen »Klubs« in Indonesien kauft man sich im Endstadium der Entwicklung einfach ein, unter primitiven Verhältnissen durch Ausrichtung eines ausgiebigen Gastmahls. Die Umbildung der charismatischen in eine rein plutokratische Herrenschicht ist gerade bei sonst primitiven Völkern etwas Typisches, wo immer die praktische Bedeutung des militärischen oder magischen Charisma zurücktritt. Alsdann nobilitiert zwar nicht notwendig der Besitz als solcher, wohl aber die Lebensführung, die nur er ermöglicht. Ritterliches Leben heißt im Mittelalter vor allem auch: ein offenes Haus für Gäste haben. Bei zahlreichen Völkern erwirbt man die Befugnis, sich Häuptling zu nennen, einfach durch Ausrichtung von Gastmählern und erhält sie sich auf dem gleichen Wege, eine Art des »noblesse oblige«, die zu allen Zeiten leicht zur Verarmung dieser sich selbst besteuernden Notabeln führt. –

Wenn das Charisma als schöpferische Macht im Verlauf der Erstarrung der Herrschaft zu Dauergebilden vor diesen zurückweicht und nur in kurzlebigen, in ihrer Wirkung unberechenbaren Massenemotionen bei Wahlen und ähnlichen Gelegenheiten noch in Wirksamkeit tritt, so bleibt es dennoch, freilich in stark umgewandeltem Sinne, ein höchst wichtiges Element der sozialen Struktur. Wir haben jetzt auf diejenigen, schon früher berührten, ökonomischen Anlässe zurückzukommen, welche die Veralltäglichung des Charisma vorwiegend bedingen: das Bedürfnis der durch bestehende politische, soziale und ökonomische Ordnungen privilegierten Schichten, ihre soziale und ökonomische Lage »legitimiert«, d.h.: aus einem Bestande von rein faktischen Machtverhältnissen in einen Kosmos erworbener Rechte verwandelt und geheiligt zu sehen. Diese Interessen bilden das weitaus stärkste Motiv der Erhaltung charismatischer Elemente in versachlichter Form innerhalb der Herrschaftsstruktur. Das genuine Charisma, welches sich nicht auf gesatzte oder traditionelle Ordnung und nicht auf erworbene Rechte, sondern auf die Legitimation persönlichen Heldentums oder persönlicher Offenbarung beruft, steht dem schlechthin feindlich gegenüber. Aber eben seine Qualität als einer überalltäglichen, übernatürlichen, göttlichen Gewalt stempelt es nach seiner Veralltäglichung zu einer geeigneten Quelle legitimen Erwerbs von Herrschergewalt für die Nachfolger des[679] charismatischen Helden und wirkt ebenso weiter zugunsten aller derjenigen, deren Macht und Besitz von jener Herrschergewalt garantiert wird, also an ihrem Bestande hängt. Die Formen, in denen die charismatische Legitimität eines Herrschers sich äußern kann, sind verschiedene, je nach der Art der Beziehung zu den übernatürlichen Gewalten, durch welche sie begründet wird.

Ist die Legitimität des Herrschers selbst nicht durch Erbcharisma nach eindeutigen Regeln feststellbar, so bedarf er der Legitimation durch eine andere charismatische Macht, und dies kann normalerweise nur die hierokratische sein. Dies gilt auch und gerade für denjenigen Herrscher, der eine göttliche Inkarnation darstellt, also das höchste »Eigencharisma« besitzt. Gerade sein Anspruch darauf bedarf ja, sofern er nicht auf Bewährung durch eigene Taten gestützt wird, der Anerkennung durch die berufsmäßigen Fachkenner des Göttlichen. Gerade inkarnierte Monarchen sind daher jenem eigentümlichen Internierungsprozeß durch die nächsten materiellen und ideellen Interessenten der Legitimität, Hofbeamte und Priester, ausgesetzt, welcher bis zur dauernden Palasteinsperrung und selbst bis zur Tötung bei Erreichung der Volljährigkeit gehen kann, damit der Gott nicht die Göttlichkeit zu kompromittieren oder sich von der Bevormundung zu befreien, Gelegenheit habe. Ueberhaupt aber wirkt die Schwere der Verantwortung, welche ein charismatischer Herrscher gegenüber den Beherrschten nach der genuinen Anschauung zu tragen hat, sehr stark praktisch in der Richtung des Entstehens eines Bedürfnisses nach seiner Bevormundung.

Gerade wegen seiner hohen charismatischen Qualifikation bedarf ein solcher Herrscher, wie noch heute75 der orientalische Kalif, Sultan, Schah, dringend einer einzelnen Persönlichkeit, welche ihm die Verantwortung für die Regierungshandlungen, speziell die mißlingenden oder mißliebigen, abnimmt: die Grundlage der traditionellen, spezifischen Stellung des »Großwesirs« in allen solchen Reichen. In Persien scheiterte noch in der letzten Generation die versuchte Abschaffung des Großwesirats zugunsten der Schaffung bürokratischer Fachministerien unter persönlichem Vorsitz des Schahs daran, daß dies den Schah ganz persönlich als den für alle Nöte des Volks und für alle Mißstände der Verwaltung verantwortlichen Leiter derselben hinstellen und dadurch nicht nur ihn, sondern den Glauben an die »charismatische« Legitimität selbst fortgesetzt schwer gefährden würde: das Großwesirat mußte, um mit seiner Verantwortlichkeit den Schah und sein Charisma zu decken, wieder hergestellt werden.

Es ist dies das orientalische Pendant zu der Stellung des verantwortlichen Kabinettchefs im Okzident, namentlich im parlamentarischen Staat. Die Formel: »le roi règne, mais il ne gouverne pas«, und die Theorie, daß der König im Interesse der Würde seiner Stellung »nicht ohne ministerielle Bekleidungsgegenstände auftreten« dürfe, oder, noch weitergehend: daß er sich im Interesse seiner Würde des eigenen Eingreifens in die normale, von bürokratischen Fachspezialisten geleitete Verwaltung gänzlich enthalten sollte zugunsten der Führer der politischen Parteien, welche die Ministerposten inne haben, entsprechen ganz der Einkapselung des vergöttlichten patrimonialen Herrschers durch die Fachkenner der Tradition und des Zeremoniells: Priester, Hofbeamte, Großwürdenträger. Die soziologische Natur des Charisma als solchen hat in allen diesen Fällen ebensoviel Anteil daran wie selbstverständlich [das Interesse der] Hofbeamten oder Parteiführer und ihrer Gefolgschaften. Der parlamentarische König wird trotz seiner Machtlosigkeit konserviert, vor allem, weil er durch seine bloße Existenz und dadurch, daß die Gewalt »in seinem Namen« ausgeübt wird, die Legitimität der bestehenden sozialen und Besitz-Ordnung kraft seines Charisma garantiert und alle ihre Interessenten die Erschütterung des Glaubens an die »Rechtmäßigkeit« dieser Ordnung als Folge seiner Beseitigung fürchten müssen. Neben der Funktion der »Legitimierung« der Regierungshandlungen[680] der jeweils siegreichen Partei als »rechtmäßiger« Akte, was rein formal ein nach festen Normen gewählter Präsident ebenso leisten kann, versieht aber der parlamentarische Monarch eine Funktion, welche ein gewählter Präsident nicht erfüllen könnte: er begrenzt das Machtstreben der Politiker formal dadurch, daß die höchste Stelle im Staate ein-für allemal besetzt ist. Diese letztere, wesentlich negative Funktion, welche an der bloßen Existenz eines nach festen Regeln berufenen Königs als solcher haftet, ist vielleicht, rein politisch betrachtet, die praktisch wichtigste. Positiv gewendet, bedeutet sie in dem Archetypos der Gattung: daß der König nicht kraft Rechtsregel (kingdom of prerogative), sondern nur kraft hervorragender persönlicher Befähigung oder sozialen Einflusses einen wirklich aktiven Anteil an der politischen Gewalt (kingdom of influence) gewinnen kann, den er aber in solchen Fällen, wie noch Ereignisse und Persönlichkeiten der letzten Zeit gezeigt haben, auch wirklich trotz aller »Parlamentsherrschaft« zur Geltung zu bringen in der Lage ist76. Das »parlamentarische« Königtum bedeutet in England eine Auslese in der Zulassung zur realen Macht zugunsten des staatsmännisch qualifizierten Monarchen. Denn dem König kann ein falscher Schritt in der äußeren oder inneren Politik oder die Erhebung von Prätentionen, welche seiner persönlichen Begabung und seinem persönlichen Ansehen nicht entsprechen, die Krone kosten. Insofern ist es immerhin weit genuiner »charismatisch« geformt als das, den Tropf mit dem politischen Genius gleichmäßig, lediglich kraft Erbrechts, mit Herrscherprätentionen ausstattende, offizielle Königtum kontinentalen Gepräges.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 661-681.
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