I.

[291] Es ist ein mißliches Unternehmen, der »zweiten verbesserten Auflage« eines Buches, welches ganz unleugbar einen großen, überwiegend verwirrenden, daneben aber auch unzweifelhaft höchst anregenden Einfluß auf die Diskussion prinzipieller Fragen der Sozialwissenschaft geübt hat, nicht viel weniger als die wissenschaftliche Existenzberechtigung überhaupt abzustreiten. Wenn dies hier dennoch geschieht, und zwar mit rücksichtsloser Offenheit, so bedarf dies einerseits einiger Vorbehalte und dann einer vorerst nur ganz allgemeinen kurzen Begründung. Zunächst sei auf das bedingungsloseste anerkannt, daß in Stammlers Werk ein hohes Maß nicht nur von Belesenheit, Scharfsinn und idealistischem Erkenntnisstreben, sondern auch von »Geist« entwickelt ist. Allein das Monströse an dem Buch ist grade das Mißverhältnis, in welchem die erzielten brauchbaren Ergebnisse zu den mit ungeheurer Ostentation aufgewendeten Mitteln stehen: es ist beinahe so, als wenn ein Fabrikant alle Errungenschaften der Technik, gewaltige Kapitalmittel und zahllose Arbeitskräfte in Bewegung setzte, um in einer mächtigen Fabrik allermodernster Konstruktion – atmosphärische Luft (gasförmige, nicht flüssige!) zu produzieren. »Beinahe« so, – damit ist, als zweiter Vorbehalt, schon gesagt, daß das Buch ganz zweifellos einzelne dauernd wertvolle Bestandteile enthält, deren man sich freuen darf, und diese sollen gegebenen Orts[291] nach bestem Gewissen herausgehoben und nach Möglichkeit unterstrichen werden. Allein, wie hoch man auch ihren Wert einschätzen möge, – im Verhältnis zu den gradezu maßlosen Ansprüchen, mit denen das Werk auftritt, sind sie, leider, doch von nur recht begrenzter Bedeutung. Sie hätten einenteils in einer Spezialuntersuchung etwa über die Beziehungen zwischen juristischer und ökonomischer Begriffsbildung, anderenteils in einer Spezialuntersuchung über die formalen Voraussetzungen sozialer Ideale Platz gefunden, die beide gewiß auch dauernd nützlich und anregend bleiben würden, aber freilich nicht so viel Aufsehens gemacht hätten wie dies auf mächtigem Kothurn daherschreitende Buch. In diesem aber verschwinden sie in einem wahren Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen versteckten Nicht-Wahrheiten, von scholastischen Fehlschlüssen und Sophismen, welche die Auseinandersetzung mit dem Buche zu einem, schon des wesentlich negativen Ergebnisses wegen, unerfreulichen, dabei unendlich lästigen und höchst weitläufigen Geschäft machen. Und doch ist die Zergliederung einer größeren Anzahl auch von einzelnen Formulierungen ganz unerläßlich, wenn man einen Eindruck von der vollkommenen Nichtigkeit grade solcher Argumente gewinnen will, die bei Stammler mit der verblüffendsten Sicherheit vorgetragen werden. – Nun ist es sicherlich durchaus wahr: peccatur intra muros et extra. Man kann in den Arbeiten ausnahmslos aller Schriftsteller Punkte auffinden, wo das berührte Problem nicht zu Ende gedacht, die Formulierung nachlässig, nicht klar oder direkt falsch ist. Und dies ist zumal da der Fall, wo wir Nicht-Fachlogiker im sachlichen Interesse unserer Spezialdisziplinen zu logischen Erörterungen genötigt werden. Es ist unvermeidlich, daß alsdann, besonders an solchen Punkten, die uns für unser jeweiliges konkretes Problem unwesentlich oder minder wesentlich waren, die Sicherheit in der Handhabung des Gedankenapparates der Fachlogik leicht versagt, mit dem wir eben nicht in jenem alltäglichen Verkehr uns befinden, der allein jene Sicherheit schaffen kann. Allein erstens will Stammler nun einmal grade als »Erkenntnistheoretiker« auftreten, ferner handelt es sich – wie sich ergeben wird – um solche Bestandteile seiner Argumentation, auf welche er selbst den Hauptnachdruck legt, und[292] dann – nicht zu vergessen – haben wir es mit einer zweiten Auflage zu tun, an die wir doch wohl mit Recht durchaus andere Anforderungen stellen als an einen »ersten Wurf«. Daß Stammler uns eine solche in dem Zustand zu bieten sich gestattet, in welchem sie sich befindet, – dies eben ist es, was die allerschärfste Kritik direkt herausfordert. Nicht der Existenz des Buches, sondern der Existenz einer derartigen zweiten Auflage gilt die Schärfe der Ablehnung. Bei einem »ersten Wurf«, wie ihn die erste Auflage darstellte, werden wir des Satzes gern eingedenk sein, daß Kritisieren einer Leistung stets leichter ist, als selbst etwas zu leisten. Bei einer nach fast einem Jahrzehnt erscheinenden zweiten »verbesserten« Auflage verlangen wir aber vom Autor Kritik an sich selbst und finden es namentlich unentschuldbar, wenn bei logischen Erörterungen die Arbeiten der Fachlogiker an ihm so spurlos vorübergegangen sind wie an Stammler. Und endlich noch eins: Stammler tritt als Vertreter des »kritischen Idealismus« auf: sowohl auf ethischem wie auf erkenntnistheoretischem Gebiet wünscht er sich als echtesten Jünger Kants anerkannt zu sehen. Es wird nun nicht möglich sein, im Rahmen der folgenden Auseinandersetzung auch noch des Näheren zu erörtern, wo jene gröblichen Mißverständnisse der Kantschen Lehre liegen, auf welche er diesen seinen Anspruch stützt. Aber jedenfalls haben grade Anhänger des »kritischen Idealismus« alle Ursache, diese Leistung von ihren Rockschößen zu schütteln. Denn ihre Eigenart ist nur zu sehr geeignet, den alten naturalistischen Glauben zu nähren, die Kritik der Erkenntnistheoretiker am naturalistischen Dogmatismus habe stets nur die Wahl zwischen zwei Arten der Beweisführung: »entweder ein faustdicker Trugschluß oder eine haarfeine Erschleichung«.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 291-293.
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