III.

[439] Das Ziel der Betrachtung: »Verstehen«, ist schließlich auch der Grund, weshalb die verstehende Soziologie (in unserem Sinne) das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr »Atom« – wenn der an sich bedenkliche Vergleich hier einmal erlaubt ist – behandelt. Die Aufgabe anderer Betrachtungsweisen kann es sehr wohl mit sich bringen, das Einzelindividuum vielleicht als einen Komplex psychischer, chemischer oder anderer »Prozesse« irgendwelcher Art zu behandeln. Für die Soziologie aber kommt alles die Schwelle eines sinnhaft deutbaren Sichverhaltens zu »Objekten« (inneren oder äußeren) Unterschreitende nur ebenso in Betracht, wie die Vorgänge der »sinnfremden« Natur: als Bedingung oder subjektiver Bezogenheitsgegenstand des ersteren. Aus dem gleichen Grunde ist aber für diese Betrachtungsweise der Einzelne auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens. Keine scheinbar abweichende Ausdrucksform darf dies verschleiern. Es liegt in der Eigenart nicht nur der Sprache, sondern auch unseres Denkens, daß die Begriffe, in denen Handeln erfaßt wird, dieses im Gewande eines beharrenden Seins, eines dinghaften oder ein Eigenleben führenden »personenhaften« Gebildes, er scheinen lassen. So auch und ganz besonders in der Soziologie. Begriffe wie »Staat«, »Genossenschaft«, »Feudalismus« und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns, und es ist also ihre Aufgabe, sie auf »verständliches« Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren. Dies ist bei anderen Betrachtungsweisen keineswegs notwendig der Fall. Vor allem ist darin die soziologische von der juristischen Betrachtungsweise geschieden. Die Jurisprudenz behandelt z.B. unter Umständen den »Staat« ebenso als »Rechtspersönlichkeit« wie einen Einzelmenschen, weil ihre auf objektive Sinndeutung und das heißt: dengeltensollenden Inhalt von Rechtssätzen gerichtete Arbeit jenes begriffliche Hilfmittel [als] nützlich, vielleicht unentbehrlich, erscheinen läßt. Ganz ebenso wie ein Rechtssatz Embryonen als »Rechtspersönlichkeiten« behandelt, während für empirisch verstehende Disziplinen auch beim Kinde der Uebergang von reinen Faktizitäten des praktisch relevanten Verhaltens zum sinnhaft verständlichen »Handeln«[439] durchaus flüssig ist. Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das »Recht« als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittlung des logisch richtigen »objektiven« Sinngehaltes von »Rechtssätzen« zu tun, sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von Menschen über den »Sinn« und das »Gelten« bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen. Darüber, also über das Konstatieren des tatsächlichen Vorhandenseins einer solchen Geltungsvorstellung, geht sie nur in der Weise hinaus, daß sie 1. auch die Wahrscheinlichkeit des Verbreitetseins solcher Vorstellungen in Betracht zieht, und 2. durch folgende Überlegung: daß empirisch jeweilig bestimmte Vorstellungen über den »Sinn« eines als geltend vorgestellten »Rechtssatzes« in den Köpfen bestimmter Menschen herrschen, hat unter bestimmten angebbaren Umständen die Konsequenz, daß das Handeln rational an bestimmten »Erwartungen« orientiert werden kann, gibt also konkreten Individuen bestimmte »Chancen«. Dadurch kann deren Verhalten erheblich beeinflußt werden. Dies ist die begriffliche soziologische Bedeutung der empirischen »Geltung« eines »Rechtssatzes«. Für die soziologische Betrachtung steht daher auch hinter dem Worte »Staat« – wenn sie es überhaupt verwendet – nur ein Ablauf von menschlichem Handeln besonderer Art. Wenn sie nun genötigt ist, hier wie oft das gleiche Wort wie die juristische Wissenschaft zu gebrauchen, so ist doch dessen juristisch »richtiger« Sinn dabei nicht der von ihr gemeinte. Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Uebergänge zwischen den »typischen« Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben. Und dazu kommt noch, daß, der Natur des Objekts entsprechend, fortwährend so verfahren werden muß: daß »eingelebte« und aus dem Alltag bekannte sinnhafte Zusammenhänge zur Definition anderer verwendet und dann nachträglich ihrerseits wieder mit Hilfe dieser letzteren definiert werden müssen. Wir gehen einige solche Definitionen durch.[440]

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 439-441.
Lizenz: