Geschäftsbericht auf dem ersten

Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910

[431] Der Geschäftsbericht unserer Gesellschaft, den ich zu erstattenden Auftrag habe, hat sich wesentlich zu erstrecken 1. auf die Verfassungsänderungen, welche im Laufe des verflossenen Jahres die Gesellschaft vorgenommen hat, und 2. auf die konkreten wissenschaftlichen Aufgaben, die sich die Gesellschaft für die nächste Zukunft gestellt hat. Denn bei dem schwankenden Inhalt des Begriffes »Soziologie« tut eine Gesellschaft mit diesem bei uns unpopulären Namen gut, das was sie sein möchte, tunlichst durch ganz konkrete Angaben über ihre derzeitige Konstitution und ihre derzeitigen nächsten Aufgaben erkennbar zu machen.

Was nun das Erste anlangt, so sind folgende Grundsätze, die ich ganz kurz registriere, erst im Laufe des letzten Jahres in unseren Statuten zum Ausdruck gelangt: Erstens – ein Prinzip, über welches ja schon mein verehrter Herr Vorredner gesprochen hat –: daß die Gesellschaft jede Propaganda praktischer Ideen in ihrer Mitte grundsätzlich und definitiv ablehnt. Die Gesellschaft ist nicht etwa »unparteiisch« nur in dem Sinne, daß sie jedem gerecht zu werden, jeden zu verstehen oder daß sie die beliebte »Mittellinie« zu ziehen suchen möchte zwischen Par teiauffassungen, zwischen politischen, sozialpolitischen, ethischen oder ästhetischen oder andern Wertungen irgend welcher Art, sondern daß sie mit diesen Stellungnahmen überhaupt nichts zu tun hat, daß sie auf allen Gebieten schlechthin parteienlos ist. Es kann also das Bestehen, die Eigenart, die Forderungen und die Erfolge von politischen, ästhetischen, literarischen, religiösen und anderen Parteimeinungen selbstverständlich sehr wohl Gegenstand einer auf die Tatsache ihrer Existenz, auf die vermeintlichen und wirklichen Gründe derselben, auf ihre Erfolge und Erfolgschancen, auf ihre »prinzipiellen« und »praktischen« Konsequenzen gerichteten und diese durch rein objektive, von aller eigenen Bewertung frei, ermittelnden Analyse werden. Aber niemals, das besagt der jetzige § 1 unseres Statuts, kann in unserer Gesellschaft das Für und Wider, der Wert oder Unwert einer solchen Meinung[431] Gegenstand der Erörterung werden. Wenn z.B. die Gesellschaft eine Enquete über das Zeitungswesen veranstaltet – ich werde davon zu sprechen haben –, so ist damit nach unseren Grundsätzen gesagt: daß sie nicht im entferntesten daran denkt, zu Gericht sitzen zu wollen über den faktischen Zustand, von dem sie zu sprechen hat, daß sie nicht fragen wird: ob dieser Zustand erwünscht oder unerwünscht ist, daß sie nichts weiteres tut, als feststellen: Was besteht? Warum besteht es gerade so, wie es besteht? Aus welchen historischen und sozialen Gründen?

Der zweite Grundsatz, den wir festgelegt haben, ist der, daß die Gesellschaft keinen »Akademismus« treibt. Die Gesellschaft ist keine Notabilitätsgesellschaft, sie ist das gerade Gegenteil von irgend etwas wie eine Akademie; es kann z.B. keine Gekränktheit geben von Leuten, die etwa zufällig einem Ausschuß der Gesellschaft nicht angehören, es soll keine »Ehre« sein – das klingt ja etwas paradox –, diesem Ausschuß der Gesellschaft anzugehören; denn diese Zugehörigkeit besagt nur: daß augenblicklich der Aufgabenkreis der Gesellschaft so gestaltet ist, daß die Herren, die in diesen Ausschuß eingetreten sind, teils weil sie aus eigener Initiative uns ihre Neigung dazu kundgegeben haben, teils weil wir sie von uns aus darum gebeten haben, für diese konkreten Aufgaben zweckmäßige Mitarbeiter sind, und daß sie die eine einzige allgemeine Voraussetzung der Zuwahl erfüllen: daß sie nämlich durch rein wissenschaftliche, also nicht praktische, sondern rein soziologische Leistungen bereits bekannt sind und auf diesem von jedem Parteistreit entfernten Boden mit uns zusammenarbeiten wollen. Die Gesellschaft ist eine Arbeitsgemeinschaft, aber nicht – ich wiederhole es – irgend etwas einer »Akademie« Aehnliches. Wer immer bei uns in unserem Sinn mittun will, der mag es sagen: er ist herzlich willkommen.

Drittens haben wir den Grundsatz festgelegt, daß die Gesellschaft keinen »Ressortpatriotismus« treibt, daß sie nicht sich selbst als Selbstzweck ansieht, nicht versucht, Aufgaben für sich zu konfiszieren und anderen wegzunehmen, daß sie deshalb auch bei sich selbst dem Grundsatz der Dezentralisation der wissenschaftlichen Arbeit in weitgehendem Maße huldigt.

Das kommt in unserer Verfassung darin zum Ausdruck, daß 1. der Schwerpunkt der gesamten Arbeit der Gesellschaft nicht in Versammlungen der Mitglieder als solcher, sondern in den von der Gesellschaft für jede konkrete Arbeitsaufgabe einzusetzenden Ausschüssen liegt. Diese Ausschüsse, für die die Gesellschaft nur den Vorsitzenden und eventuell einige Mitglieder – möglichst wenige – wählt, sind jeder auf seinem Gebiet völlig souverän, insbesondere in der Kooptation anderer, und zwar auch außerhalb der Gesellschaft stehender Mitarbeiter. Insbesondere die Herren Praktiker, beispielsweise also auf dem Gebiete des Zeitungswesens die Zeitungsverleger und die Vertreter des Journalismus, ohne die wir ja gar nicht arbeiten können, gehören in unsere Ausschüsse hinein, wo wir mit ihnen mit vollem, gleichem Stimmrecht, in jeder Hinsicht gleichberechtigt, zusammenarbeiten[432] wollen, und wo wir von ihnen die direkten Anregungen für unsere Arbeiten zu finden hoffen.

Zweitens drückt sich der gleiche Grundsatz der Dezentralisation darin aus, daß voraussichtlich die soziologische Gesellschaft nie wieder in der Form wie heute und in den nächsten Tagen vor die Oeffentlichkeit treten wird, als eine ungegliederte Einheit, die eine ganze Reihe einzelner Themata nacheinander in Vorträgen und Diskussionen behandelt. Es besteht vielmehr die Absicht, Abteilungen sich bilden zu lassen. Die Bildung einer Abteilung für Statistik ist bereits aus den Kreisen der Herren Statistiker angeregt worden, und die Gesellschaft hat den Grundsatz, nun nicht schematisch die Bildung von Abteilungen ihrerseits schematisch zu oktroyieren, sondern umgekehrt: den Interessenten in ihrer Mitte es zu überlassen, sich zu Fachabteilungen zusammenzuschließen; – der Vorstand wird dann mit diesen Abteilungen darüber verhandeln, welche Stellung innerhalb der Gesellschaft ihnen einzuräumen ist, und zwar in dem Sinne, daß sie auf ihren Gebieten so völlig selbständig gestellt werden, wie es überhaupt denkbar ist, daß es ihnen z.B. überlassen ist, ihrerseits die Fachmänner, und nur die Fachmänner, des betreffenden Gebietes heranzuziehen, unter Ausschluß aller derjenigen, die nicht als solche zu betrachten sind; daß sie selbst zu beschließen haben, welche Arbeiten sie vornehmen wollen und in welcher Weise. Wir werden daher bei künftigen Soziologentagen – sagen wir einmal nach zwei Jahren oder eineinhalb Jahren – voraussichtlich, da auch von anderen Interessenten ähnliche Anregungen zu gewärtigen sind, sehen, daß einerseits mehrere Abteilungen nebeneinander tagen; vielleicht eine Abteilung für theoretische Nationalökonomie, innerhalb deren sich die Theoretiker und niemand anders über theoretische Probleme unterhalten; eine Abteilung für Statistik, innerhalb deren sich die Statistiker, die Fachstatistiker und niemand anders über ihre Probleme unterhalten, natürlich nach ihrem eigenen Belieben auch unter Zuziehung anderer, die sich dafür interessieren, aber, wenn sie es wollen, unter Beschränkung der aktiven Teilnahme an der Auseinandersetzung auf die, die etwas von den Dingen wirklich fachmännisch verstehen, – und daß daneben die Muttergesellschaft ihre Versammlungen in der Art hält, wie diesmal, aber wohl möglichst unter Beschränkung auf einige wenige große, wenn möglich, durch Publikationen und Arbeiten der Gesellschaft vorbereitete Themata. Denn die Gesellschaft wird den Hauptnachdruck ihrer Tätigkeit zu verlegen haben auf die Seite der Publikationen.

Ich habe nunmehr davon zu sprechen, was für Arbeiten die Gesellschaft in dieser Art in Angriff nehmen will durch fachmännisch geleitete und durch einen möglichst großen Kreis von Mitarbeitern, unter Beteiligung eines jeden, der mit uns zusammenarbeiten will, der sich mit uns in den Dienst der Sache stellen will, bearbeitete Publikationen. Es versteht sich, daß diese Ausführungen hier nur einen ganz grob skizzenhaften, wenn sie wollen: feuilletonistischen Charakter haben können. Denn, meine Herren, gerade die Formulierung[433] der eigentlichen, von uns zu bearbeitenden Fragestellungen ist ja die entscheidende wissenschaftliche Aufgabe.

Meine Herren, das erste Thema, welches die Gesellschaft als geeignet zu einer rein wissenschaftlichen Behandlung befunden hat, ist eine Soziologie des Zeitungswesens. Ein ungeheures Thema, wie wir uns nicht verhehlen, ein Thema, welches nicht nur sehr bedeutende materielle Mittel für die Vorarbeiten erfordern wird, sondern welches unmöglich sachgemäß zu behandeln ist, wenn nicht die führenden Kreise der Interessenten des Zeitungswesens mit großem Vertrauen und Wohlwollen in unsere Sachlichkeit dieser Angelegenheit entgegenkommen. Es ist ausgeschlossen, daß, wenn wir auf seiten der Vertreter des Zeitungsverlages oder auf seiten der Journalisten dem Mißtrauen begegnen, daß die Gesellschaft irgendwelche Zwecke moralisierender Kritik an den bestehenden Zuständen verfolge – es ist ausgeschlossen, sage ich, daß wir dann unsern Zweck erreichen, denn es ist ausgeschlossen, daß wir ihn erreichen, wenn wir nicht im weitestgehenden Maße von eben dieser Seite mit Material versorgt werden können. Es wird in der nächsten Zeit das Bemühen des Ausschusses, der dafür zusammenzusetzen ist, sein, nun die Fachmänner des Pressewesens, einerseits die Theoretiker des Pressewesens, die heute bereits sehr zahlreich existieren – wir haben bekanntlich bereits glänzende theoretische Publikationen auf diesem Gebiete (lassen Sie mich im Augenblick nur an das Buch von Löbl erinnern, deshalb, weil gerade dies auffallenderweise viel weniger gekannt ist, als es verdient) – und ebenso die Praktiker des Pressewesens zur Mitarbeit zu gewinnen. Es ist nach den vorläufig gepflogenen Verhandlungen Hoffnung vorhanden, daß wenn wir, wie es geschehen wird, in der allernächsten Zeit uns sowohl an die großen Presseunternehmungen wie an die Verbände der Zeitungsverleger und Zeitungsredakteure wenden, dieses Wohlwollen uns entgegengebracht werden wird. Geschieht es nicht, so wird die Gesellschaft von einer Publikation eher absehen, als eine solche zu veranstalten, bei der voraussichtlich nichts herauskommt.

Meine Herren, über die Größe der allgemeinen Bedeutung der Presse hier etwas zu sagen, hat ja keinen Zweck. Ich käme in den Verdacht der Schmeichelei gegenüber den Herren Pressevertretern, um so mehr, als das, was darüber von hochstehenden Seiten schon gesagt worden ist, ja unüberbietbar ist. Wenn die Presse mit kommandierenden Generalen verglichen worden ist – es ist ja allerdings nur von der ausländischen Presse gesagt worden –, so weiß jeder Mensch: darüber gibt es bei uns nichts rein Irdisches mehr, und es wäre nötig, in das Gebiet des Ueberirdischen zu greifen, um Vergleiche zu finden. Ich erinnere Sie einfach daran: Denken Sie sich die Presse einmal fort, was dann das moderne Leben wäre, ohne diejenige Art der Publizität, die die Presse schafft. Das antike Leben, verehrte Anwesende, hatte auch seine Publizität. Mit Grausen stand Jakob Burkhardt der Oeffentlichkeit des hellenischen Lebens, die die gesamte Existenz des athenischen Bürgers bis in die intimsten[434] Phasen hinein umfaßte, gegenüber. Diese Publizität besteht so heute nicht mehr, und es ist nun schon interessant, einmal zu fragen: Wie sieht denn eigentlich die heutige Publizität aus und wie wird diejenige der Zukunft aussehen, was wird alles durch die Zeitung publik gemacht und was nicht? Wenn das englische Parlament vor 150 Jahren Journalisten zu kniefälliger Abbitte wegen breach of privilege vor den Parlamentsschranken zwang, wenn sie über seine Verhandlungen berichteten, und wenn heute die Presse durch die bloße Drohung, die Reden der Abgeordneten nicht abzudrucken, die Parlamente auf die Knie zwingt, so hat sich offenbar ebenso der Sinn des Parlamentarismus wie die Stellung der Presse geändert. Und dabei müssen auch lokale Differenzen bestehen, wenn z.B. noch bis in die Gegenwart es amerikanische Börsen gab, welche ihre Fenster mit Milchglas versahen, damit die Kursbewegungen auch nicht durch Signale nach außen gemeldet werden könnten, und wenn wir auf der anderen Seite doch sehen, daß fast alle wesentlichen Eigentümlichkeiten in der Art der Zeitungszusammenstellung durch die Notwendigkeit, auf die Börsenpublikationen Rücksicht zu nehmen, mitbeeinflußt werden. Wir fragen nun, wohl gemerkt, nicht, was soll publik gemacht werden? Darüber gehen die Ansichten weit auseinander, wie jedermann weiß. Es ist natürlich interessant, auch festzustellen: welche Ansichten darüber heute bestehen und früher bestanden und bei wem? Auch das fällt in unseren Arbeitskreis; aber nichts weiter als diese faktische Feststellung. Jedermann weiß z.B., daß darüber in England andere Ansichten bestehen als bei uns, daß man erlebt, daß wenn etwa ein englischer Lord eine Amerikanerin heiratet, in der amerikanischen Presse ein Steckbrief über Physis und Psyche dieser Amerikanerin mit allem, was dazu gehört, einschließlich der Mitgift natürlich, zu finden ist, während nach den bei uns herrschenden Auffassungen wenigstens eine Zeitung, die etwas auf sich hält, in Deutschland das verschmähen müßte. Woher diese Differenz? Wenn wir für Deutschland festzustellen haben, daß heute das ernstliche Bemühen gerade bei den ernsten Vertretern des Pressegeschäftes dahin gerichtet ist, rein persönliche Dinge aus der Zeitungspublizität auszuschließen – aus welchen Gründen und mit welchen Ergebnissen? – so werden wir auch konstatieren müssen, daß auf der anderen Seite ein sozialistischer Publizist wie Anton Menger der Meinung war: umgekehrt im Zukunftsstaat würde die Presse gerade die Aufgabe haben, Dinge, die man nicht dem Strafgericht unterstellen kann, vor ihr Forum zu führen, die antike Zensorrolle zu übernehmen. Es lohnt sich festzustellen: welche letzten Weltanschauungen der einen und der andern Tendenz zugrunde liegen. Nur dies freilich, nicht eine Stellungnahme dazu, wäre unsere Aufgabe. –

Wir werden unsererseits vor allem die Machtverhältnisse zu untersuchen haben, welche die spezifische Zeitungspublizität schafft. Sie hat z.B. für wissenschaftliche Leistungen eine andere, wesentlich geringere Bedeutung, als etwa für solche, die, wie eine schauspielerische[435] oder Dirigentenleistung, mit dem Tage vergehen, und sie ist bei allem, was unter dem Striche besprochen wird, überhaupt besonders groß: in gewissem Sinn ist der Theater- und auch der Literaturrezensent derjenige Mann in der Zeitung, welcher am leichtesten Existenzen schaffen und vernichten kann. Für jeden Teil der Zeitung, vom politischen angefangen, ist aber dies Machtverhältnis äußerst verschieden. Die Beziehungen der Zeitung zu den Parteien bei uns und anderswo, ihre Beziehungen zur Geschäftswelt, zu all den zahllosen, die Oeffentlichkeit beeinflussenden und von ihr beeinflußten Gruppen und Interessenten, das ist ein ungeheures, heute erst in den Elementen bebautes Gebiet soziologischer Arbeit. – Aber kommen wir zu dem eigentlichen Ausgangspunkt der Untersuchung.

Treten wir der Presse soziologisch näher, so ist fundamental für alle Erörterungen die Tatsache, daß die Presse heute notwendig ein kapitalistisches, privates Geschäftsunternehmen ist, daß aber die Presse dabei eine vollständig eigenartige Stellung schon insofern einnimmt, als sie im Gegensatz zu jedem anderen Geschäft zwei ganz verschiedene Arten von »Kunden« hat: die einen sind die Käufer der Zeitung und diese wieder entweder der Masse nach Abonnenten oder aber der Masse nach Einzelkäufer – ein Unterschied, dessen Konsequenzen der Presse ganzer Kulturländer entscheidend verschiedene Züge aufprägt –; die anderen sind die Inserenten, und zwischen diesen Kundenkreisen bestehen die eigentümlichsten Wechselbeziehungen. Es ist z.B. ja gewiß für die Frage, ob eine Zeitung viel Inserenten haben wird, wichtig, ob sie viel Abonnenten hat und, in begrenzterem Maße, auch umgekehrt. Aber nicht nur ist die Rolle, die die Inserenten im Budget der Presse spielen, bekanntlich eine sehr viel ausschlaggebendere als die der Abonnenten, sondern man kann es geradezu so formulieren: eine Zeitung kann nie zuviel Inserenten haben, aber – und das im Gegensatz zu jedem anderen Warenverkäufer – zuviel Käufer, dann nämlich, wenn sie nicht in der Lage ist, den Insertionspreis so zu steigern, daß er die Kosten der immer weiter sich ausdehnenden Auflage deckt. Das ist ein für manche Arten von Blättern durchaus ernsthaftes Problem und hat ganz allgemein die Folge, daß von einer bestimmten Auflageziffer ab das Interesse der Zeitungen nach weiterer Vermehrung nicht mehr steigt – wenigstens kann es so kommen, wenn unter gegebenen Voraussetzungen eine weitere Erhöhung der Inseratenpreise auf Schwierigkeiten stößt. Das ist eine Eigentümlichkeit nur der Presse, die rein geschäftlicher Art ist, die aber natürlich ihre mannigfachen Konsequenzen hat. Nun ist bei internationaler Vergleichung das Maß und die Art des Zusammenhanges zwischen der Presse, welche doch das Publikum politisch und auf anderen Gebieten belehren und sachlich informieren will, und dem in dem Inseratentum sich äußernden Reklamebedürfnis der Geschäftswelt ein höchst verschiedenes, namentlich wenn man Frankreich zum Vergleich heranzieht. Warum? mit welchen allgemeinen Konsequenzen? – das sind die Fragen, die wir, so oft dar über schon geschrieben wurde, doch wieder[436] aufnehmen müssen, da eine Uebereinstimmung der Ansichten nur teilweise besteht.

Nun aber gehen wir weiter: Ein Charakteristikum ist heute vor allem das Wachsen des Kapitalbedarfs für die Preßunternehmungen. Die Frage ist, und diese Frage ist heute noch nicht entschieden, die bestunterrichteten Fachmänner streiten darüber: in welchem Maß dieser wachsende Kapitalbedarf wachsendes Monopol der einmal bestehenden Unternehmungen bedeutet. Das könnte vielleicht nach den Umständen verschieden liegen. Denn auch abgesehen von der Einwirkung des steigenden Kapitalbedarfs ist die Monopolstellung der schon bestehenden Zeitungen wohl verschieden stark, je nachdem die Presse regelmäßig auf Abonnements beruht oder auf Einzelverkauf, wie im Ausland, wo der einzelne jeden Tag die Wahl hat, ein anderes Blatt zu kaufen, als er am Tag vorher gekauft hatte, und also – so scheint es wenigstens auf den ersten Blick – das Aufkommen neuer Blätter vielleicht erleichtert ist. Vielleicht – es ist etwas, was untersucht und mit dem der wachsende Kapitalbedarf als solchem in seiner Wirkung bei der Betrachtung kombiniert werden müßte für die Beantwortung der Frage: Bedeutet dieses wachsende stehende Kapital auch steigende Macht, nach eigenem Ermessen die öffentliche Meinung zu prägen? Oder umgekehrt – wie es behauptet, aber doch noch nicht eindeutig bewiesen worden ist – wachsende Empfindlichkeit des einzelnen Unternehmens gegenüber den Schwankungen der öffentlichen Meinung? Man hat gesagt, der augenfällige Meinungswechsel gewisser französischer Blätter – man pflegt z.B. an den »Figaro« gelegentlich der Dreyfußaffäre zu erinnern – sei einfach daraus zu erklären, daß das so große in diesen modernen Zeitungsunternehmungen fest investierte Kapital gegen irgendwelche Mißstimmungen des Publikums, welche sich in Abbestellungen äußern, in solchem Maße zunehmend nervös und dadurch vom Publikum abhängig werde, weil es sie geschäftlich nicht ertragen könne – wobei freilich die in Frankreich bei herrschendem Einzelverkauf so große Leichtigkeit des Wechsels natürlich mit ins Gewicht fallen würde. Das hieße also, daß steigende Abhängigkeit von den jeweiligen Tagesströmungen die Konsequenz des wachsenden Kapitalbedarfs sei. Ist das wahr? Das ist eine Frage, die wir zu stellen haben. Es ist von Preßfachmännern – ich bin kein solcher – behauptet, es ist von anderen Seiten bestritten worden.

Ferner: Stehen wir im Gefolge der Zunahme des stehenden Zeitungskapitals vielleicht, wie oft bei wachsendem Kapitalbedarf, vor einer Vertrustung des Zeitungswesens? Wie liegt die Möglichkeit einer solchen? Meine Herren, das ist bestritten worden, auf das allerenergischste von Fachmännern der Presse allerersten Ranges, von Theoretikern sowohl wie von Praktikern. Allerdings, der hauptsächlichste Vertreter dieser Ansicht, Lord Northcliffe, könnte es vielleicht besser wissen, denn er ist einer der größten Trustmagnaten auf dem Gebiete des Zeitungswesens, die es überhaupt gibt. Welches aber würde die Folge für den Charakter der Zeitungen sein, wenn[437] das geschähe? Denn daß die Zeitungen der großen, schon heute bestehenden Konzerne einen vielfach anderen Charakter tragen als andere, lehrt der Augenschein. Genug – ich führte diese Beispiele ja nur als solche an, die zeigen, wie sehr der geschäftliche Charakter der Presseunternehmungen in Betracht zu ziehen ist –, wir müssen uns fragen: was bedeutet die kapitalistische Entwicklung innerhalb des Pressewesens für die soziologische Position der Presse im allgemeinen, für ihre Rolle innerhalb der Entstehung der öffentlichen Meinung?

Ein anderes Problem: Der »Institutions«charakter der modernen Presse findet bei uns in Deutschland seinen spezifischen Ausdruck in der Anonymität dessen, was in der Presse erscheint. Unendlich viel ist gesagt worden »für« und »wider« die Anonymität der Presse. Wir ergreifen da keine Partei, sondern fragen: wie kommt es, daß diese Erscheinung sich z.B. in Deutschland findet, während im Ausland teilweise an dere Zustände bestehen, in Frankreich z.B., während England darin uns näher steht. In Frankreich ist heute eigentlich nur eine einzige Zeitung vorhanden, die strikt auf dem Boden der Anonymität steht: der »Temps«. In England haben dagegen Zeitungen, wie die »Times« auf das strengste an der Anonymität festgehalten. Das kann nun ganz verschiedene Gründe haben. Es kann sein – wie es z.B. bei der Times der Fall zu sein scheint –, daß die Persönlichkeiten, von denen die Zeitung ihre Informationen hat, vielfach so hoch gestellt sind, daß es für sie nicht möglich wäre, öffentlich unter ihrem Namen Information zu geben. Die Anonymität kann aber in andern Fällen auch den gerade umgekehrten Grund haben. Denn es kommt darauf an: Wie stellt sich diese Frage vom Standpunkt der Interessenkonflikte aus, die nun einmal – darüber kommt man nicht hinweg – bestehen zwischen dem Interesse des einzelnen Journalisten daran, möglichst bekannt zu werden, und dem Interesse der Zeitung daran, nicht in Abhängigkeit von der Mitarbeit dieses einzelnen Journalisten zu geraten. Natürlich liegt auch so etwas geschäftlich sehr verschieden, je nachdem ob Einzelverkauf vorherrscht oder nicht. Und vor allem spielt dabei natürlich auch mit die politische Volkseigenart, je nachdem z.B., ob eine Nation, wie es die deutsche tut, dazu neigt, sich von institutionellen Mächten, von einer als ein »überindividuelles« Etwas sich gebärdenden »Zeitung«, sich mehr imponieren zu lassen, als von der Meinung eines einzelnen – oder ob sie von dieser Art von Metaphysik frei ist. – Das sind schon Fragen, die dann hinüberführen in das Gebiet des Gelegenheitsjournalismus, auf dem es in Deutschland ganz anders aussieht, als beispielsweise in Frankreich, wo der Gelegenheitsjournalist eine allgemeine Erscheinung ist, und auch als in England. Und da würde man sich die Frage vorzulegen haben: wer denn eigentlich überhaupt von außen her heute noch in die Zeitung schreibt und was? und wer und was nicht? und warum nicht? Das führt nun weiter zu der allgemeinen Frage: wie beschafft sich die Presse überhaupt das Material, das sie dem Publikum bietet? Und was bietet[438] sie ihm denn eigentlich, alles in allem? Ist das bei uns stetige Wachstum der Bedeutung des reinen Tatsachenreferats eine allgemeine Erscheinung? Auf englischem, amerikanischem und deutschem Boden ist es der Fall, dagegen nicht so ganz auf französischem: – der Franzose will in erster Linie ein Tendenzblatt. Warum aber? Denn z.B. der Amerikaner will von seinem Blatt nichts als Fakta. Was an Ansichten über diese Fakta in der Presse publiziert wird, das hält er überhaupt nicht der Mühe für wert zu lesen, denn als Demokrat ist er überzeugt, daß er im Prinzip das ebensogut, wenn nicht besser versteht, als derjenige, der die Zeitung schreibt. Aber der Franzose will doch auch ein Demokrat sein. Woher also der Unterschied? Jedenfalls aber: In beiden Fällen ist die gesellschaftliche Funktion der Zeitung eine ganz verschiedene.

Da aber der Nachrichtendienst der Presse trotz dieser Differenzen doch in allen Ländern der Erde nicht nur das Budget der Presse steigend belastet, sondern auch an sich immer stärker in den Vordergrund tritt – so fragt es sich weiter: wer denn nun eigentlich letztlich die Quellen dieser Nachrichten sind: – das Problem der Stellung der großen Nachrichtenbureaus und ihrer internationalen Beziehungen untereinander. Wichtige Arbeiten sind darüber zu machen, sind teilweise in den Anfängen schon vorhanden. Die Behauptungen, die über die Verhältnisse auf diesem Gebiet vorgetragen werden, standen bisher teilweise im Widerspruch miteinander, und es wird die Frage sein, ob es nicht möglich ist, rein objektiv darüber mehr Material zu erhalten, als heute zu erlangen ist.

Soweit nun aber der Inhalt der Zeitung weder aus Nachrichten noch, andererseits, aus Produkten eines Klischeegewerbes – es gibt bekanntlich Massenproduktionen von Preßinhalten, von der Sport- und Rätselecke bis zum Roman, von allem Möglichen, in eigenen Großunternehmungen –, ich sage, soweit weder Klischees noch reine Nachrichten die Presse anfüllen, bleibt übrig die Produktion dessen, was an eigentlich journalistischen Leistungen in der Presse heute geboten wird und was bei uns in Deutschland wenigstens, im Gegensatz zu manchen nicht deutschen Ländern, noch von fundamentaler Bedeutung für die Bewertung der einzelnen Zeitung ist. Da können wir uns nun nicht mit der Betrachtung des vorliegenden Produktes begnügen, sondern müssen seine Produzenten würdigen und nach dem Schicksal und der Situation des Journalistenstandes fragen. Da ist nun das Schicksal z.B. des deutschen Journalisten ganz heterogen von dem im Ausland. In England sind unter Umständen sowohl Journalisten wie Zeitungsgeschäftsleute ins Oberhaus gekommen, Männer, die zuweilen gar kein anderes Verdienst hatten, als daß sie als businessmen für ihre Partei ein glänzendes, alles andere unterbietendes – darf man in diesem Falle nur sagen: nicht überbietendes? – Blatt geschäftlich geschaffen hatten. Journalisten sind Minister geworden in Frankreich, massenhaft sogar. In Deutschland dagegen dürfte das eine sehr seltene Ausnahme sein. Und – auch ganz von diesen hervorstechenden Aeußerlichkeiten abgesehen – werden wir[439] zu fragen haben: wie sich die Verhältnisse der Berufsjournalisten in der letzten Vergangenheit in den einzelnen Ländern verschoben haben.

Welches ist die Herkunft, der Bildungsgang und was sind die Anforderungen an einen modernen Journalisten in beruflicher Hinsicht? – Und welches ist das innerberufliche Schicksal des deutschen und im Vergleich mit ihm des ausländischen Journalisten? – Welches endlich sind seine – möglicherweise außerberuflichen – Lebenschancen überhaupt heute bei uns und anderwärts? Die allgemeine Lage der Journalisten ist, von anderem abgesehen, auch nach Parteien, nach dem Charakter des Blattes usw. sehr verschieden, wie jedermann weiß. Die sozialistische Presse z.B. ist eine Sondererscheinung, die ganz besonders behandelt werden muß, und die Stellung der sozialistischen Redakteure ebenso; die katholische Presse und ihre Redakteure erst recht.

Schließlich: was bewirkt denn eigentlich dieses auf den von uns zu untersuchenden Wegen geschaffene Produkt, welches die fertige Zeitung darstellt? Darüber existiert eine ungeheure Literatur, die zum Teil sehr wertvoll ist, die aber ebenfalls, auch soweit sie von hervorragenden Fachleuten herrührt, sich oft auf das allerschärfste widerspricht. Meine Herren, man hat ja bekanntlich direkt versucht, die Wirkung des Zeitungswesens auf das Gehirn zu untersuchen, die Frage, was die Konsequenzen des Umstandes sind, daß der moderne Mensch sich daran gewöhnt hat, ehe er an seine Tagesarbeit geht, ein Ragout zu sich zu nehmen, welches ihm eine Art von Chassieren durch alle Gebiete des Kulturlebens, von der Politik angefangen bis zum Theater und allen möglichen anderen Dingen, aufzwingt. Daß das nicht gleichgültig ist, das liegt auf der Hand. Es läßt sich auch sehr wohl und leicht einiges Allgemeine darüber sagen, inwieweit sich das mit gewissen anderen Einflüssen zusammenfügt, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist. Aber so ganz einfach ist das Problem doch nicht über die allereinfachsten Stadien hinauszubringen.

Man wird ja wohl von der Frage auszugehen haben: Welche Art von Lesen gewöhnt die Zeitung dem modernen Menschen an? Darüber hat man alle möglichen Theorien aufgestellt. Man hat behauptet, das Buch werde verdrängt durch die Zeitung. Es ist möglich; die deutsche Bücherproduktion zwar steht quantitativ in unerhörter »Blüte«, so wie in keinem andern Land der Welt; nirgends werden soviel Bücher auf den Markt geworfen wie bei uns. Die Absatzziffern dieser selben Bücher dagegen stehen im umgekehrten Verhältnis dazu. Rußland hatte, und zwar vor der Einführung der Preßfreiheit, Auflagen von 20000 bis 30000 Exemplaren für solche – bei aller Hochachtung vor Anton Mengers Charakter – unglaubliche Bücher wie seine »Neue Sittenlehre«. Es hatte sehr gelesene Zeitschriften, die durchweg eine »letzte« philosophische Fundamentierung ihrer Eigenart versuchten. Das wäre in Deutschland unmöglich, und wird in Rußland unter dem Einfluß der wenigstens relativen Preßfreiheit unmöglich werden, die Anfänge zeigen sich schon. Es sind unzweifelhaft gewaltige Verschiebungen, die die Presse da in den Lesegewohnheiten[440] vornimmt, und damit gewaltige Verschiebungen der Prägung, der ganzen Art, wie der moderne Mensch von außen her rezipiert. Der fortwährende Wandel und die Kenntnisnahme von den massenhaften Wandlungen der öffentlichen Meinung, von all den universellen und unerschöpflichen Möglichkeiten der Standpunkte und Interessen lastet mit ungeheurem Gewicht auf der Eigenart des modernen Menschen. Wie aber? Das werden wir zu untersuchen haben. Ich darf mich darüber nicht ausführlich fassen und schließe mit der Bemerkung:

Wir haben die Presse letztlich zu untersuchen einmal dahin: Was trägt sie zur Prägung des modernen Menschen bei? Zweitens: Wie werden die objektiven überindividuellen Kulturgüter beeinflußt, was wird an ihnen verschoben, was wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen, an »Lebensgefühlen« – wie man heute sagt –, an möglicher Stellungnahme für immer vernichtet und neu geschaffen? Das sind die letzten Fragen, die wir zu stellen haben, und Sie sehen sofort, verehrte Anwesende, daß der Weg bis zu den Antworten auf solche Fragen außerordentlich weit ist.

Sie werden nun fragen: Wo ist das Material für die Inangriffnahme solcher Arbeiten? Dies Material sind ja die Zeitungen selbst, und wir werden nun, deutlich gesprochen, ganz banausisch anzufangen haben damit, zu messen, mit der Schere und mit dem Zirkel, wie sich denn der Inhalt der Zeitungen in quantitativer Hinsicht verschoben hat im Lauf der letzten Generation, nicht am letzten im Inseratenteil, im Feuilleton, zwischen Feuilleton und Leitartikel, zwischen Leitartikel und Nachricht, zwischen dem, was überhaupt an Nachrichten gebracht wird und was heute nicht mehr gebracht wird. Denn da haben sich die Verhältnisse außerordentlich geändert. Es sind die ersten Anfänge von solchen Untersuchungen vorhanden, die das zu konstatieren suchen, aber nur die ersten Anfänge. Und von diesen quantitativen Bestimmungen aus werden wir dann zu den qualitativen übergehen. Wir werden die Art der Stilisierung der Zeitung, die Art, wie die gleichen Probleme innerhalb und außerhalb der Zeitungen erörtert werden, die scheinbare Zurückdrängung des Emotionalen in der Zeitung, welches doch immer wieder die Grundlage ihrer eigenen Existenzfähigkeit bildet, und ähnliche Dinge zu verfolgen haben und darnach schließlich in sehr weiter Annäherung die Hoffnung haben dürfen, der weittragenden Frage langsam näherzukommen, welche wir zu beantworten uns als Ziel stecken. –

Meine Herren, ich muß mich nun noch wesentlich kürzer und skizzenhafter fassen über die zwei anderen Problemgebiete, die die Gesellschaft außerdem beabsichtigt in Angriff zu nehmen.

Das zweite Thema muß ich zunächst notgedrungen sehr weit dahin formulieren, daß es eine fundamentale Aufgabe einer jeden Gesellschaft für Soziologie ist, diejenigen Gebilde zum Gegenstand ihrer Arbeiten zu machen, welche man konventionell als »gesellschaftliche« bezeichnet, d.h. alles das, was zwischen den politisch organisierten oder anerkannten Gewalten – Staat, Gemeinde und offizielle Kirche – auf der einen Seite und der naturgewachsenen Gemeinschaft der[441] Familie auf der anderen Seite in der Mitte liegt. Also vor allem: eine Soziologie des Vereinswesens im weitesten Sinne des Wortes, vom Kegelklub – sagen wir es ganz drastisch! – angefangen bis zur politischen Partei und zur religiösen oder künstlerischen oder literarischen Sekte.

Meine Herren, auch ein solches ungeheures Thema ist unter den allerverschiedensten Gesichtspunkten in die allerverschiedensten Fragestellungen zu zerlegen: wenigstens einige wenige davon will ich ganz kurz andeuten.

Der heutige Mensch ist ja unzweifelhaft neben vielem anderen ein Vereinsmensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Maße. Man muß ja glauben: das ist nicht mehr zu überbieten, seitdem sich auch »Vereins-Enthebungs«-Organisationen gebildet haben. Deutschland steht in dieser Hinsicht auf einem sehr hohen Standard. Es läßt sich aus einem beliebigen Adreßbuch feststellen – wenn es wirklich die Vereine auch nur annähernd vollständig enthält, was meist nicht der Fall ist, in Wirklichkeit vielleicht niemals, in Berlin beispielsweise ganz unvollständig, dagegen in kleinen Städten zuweilen besser –, daß beispielsweise in einzelnen Städten von 30000 Einwohnern 300 verschiedene Vereine bestehen; also auf 100 Einwohner, d.h. auf 20 Familienväter, ein Verein.

Meine Herren, mit der quantitativen Verbreitung geht die qualitative Bedeutsamkeit des Vereinswesens nicht immer Hand in Hand. Welches ist, qualitativ betrachtet, das Vereinsland par excellence? Zweifelsohne Amerika – und zwar aus dem Grund, weil dort die Zugehörigkeit zu irgendeinem Verein für den Mittelstand direkt zur Legitimation als Gentleman gehört – richtiger: gehörte, denn jetzt europäisiert sich das alles. Ein paar drastische Beispiele! Mir erzählte ein deutscher Nasenspezialist, daß sein erster Kunde in Cincinnati vor Beginn der Behandlung ihm sagte: »Ich gehöre der first Baptist-church in der soundsovielten street an.« Was das mit dem Nasenleiden zu tun habe, konnte der betreffende Arzt nun nicht einsehen. Es bedeutete aber gar nichts anderes als: Ich bin ein patentierter gentleman und – zahle gut und prompt. Der zweite, der zu ihm kam, zeigte ihm als erstes eine Art von Ehrenlegionsrosette im Knopfloch. Der Arzt erkundigte sich und erfuhr, daß das ein bestimmter Klub sei, in den man nach sorgsamen Recherchen über die Persönlichkeit hineinballotiert würde; wenn man dem nun angehörte, so war man eben als »gentleman« legitimiert. Massenhaft finden sich diese Art von Klubs oder Vereinen aller Art im Bürgertum verbreitet. Heute sind sie zunehmend weltlichen Charakters. Aber der Urtypus alles Vereinswesens ist – das kann man gerade in Amerika studieren – die Sekte im spezifischen Sinne des Wortes. Ob rein historisch, ist hier gleichgültig – aber prinzipiell. Deshalb, weil die Sekte ihrem Sinn nach ein Zusammenschluß von spezifisch qualifizierten Menschen ist und nicht eine »Anstalt«, weil sie nach ihrem soziologischen Strukturprinzip die Sanktion der autoritären Zwangsverbände – Staat, Kirche – ablehnt und »Verein« sein muß. In Amerika spielt sie[442] deshalb vielfach noch heute die Rolle, sozusagen das ethische Qualifikationsattest für den Geschäftsmann auszustellen. Ehe z.B. die Baptisten jemand aufnehmen, unterwerfen sie ihn einer Prüfung, die an unsere Reserveoffizierprüfung erinnert und die sich auf seine ganze Vergangenheit erstreckt: Wirtshausbesuch, Beziehungen zu Damen, Kartenspiel, Schecks und alle nicht bezahlten Dinge des persönlichen »Wandels« werden herausgesucht, ehe er die Taufe erreichen kann. Wer dann getauft ist – der ist als unbedingt kreditwürdig legitimiert und macht gute Geschäfte. Nicht ganz so streng, aber ähnlich machen es andere traditionelle amerikanische Vereine, und mit ähnlichen Konsequenzen. Ganz ähnlich funktionierte das Freimaurertum, auch bei uns, wie man sich aus Freimaurerakten leicht überzeugen kann – aber erst recht in Amerika. Wie mir dort einmal ein Herr, der es sehr beklagte, daß er aus äußeren Gründen nicht die Stellung als Meister am Stuhl habe erlangen können, auf meine Frage: warum ihm das wichtig sei? sagte: Wenn ich Meister am Stuhl bin und auf meinen Geschäftsreisen als solcher mit dem Geheimzeichen auftreten kann, so bekomme ich alle Kunden, ich schlage jede Ware los, da von jedermann vorausgesetzt wird, ich liefere nur reelle Ware zu reellem Preise; denn wenn ich das jemals nachweislich nicht getan hätte, so würden mich die Freimaurer in ihrer Mitte nicht dulden. So ist es im gesellschaftlichen Leben in Amerika überhaupt. Wer da nicht hineinkommt – und beispielsweise der Deutschamerikaner hat selten das Glück hineinzukommen –, der kommt nicht in die Höhe. Die Demokratie in Amerika ist kein Sandhaufen, sondern ein Gewirr exklusiver Sekten, Vereine und Klubs. Diese stützen die Auslese der an das amerikanische Leben überhaupt Angepaßten, stützen sie, indem sie ihnen zur geschäftlichen, zur politischen, zu jeder Art von Herrschaft im sozialen Leben verhelfen. – Wie steht es damit bei uns? Finden sich – und in welcher Art und welchem Umfang – dazu Analogien? Wo? Mit welchen Konsequenzen? Wo nicht? Warum nicht? Das ist die eine, nach außen gewandte Seite der Sache.

Eine zweite Frage ist: Wie wirkt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art von Verband nach innen? auf die Persönlichkeit als solche? Man kann allgemein sagen: Wer einem Verband angehört, sei es z.B. einer Couleur in Deutschland, sei es einer Greek Letter Society oder anderem studentischen Klub in Amerika, der muß sich in der Mitte seiner Verbandsgenossen im äußerlichen und im innerlichen Sinn des Worts »behaupten«. Und die Frage ist: Wodurch er sich behauptet? Im vorliegenden Beispiel hängt das z.B. davon ab: Welches spezifische Ideal von »Männlichkeit«, bewußt und absichtsvoll oder auch unbewußt und traditionell innerhalb einer deutschen Couleur einerseits und eines englischen Sportklubs oder eines amerikanischen Studentenvereins andererseits gepflegt wird. Die Bedingungen, sich die Achtung der Genossen zu erwerben, sind dabei natürlich grundverschieden. Sie sind es ganz allgemein, nicht nur je nach den Nationen, sondern auch nach den verschiedenen Schichten und den Kategorien von Vereinen. Der einzelne aber wird[443] nach diesem Ideal bewußt oder unbewußt ausgelesen und dann geprägt. Und es handelt sich dann ja weiter nicht nur um die Frage, ob er sich die äußere Achtung der Genossen erwirbt, sondern letztlich müssen wir ja immer fragen: wie besteht der einzelne, der nun diesen Einflüssen ausgesetzt ist, vor seiner eigenen Selbstachtung und vor seinem Bedürfnis, »Persönlichkeit« zu sein? Was für innere Positionen verschieben sich, die für die Ausbalanciertheit dessen, was wir »Persönlichkeit« nennen, für die Notwendigkeit, das auf eine neue Basis zu stellen, wichtig werden können? Denn unter solchen inneren Problemstellungen vollzieht sich ja die Aneignung der Einflüsse solcher sozialen Ensembles, in die der einzelne gesteckt wird, die Einfügung dieser Einflüsse in den Zusammenhang des eigenen »Ich«. Und das Gefühl der eigenen »Würde« kann sich, je nach der Art des Ensembles, auf grundverschiedene Postamente verschieben.

Nun weiter: Jeder Verein, zu dem man gehört, stellt dar ein Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen. Zunächst, wenigstens der Regel nach, formal und offiziell ein Majoritätsherrschaftsverhältnis. Es ist also die Psychologie dieser Majoritätsherrschaft über den einzelnen, die letztlich in Frage steht, und die sich auf dem Boden dieser Privatverbände in sehr spezifischer Art äußert und wirkt – wobei ich hier nur auf den Punkt zu sprechen kommen kann, der der entscheidende ist: daß selbstverständlich innerhalb jedes solchen Gremiums, wie es auch heiße, Partei, Verein, Klub oder was es ist; in Wirklichkeit die Herrschaft stets eine Minoritätsherrschaft, zuweilen eine Diktatur einzelner ist, die Herrschaft Eines oder einiger irgendwie im Wege der Auslese und der Angepaßtheit an die Aufgaben der Leitung dazu befähigter Personen, in deren Händen die faktische Herrschaft innerhalb eines solchen Vereins liegt.

Wie nun, unter welchen Bedingungen, unter welchen, ich möchte sagen, »Spielregeln« diese Auslese der Leitenden innerhalb der einzelnen Kategorien von Vereinen, Parteien oder was es ist, sich vollzieht, das ist für die Frage entscheidend, welche Art von Persönlichkeiten die Herrschaft an sich bringen. Und das ist wieder nur speziell für je ganz bestimmte Arten von Vereinen und je nach den Kulturbedingungen der Umwelt zu beantworten. Es ist dies aber eine zentral wichtige soziologische Frage, und nicht minder ist es die weitere, daran sich anknüpfende: Durch welche Mittel die leitenden Gruppen die Loyalität gegenüber den Vereinen, d.h. gegenüber ihrer eigenen Herrschaft, zu sichern suchen. Ueber diese Frage liegen mancherlei wichtige Vorarbeiten schon vor1.

Weiter: Welche Art von Beziehungen besteht zwischen einem Verein irgendwelcher Art, wieder von der Partei bis – das klingt ja paradox – zum Kegelklub herab, zwischen einem beliebigen Verein also und irgend etwas, was man, im weitesten Sinne des Wortes, »Weltanschauung« nennen kann? Ueberall ist eine solche Beziehung irgendwie vorhanden, auch wo man sie gar nicht vermuten sollte.[444] Aber in sehr verschiedener Art. Zunächst ist es eine alltägliche Erscheinung, daß Vereinigungen, die ausgegangen sind von großen Weltanschauungsideen, zu Mechanismen werden, die sich faktisch zunehmend davon loslösen. Das liegt einfach an der allgemeinen, wie man zu sagen pflegt: »Tragik« jedes Realisationsversuchs von Ideen in der Wirklichkeit überhaupt. Es gehört ja zu jedem Verein bereits irgendein, sei es bescheidenster, Apparat, und sobald der Verein propagandistisch auftritt, wird dieser Apparat in irgendeiner Weise versachlicht und vom Berufsmenschentum okkupiert. Denken Sie – um ein grobes Beispiel zu nennen – daran, daß ein so heikles und delikates Problemgebiet, wie das Problem erotischen Lebens, daß die Propaganda von Ideen auf diesem Gebiet schon heute die pekuniäre Grundlage für Existenzen zu bilden hat. Ich spreche das hier nicht in Form irgendeines sittlichen Vorwurfs gegen die betreffenden Personen aus, und halte mich dazu, angesichts dessen, daß soundso viele Professoren auf ihren Kathedern noch heute die Propaganda für ihre subjektiven politischen oder anderen Ideen für ihre Aufgabe halten, für nicht berechtigt. Aber es ist Tatsache und hat selbstverständlich sehr weitgreifende Folgen, wenn dasjenige spezifische Stadium der Versachlichung eines Ideengehaltes, wo die Propaganda für diese Ideen die Grundlage für materielle Existenzen wird, erreicht ist, natürlich wiederum verschiedene Konsequenzen, je nach der Art und dem Charakter dieser Ideale. – Auf der anderen Seite, meine Herren, attrahiert fast jeder Verein, auch ein solcher, der das prinzipiell vermeiden will, in irgendeiner Weise »weltanschauungsmäßige« Inhalte. In gewissem Sinne, könnte man behaupten: Sogar auch ein deutscher Kegelklub, in deutlicherem Maße schon ein Gesangverein. Meine Herren – um dabei zu bleiben –, die Blüte des Gesangvereinswesens in Deutschland übt m. E. beträchtliche Wirkungen auch auf Gebieten aus, wo man es nicht gleich vermutet, z.B. auf politischem Gebiete. Ein Mensch, der täglich gewohnt ist, gewaltige Empfindungen aus seiner Brust durch seinen Kehlkopf herausströmen zu lassen, ohne irgendeine Beziehung zu seinem Handeln, ohne daß also die adäquate Abreaktion dieses ausgedrückten mächtigen Gefühls in entsprechend mächtigen Handlungen erfolgt – und das ist das Wesen der Gesangvereinskunst –, das wird ein Mensch, der, kurz gesagt, sehr leicht ein »guter Staatsbürger« wird, im passiven Sinn des Wortes. Es ist kein Wunder, daß die Monarchen eine so große Vorliebe für derartige Veranstaltungen haben. »Wo man singt, da laß dich ruhig nieder.« Große, starke Leidenschaften und starkes Handeln fehlen da. Es klingt das paradox, es ist vielleicht, das gebe ich zu, etwas einseitig, es soll auch kein Tadel sein – es kann vielleicht ja einen Standpunkt geben, von dem aus man sagt, daß eben dies der Reichtum des deutschen Volkes sei, daß es fähig ist, diese Ablösung zu vollziehen und auf dieser Basis eine ihm eigene künstlerische Kultur zu schaffen, und man kann ferner sagen, daß jede Art von Kultur in der Einschaltung von Hemmungen zwischen Empfindung und Abreaktion ihre Basis findet. Ich lasse das alles gänzlich dahingestellt,[445] denn es geht die Frage der Bewertung uns gar nichts an. Ich konstatiere nur, daß eine solche Beziehung, wie ich sie andeutete, möglicherweise – ich weiß nicht, in welcher Stärke, ich habe vielleicht übertrieben – vorhanden sein kann.

In solchen und ähnlichen Fällen handelt es sich ja wesentlich um die unbewußte Beeinflussung des Gesamthabitus durch den Inhalt der Vereinstätigkeit. Aber es gibt die allerverschiedensten Abschattierungen in der Art des Uebergreifens rein fachliche oder rein sachliche Ziele verfolgender Gemeinschaften auf das Gebiet der Beeinflussung und Reglementierung der praktischen Lebensführung. Sie kann auch ganz bewußt erfolgen, von rein fachlich-sachlichen Positionen aus, hinter denen wir sie an sich gar nicht vermuten würden. Denken Sie doch daran, daß ganz bestimmte Theorien medizinischer Art, ganz bestimmte psychiatrische Theorien, heute auf dem offenkundigen Weg zur Sektenbildung begriffen sind, daß eine bestimmte, von einem berühmten Wiener Psychiater geschaffene Theorie dazu geführt hat, daß eine Sekte sich gebildet hat, die bereits soweit ist, daß sie ihre Zusammenkünfte solchen, die nicht zu ihr gehören, streng verschließt und sekretiert. Der »komplexfreie« Mensch als das Ideal und eine Lebensführung, durch die dieser komplexfreie Mensch geschaffen und erhalten werden kann, ist Gegenstand dieser Sektenwirtschaft, die allerverschiedensten Lebenszweige finden ihre Reglementierung von diesen Idealen aus – was gewiß kein Mensch, wenn er zunächst diese Theorien rein als psychiatrische und für wissenschaftliche Zwecke bestimmte sich ansieht, daraus allein entnehmen könnte, obwohl der Zusammenhang nachher sehr leicht verständlich ist.

Aehnliches kann z.B. auch auf dem Gebiete des Aesthetischen: der künstlerischen Sektenbildung, sich ereignen, ja, die von künstlerischen Weltgefühlen getragenen Sekten gehören in soziologischer Hinsicht – sie bieten auch sonst ein erhebliches Interesse – oft zu dem Interessantesten, was es geben kann; sie haben noch heute, ganz wie eine religiöse Sekte, ihre Inkarnationen des Göttlichen gehabt – ich erinnere an die Sekte Stefan Georges –, und die Prägung der praktischen Lebensführung, der inneren Attitüde zum gesamten Leben, die sie in ihren Anhängern erzeugen, kann eine sehr weitgreifende sein. Und wir erleben ja ganz dasselbe auf dem Gebiete der Rassentheoretiker. Das Heiraten nach adeligen Ahnentafeln kann man selbstverständlich durch das Heiraten nach hygienischen Ahnentafeln ersetzen, und es weiß jedermann, daß eine Sekte mit vornehmlich diesem Zweck aus esoterischen und exoterischen Anhängern besteht – wobei ich, wie hier durchweg, den Ausdruck Sekte gänzlich wertfrei gebrauche. Der Ausdruck ist ganz ohne Grund bei uns so eigentümlich in Verruf, weil man den Begriff der »Enge« damit verbindet. Spezifische, fest umrissene Ideale können aber gar nicht anders als zunächst im Weg der Bildung einer Sekte begeisterter Anhänger, die sie voll zu verwirklichen streben und sich deshalb zusammenschließen und von andern absondern, ins Leben getragen werden.

[446] Meine Herren, wir kommen – denn ich muß damit abbrechen, um Ihre Zeit nicht zu weit in Anspruch zu nehmen – schließlich zu zwei ähnlichen prinzipiellen Fragestellungen, wie bei der Presse: Wie wirken die einzelnen Kategorien solcher Verbände und Vereine, von den Parteien angefangen – denn auch diese können entweder Maschinen sein, reine Maschinen, wie die amerikanischen Parteien, oder angebliche Weltan schauungsparteien, wie heute die Partei der Sozialdemokratie, die es ehrlich glaubt, eine solche zu sein, obwohl sie es schon lange nicht mehr ist, oder wirkliche Weltanschauungsparteien, wie in immerhin weitgehendem Maße noch heute die Partei des Zentrums, obwohl auch bei ihr dieses Element im Schwinden begriffen ist, und es gibt da die allerverschiedensten Paarungen zwischen Idee und Mechanismus – wie, sage ich, und mit welchen Mitteln wirken sie in der doppelten Richtung: einmal der Prägung der einzelnen Individuen, und dann der Prägung der objektiven, überindividuellen Kulturgüter?

Wenn Sie nun nach dem Material fragen, mit dem eine solche Untersuchung zu führen sei, so ist der Stoff, mit dessen Bewältigung zunächst einmal anzufangen ist, wiederum ein ganz trockener, trivialer, und ohne solche trockene, triviale, viel Geld und viel Arbeitskraft einfach in den Boden stampfende Arbeit ist nichts zu machen. Zunächst lohnt der systematische Versuch, von den Vereinen Auskunft darüber zu erhalten, welchen Berufen, welchen geographischen, ethnischen, sozialen Provenienzen ihre Mitglieder angehören. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, wenn auch nicht für sicher, daß wir im Lauf der Zeit eine Art von Kataster der wichtigsten Vereinskategorien in dieser Hinsicht schaffen können und damit den Ausleseprinzipien auf die Spur kommen, die den Vereinen selbst natürlich meist ganz unbewußt sind und nur aus ganz großem und umfassendem Material erschlossen werden können. Daneben haben wir dann die Mittel der Vereinseinwirkung nach innen, auf die Mitglieder, nach außen in propagandistischem Sinn und im Kampf, zu analysieren und schließlich die propagierten Inhalte selbst, alles in frischer, soziologischer Kasuistik. Eine Arbeit vieler Jahre! –

Da ich soeben von »Auslese« sprach, so erwähne ich anschließend daran gleich das letzte, schon jetzt von uns in Aussicht genommene große Arbeitsgebiet. Das ist die von Prof. Eulenburg in Leipzig bei uns zur Diskussion und zur systematischen Bearbeitung angeregte Frage der Auslese der führenden Berufe innerhalb der modernen Gesellschaft, derjenigen Berufe, die man im üblichen Sinn – denn von etwas anderem als dem konventionellen Sinn kann die Soziologie nicht ausgehen – die »führenden« nennt, der ökonomisch und politisch Führenden, der wissenschaftlich, literarisch, künstlerisch Führenden, der Geistlichen, der Beamten, der Lehrer, Unternehmer usw. Wir fragen dabei: woher stammen diese Leute, was war ihr Vater und Großvater, wo stammen sie ethnisch her, was haben sie für Lebensschicksale hinter sich, d.h. wie, über welche Staffeln hinweg, sind sie an ihren jetzigen Posten gelangt usw., kurz, wieso hat die überall wirksame[447] Auslese gerade sie – und das könnten wir natürlich nur aus einer großen Zahl erschließen – in diese Stellung gebracht, welche ethnische, berufliche, soziale, materielle usw. Provenienz ist es, die die günstigsten Chancen am meisten in sich enthält, grade in diese Berufe und Positionen zu gelangen? Eine Aufgabe, die wiederum erst durch sehr umfassende Erhebungen im Lauf der Zeit vielleicht gelöst werden kann. Ich habe, m. H., in der mir gesteckten Zeitspanne lediglich versuchen können, rein illustrativ, an beliebig herausgegriffenen Beispielen, Ihnen deutlich zu machen, daß es auf den von uns anzugreifenden Problemgebieten Fragen gibt, deren Inangriffnahme wissenschaftlich lohnt.

Sie sehen aber, daß schon diese konkreten Aufgaben, die ich hier erwähnt habe, nicht solche sind, daß sie darauf rechnen könnten, im nächsten Jahre läge etwa schon irgendein brillantes Resultat vor. Die Gesellschaft wird Geduld haben müssen, das Publikum auch. Diese Arbeiten erfordern nicht nur eine Selbstlosigkeit der Hingabe an den selbstverständlich im einzelnen Fall begrenzten Zweck, wie sie heute selten anzutreffen ist, wie sie aber immerhin gelegentlich und hoffentlich zunehmend angetroffen wird, und sie erfordert – wie ich hinzufügen muß: bedauerlicherweise –, sie erfordert sehr erhebliche pekuniäre Mittel. M. H., für die Zwecke der Preßenquete allein sind die Kosten auf ungefähr 25000 M. für die Vorarbeiten geschätzt. Von diesen 25000 M. stehen uns jetzt rund 20000 zur Verfügung durch eine Vereinbarung mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und mit dem Institut für Gemeinwohl hier in Frankfurt und durch private Stiftungen von innerhalb und außerhalb unserer Gesellschaft. Es ist zu hoffen, daß der noch notwendige Rest ebenfalls in irgendeiner Weise von privater Seite gestiftet wird, da wir unter keinen Umständen mit unserer Arbeit beginnen werden, ehe wir sicher sind, daß die Mittel, die wir jetzt für erforderlich halten müssen, und die hoffentlich reichen, wenigstens vorhanden sind. Für die anderen Untersuchungen steht heute noch nichts an Geldern zur Verfügung außer den laufenden Mitteln der Gesellschaft, und diese fallen für solche Arbeiten nicht ins Gewicht bei einem Mitgliederbestand von vorläufig nicht wesentlich über 200 – wir hoffen ja, daß er steigen wird – ich sage, die laufenden Mittel der Gesellschaft können dafür natürlich nicht die Unterlage bilden, sie gehen für laufende Geschäfte, zum überwiegenden Teil wenigstens, darauf und müssen die Kosten solcher Tagungen, wie wir sie hier und in, wie gesagt, wesentlich veränderter und verbesserter Form künftig haben werden, tragen helfen. Wir sind also, das gestehen wir offen, auf Mäzenatentum angewiesen, auf Mäzenatentum, wie es sich bisher bereits in einem Fall in einer für Deutschland ungewöhnlichen Art manifestiert hat. Denn, m. H., in vollem Gegensatz zu den Zuständen des Auslands, nicht nur Amerikas, ist es in Deutschland äußerst selten, daß bedeutende Geldmittel für rein wissenschaftliche Zwecke zu haben sind. Geldmittel sind in Deutschland zu haben für Zwecke der Technik, etwa für Flugprobleme und derartiges, für Zwecke, bei denen[448] etwas für den lieben Körper und seine Kur herausspringt, also für Radiotherapie oder derartiges, wenn wenigstens in ferner Aussicht steht, daß irgend etwas Therapeutisches dabei herauskommt. Sie stehen ferner noch in erfreulicher Weise zunehmendem Maße für künstlerische Zwecke zur Verfügung. Wenn aber bei uns in Deutschland Geld gegeben wird für wissenschaftliche Zwecke, so kann man im allgemeinen sicher sein, daß es staatlichen Instanzen anvertraut wird, aus Gründen, die ich hier nicht weiter erörtern will, die sehr verschiedener Art, subjektiv gewiß oft berechtigter Art, objektiv nach meiner Meinung aber nicht immer erfreulicher Art sind. Damit allein ist es aber natürlich auf die Dauer für den Fortschritt der Wissenschaft bei aller hohen Anerkennung dessen, was der Staat dafür bei uns im Gegensatz zu anderen Ländern auf diesem Gebiet geleistet hat, nicht getan. Es gibt bis jetzt nur eine Stadt, in der in ganz großem Maßstab Mäzenatentum geübt worden ist für Zwecke der Wissenschaft ohne Staatseinmischung in einer Art, wie sie etwa in Amerika üblich ist, das ist Frankfurt a. M. Aber es ist nicht möglich, sich damit abzufinden, daß Frankfurt a. M. dieses Monopel auf die Dauer behalten soll, sondern man muß – und davon ist nicht nur unsere spezielle wissenschaftliche Arbeit, sondern der Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt abhängig – man muß hoffen, daß die wenigen in aller Munde befindlichen glänzenden Namen, die auf dem Gebiete des deutschen rein wissenschaftlichen Mäzenatentums – und das bedeutet ein Mäzenatentum, welches die Geduld hat, abzuwarten, daß die um ihrer selbst willen betriebene Wissenschaft schließlich irgendwann auch »dem Leben diene« – ich sage, man muß hoffen, daß ein solches Mäzenatentum in Deutschland auch außerhalb dieser Stadt in größerem Maße, als es bisher in Deutschland der Fall war, erwachen werde, nicht nur, wie gesagt, um die speziellen Aufgaben dieser Gesellschaft zu fördern, sondern im Interesse der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 431-449.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon