I. Zum Vortrag von P. Barth über »Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung«.

[484] Der Herr Vorredner3 hat Recht, was heißt eigentlich Nation und Nationalgefühl? Haben wir überhaupt Anlaß, diese Begriffe ausdrücklich als besondere Realitäten zu behandeln? – Das wären die Fragen, die vor allen anderen gestellt werden müssen. Auf die Frage z.B., ob die Juden eine Nation sind, kann man gar nicht einfach mit ja oder nein antworten, denn das erfordert eine sehr schwierige Begriffsbestimmung. Soweit hinter dem offenkundig vieldeutigen Wort überhaupt eine gemeinsame Sache steckt, liegt sie offenbar auf politischem Gebiet. Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur etwa so definieren: sie ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben. Die kausalen Komponenten aber, die zur Entstehung eines Nationalgefühls in diesem Sinne führen, können grundverschieden sein. Sehen wir einmal von der Gemeinschaft des religiösen Glaubens ab, die darin noch immer – bei Serben und Kroaten – ihre Rolle nicht ausgespielt hat, so kommen zunächst gemeinsame, rein politische Schicksale in Betracht, durch welche unter Umständen auch sonst heterogene Völker zusammengeschweißt werden können. In solchen Erinnerungen ist der Grund zu suchen, warum der Elsässer sich als nicht der deutschen Nationalität zugehörig empfindet: seine politischen Schicksale sind zu lange in außerdeutschen Zusammenhängen verlaufen. Seine Helden sind Helden der französischen Geschichte. Wenn Ihnen der Kastellan des Kolmarer Museums zeigen will, was ihm von seinen Schätzen besonders teuer ist, so führt er Sie von Grünewalds Altar fort in ein Zimmer mit Trikoloren-, Pompier- und anderen Helmen, und solchen Erinnerungen scheinbar nichtigster Art aus einer Zeit, die ihm ein Heldenzeitalter bedeutet. – Auch eine bestehende staatliche Organisation aber, deren Heldenzeitalter von den Massen nicht mitempfunden wird, kann dennoch rein als solche, trotz größter innerer Gegensätze, der ausschlaggebende Faktor für ein mächtiges Gemeingefühl sein. Der Staat als Garant der Sicherheit wird gewertet und dies zumal in Zeiten der Bedrohung von außen, wo dann ein solches nationales Gemeinschaftsgefühl wenigstens intermittierend aufflackert. So sahen wir, wie in der sog. Nibelungengefahr die scheinbar rücksichtslos auseinanderstrebenden Elemente des österreichischen Staats sich zusammenschlossen, und nicht nur auf die am Staat als solchem interessierten Beamten und Offiziere, sondern auf die Massen der Armee Verlaß war. Besonders kompliziert liegen die Verhältnisse bei einer[484] weiteren Komponente: dem Einfluß der Rasse. Von mystischen Wirkungen der Blutsgemeinschaft im Sinne der Rassenfanatiker sehen wir dabei wohl besser gänzlich ab. Für die soziale Anziehung und Abstoßung sind die Verschiedenheiten des anthropologischen Typus ein, aber ein neben traditionserworbenen Unterschieden nur gleichberechtigtes Moment der Abschließung. Und zwar mit charakteristischen Unterschieden. Jeder Yankee nimmt den zivilisierten Viertels- oder Achtelsindianer als Nationalitätsgenossen an, beansprucht womöglich selbst, Indianerblut zu besitzen. Ganz anders aber verhält er sich den Negern gegenüber, und zwar gerade dann, wenn dieser die gleichen Lebensformen annimmt und damit die gleichen sozialen Prätentionen erhebt. Wie erklärt sich das? Aesthetische Aversion mag mitspielen. Der »Negergeruch« allerdings, von dem so viel gefabelt wird, ist nach meiner Erfahrung nicht zu entdecken, und schwarze Ammen, schwarze Kutscher Schulter an Schulter mit der das Kabriolet lenkenden Dame und vor allem mehrere Millionen Mischlinge sprechen allzu deutlich gegen die angeblich natürliche Abstoßung. Diese ist sozialen Charakters und ich habe nur eine einzige einleuchtende Begründung gehört: die Neger sind Sklaven gewesen, die Indianer nicht. – Von den Kulturelementen, welche die wichtigste positive Grundlage der Bildung von Nationalgefühl darstellen, steht überall in erster Linie die gemeinsame Sprache. Auch sie ist weder ganz unentbehrlich noch allein ausreichend. Man darf behaupten: daß es ein spezifisches Schweizer Nationalgefühl gab trotz des Fehlens der Sprachverschiedenheit. Trotz der Sprachgemeinschaft fehlt es dem Irländer mit dem Engländer. Die Bedeutung der Sprache ist in notwendigem Steigen begriffen, parallel mit der Demokratisierung von Staat, Gesellschaft und Kultur. Denn gerade für die Massen spielt die Sprache schon rein ökonomisch eine entscheidendere Rolle, als für den Besitzenden feudalen oder bürgerlichen Gepräges, der wenigstens in Sprachgebieten gleichartiger Kultur meist die fremde Sprache spricht, während der Kleinbürger und Proletarier im fremden Sprachgebiet ungleich stärker auf den Zusammenhalt mit Gleichsprachlichen angewiesen ist. Und dann vor allem: die Sprache und das heißt: die auf ihr aufgebaute Literatur sind das erste und zunächst einzige Kulturgut, welches den Massen beim Aufstieg zur Teilnahme an der Kultur überhaupt zugänglich wird. Der Kunstgenuß erfordert ein weit größeres Maß von Schulung, und Kunst ist weit aristokratischeren Gepräges, als Literatur gerade in ihren größten Leistungen. Aus diesem Grunde war die Vorstellung so utopisch: Demokratisierung müsse die Sprachenkämpfe mildern, die man in Oesterreich gehabt hat. Die Tatsachen haben sie inzwischen gründlich dementiert. Gemeinsame »Kulturgüter« können also ein einigendes nationales Band abgeben. Auf den objektiven Wert dieser Kulturgüter kommt es dabei aber gar nicht an und deshalb darf man »Nation« nicht als »Kulturgemeinschaft« fassen. Gerade die Zeitungen, in denen sich gewiß nicht immer das Sublimste an literarischer Kultur sammelt, kitten die Massen am stärksten zusammen. Ueber die eigentlich soziologischen Bedingungen der Entstehung einer[485] einheitlichen Literatursprache und – was etwas anderes ist – einer Literatur in der Volkssprache stecken alle Untersuchungen noch in den Anfängen. Für Frankreich kann auf die Aufsätze meines verehrten Freundes Voßler verwiesen werden. Nur auf einen typischen Träger dieser Entwicklung möchte ich hier hinweisen, weil man an ihn nicht oft denkt: die Frauen. Ihre spezifische Leistung für die Bildung eines an der Sprache orientierten Nationalgefühls liegt hier. Eine erotische Lyrik, die sich an Frauen wendet, kann nicht wohl fremdsprachig sein, weil sie dann von den Adressatinnen unverstanden bliebe. Ganz gewiß nicht die höfische und ritterliche Lyrik allein, auch nicht immer zuerst, aber doch oft und nachhaltig gerade sie hat daher in Frankreich, Italien, Deutschland das Lateinische, in Japan das Chinesische durch die eigene Sprache ersetzt und diese zur Literatursprache sublimiert. Wie dann die Bedeutung der Volkssprache unter dem Einfluß der Erweiterung der Verwaltungsaufgaben von Staat und Kirche, also als Sprache der Behörden und der Predigt stetig fortschreitet, habe ich hier nicht zu schildern. Nur noch ein Wort über die ökonomische Bedingtheit gerade der modernen Sprachenkämpfe. An der Erhaltung und Pflege der Volkssprache sind heute ganz erhebliche pekuniäre und kapitalistische Interessen verankert: solche der Verleger, Herausgeber, Autoren und Mitarbeiter von Büchern und Zeitschriften, vor allem aber von Zeitungen. Seit es einmal polnische und lettische Zeitungen gab, war der von den Regierungen oder herrschenden Schichten anderer Sprachzugehörigkeit geführte Sprachenkampf so gut wie aussichtslos geworden. Denn gegen diese Gewalten ist die Staatsraison machtlos. Und diesen kapitalistischen Erwerbsinteressen tritt ein anderes materielles Interesse von großem Gewicht zur Seite: in der Konkurrenz um die Aemter werfen die Amtsanwärter ihre Doppelsprachigkeit in die Wagschale und suchen für diese ein möglichst breites Pfründengebiet mit Beschlag zu belegen, wie in Oesterreich die Tschechen mit ihrem Ueberschuß von massenhaft gezüchtetem intellektuellem Proletariat. Diese Tendenz ist an sich alt. Die konziliare und zugleich nationalistische Reaktion des ausgehenden Mittelalters gegen den Universalismus des Papsttums – der Name natio findet sich als Rechtsbegriff für eine organisierte Gemeinschaft ja zuerst an den Universitäten und auf den Reformkonzilien – hatten ihren Ursprung in starkem Maße in dem Interesse der Intellektuellen, welche die Pfründen ihres eigenen Landes nicht von Rom her durch Fremde besetzt, sondern für sich reserviert sehen wollten. Nur die Verknüpfung mit der nationalen Sprache als solcher fehlte damals und ist, aus den erwähnten Gründen, spezifisch modern. Alles in allem: wenn man es überhaupt zweckmäßig findet, ein Nationalgefühl als etwas Einheitliches, spezifisch Gesondertes zu unterscheiden, so kann man das nur durch Bezugnahme auf eine Tendenz zum eigenen Staat und man muß sich dann klar sein, daß darunter sehr heterogen geartete und verursachte Gemeinschaftsgefühle zusammengefaßt werden.[486]


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 484-487.
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