II. Zum Vortrag von F. Schmid über

»Das Recht der Nationalitäten«.

[487] 1. Wenn sich einmal jemand an das große Problem der rechtlichen Gestaltung der Nationalitätenbeziehung machen wollte, so wäre eine der wichtigsten Quellen dafür die Schriften von Dragomanow, und dann die Verhandlungen, die in Rußland während der Revolution geführt worden sind. Die Russen haben, weil die Art ihrer radikal revolutionären Stellung zur bestehenden Regierung ihnen einen archimedischen außerhalb aller bestehenden uns allen selbstverständlichen Ordnungen der Gesellschaft gibt, die Eigentümlichkeit, mit ihrem Intellekt die äußersten gedanklichen Konsequenzen zu erschöpfen. Darum sind hier vielleicht alle Möglichkeiten der Gestaltung des Problems aufgetaucht. Nun zu den Erörterungen von heute Vormittag.

Herrn Dr. Ludo Moritz Hartmann will ich die größere Kompetenz im Tatsächlichen der österreichischen Verhältnisse zugeben. Zu seiner Definition des Begriffs Nation muß ich aber nochmals sagen: Es gibt keinen soziologisch eindeutigen genetischen Begriff von Nation und Nationalität, der an den Begriff »Kultur« anknüpft. Definitionen sind hier konventionell und bleiben im Gebiet des Subjektiven. Die Hartmannsche Definition läßt z.B. die Frage offen, was denn eine »Kulturgemeinschaft« ist. In welchem Sinne – wenn überhaupt – besteht eine solche zwischen der Aristokratie und dem Proletariat eines Landes? Damit beginnt zuerst das Problem: Die Gemeinsamkeit welcher Kulturgüter bietet den stärksten Antrieb dafür, daß die betreffende Gemeinschaft nach einer politischen Organisation strebt? Die Bedeutung der Kunst ist dafür sehr gering. Um so stärker ist der Einfluß der Literatur, wie ich schon ausführte.

2. Hier ist sehr wohl und ausdrücklich von »Blut« gesprochen worden. Ich habe aber ausgeführt, daß mit der unklaren Rassenmystik nichts anzufangen ist. Ich habe die Frage aufgeworfen, inwiefern erbliche Qualitäten gemeinschaftsbildend sind. Wie schwankend die Zuteilung zu einem Volk ist, zeigt sich darin, daß man in Amerika eine Frau als Negerin bezeichnet, die 1/100 Negerblut hat, während wir Leute als Deutsche bezeichnen, die kaum einen Tropfen deutsches Blut haben (z.B. Treitschke). Es ist mit Recht hervorgehoben worden, welche Rolle die Religion auf dem Gebiete nationaler Gemeinschaftsbildung spielen kann. Gerade Sektenbildung führt oft zur Inzucht und hat in Indien z.B. neue anthropologische Typen erzeugt. – Der Sinn von »Nation« und »national« ist absolut nicht eindeutig. Wir können ihn nicht finden von der Seite der gemeinsamen Qualität her, welche die Gemeinschaft erzeugt, sondern nur von der Seite des Zieles her, nach dem etwas drängt, was wir unter dem Sammelnamen Nationalität bezeichnen: Dem selbständigen Staatswesen.

Was die Anzweiflungen von Professor Michels gegen die Bedeutung der erotischen Lyrik für die Propaganda der Volkssprache und ihre Entwicklung zur Literatursprache anlangt, so meine ich, daß die[487] Tatsachen sowohl in Frankreich wie namentlich in Japan und auch Italien doch außerordentlich klarliegen. Petrarca hat eben seine Sonette seiner Laura niemals weder vorgelesen noch zugeschickt, und Goethes römische Elegien sind auf dem Rücken der Vulpius abskandiert. Im übrigen aber können wir an dieser Meinungsverschiedenheit vielleicht einmal praktisch illustrieren, was es mit dem Unterschiede empirischer kausaler Erklärung und wertender Betrachtung, von deren Ausschluß aus unsern Debatten heute wieder die Rede war, auf sich hat. Die »Gunst der Frauen« als ein kausales Moment soziologischer Erscheinungen schätzt Professor Michels, wie sich zeigt, niedriger ein als ich. Aber damit ist doch nun nicht gesagt, daß er die Gunst der Frauen im Werte niedriger einschätzt, als ich tue. Eine Auseinandersetzung darüber würde ersichtlich nicht an diesen Ort gehören und eine Einigung prinzipiell ausschließen, und so steht es meines Erachtens mit allen Wertdiskussionen über haupt. Man kann da nur Standpunkte festlegen, aber eine Einigung ist prinzipiell gar nicht das bei Wertdiskussionen erstrebte Ziel. Erwägen Sie, wohin es geführt hätte, wenn wir heute etwa den Wert der Nationalität oder den Wert des nationalen Staates mit in die Diskussion gezogen hätten, wie es der erste Herr Redner immerhin bis zu einem gewissen Grade getan hatte. Wir hätten ein allgemeines Chaos gegenseitiger nationaler Rekriminationen, etwa der Polen gegen die Deutschen und umgekehrt, heraufbeschworen, bei dem eine Förderung sachlicher Erkenntnis auf keine Weise herausgesprungen wäre. Vorläufig haben wir den Statutenparagraph, welcher derartiges verbietet, und solange er besteht, werden wir auf unserem Rechte, seine Durchführung zu verlangen, bestehen.

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 487-488.
Lizenz: