Dairi

[155] Dairi, das geistliche Oberhaupt der Japaner. Ehemals war die Kaiserwürde damit verknüpft; vor ungefähr sieben Jahrhunderten brachte eine grosse Staatsumwälzung die weltliche Herrschaft an einen Anführer der Kriegsmacht, Yori-Tomo; seit dieser Zeit ist der D. ein heiliger Gefangener, welcher in der Hauptstadt von Japan residirt, jedoch von einem Statthalter des Kaisers auf's Strengste bewacht wird. Er verlässt seinen Palast nie, wird darin geboren und stirbt darin, ohne mehr als jährlich einmal in's Freie, nämlich in seinen Garten zu kommen, welches allem Volke verkündet wird, nicht, damit dasselbe ihn sehe, sondern damit es sich verberge, um ihn nicht zu sehen. Er geniesst scheinbare Vorrechte in Menge, doch in der That nichts, was ihn für seine Einkerkerung entschädigen könnte. Zu seinem Unterhalt ist eine ganze Provinz bestimmt, doch leidet er und sein Hof oft drückenden Mangel, weil die Unterbeamten des Kaisers den grössten Theil des für ihn Bestimmten an sich ziehen, und keine seiner Klagen des Herrschers Ohr erreichen kann. Der Name D. bedeutet eigentlich den Hof des Kaisers; er selbst heisst Oo Dai Sin Oo. Sein ganzes Geschlecht ist überaus heilig und macht, obgleich es zum grössten Theile aus Bedienten des D. besteht, doch auf die höchste Achtung Anspruch. - Der D. hat zwölf Frauen, und eines seiner Kinder erbt den Thron, doch nicht das älteste, sondern dasjenige, welches die ihn umgebenden Priester wählen. Nach seiner Thronbesteigung ist er ein lebendiger Gott, und viele Götter sind seinen Befehlen unmittelbar unterworfen, ja sie alle müssen einen Monat im Jahre bei ihm bleiben, welcher daher Kame Natsuli heisst, der Monat ohne Götter, indem alsdann alle Tempel verlassen sind, weil ihre Bewohner dem D. ihre Aufwartung machen. Solche Heiligkeit kann nur[155] dadurch behauptet werden, dass er nie geht (immer wird er getragen), dass ihn nie eines Menschen Blick trifft, dass er nur im Schlafe gewaschen, gereinigt, nur dann ihm Nägel, Bart und Haare geordnet werden, dass er jeden Morgen einige Stunden unbeweglich auf seinem Throne sitzt und weder einen Blick, noch eine Miene machen, noch irgend wohin sehen darf, (in neueren Zeiten sitzt, statt seiner, nur die Krone auf dem goldenen Stuhl), dass er seine Speisen auf Porzellangefässen bekommt, welche jedesmal, nachdem er sie gebraucht, zerbrochen werden, damit Niemand sie nach ihm entweihe u.s.f., denn er ist ein Sohn des Himmels, und folglich das erhabenste Wesen der Erde, welches die Götter, nachdem sie lange in eigener Person die Erde regiert, mit der ferneren Regierung derselben beauftragt haben.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 155-156.
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