Vormittagssitzung.

[111] VORSITZENDER: Ein Antrag ist beim Gericht gestellt worden, und das Gericht hat über ihn beraten. Insofern als er eine Einrede gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs darstellt, steht er im Widerspruch zu Artikel 3 des Statuts, und es kann auf ihn nicht eingegangen werden. Was die anderen Einwände betrifft, die er enthalten mag und die den Angeklagten möglicherweise offenstehen, so werden sie später gehört werden. Gemäß Artikel 24 des Statuts, der vorsieht, daß, nach Verlesung der Angeklageschrift im Gerichtshof die Angeklagten aufgerufen werden sollen, um sich schuldig oder nicht schuldig zu bekennen, ersuche ich die Angeklagten hiermit, sich schuldig oder nicht schuldig zu bekennen.

DR. DIX: Darf ich einen Augenblick zum Herrn Vorsitzenden sprechen?


VORSITZENDER: Sie dürfen zu mir nicht wieder über den Antrag sprechen, über den ich soeben im Namen des Gerichtshofs entschieden habe. Insofern jener Antrag eine Einrede gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs darstellt, steht er im Widerspruch zu Artikel 3 des Statuts, und es kann auf ihn nicht eingegangen werden. Sofern er Streitpunkte enthält, die den Angeklagten allenfalls offen stehen, so werden diese später gehört werden.


DR. DIX: Ich will nicht zum Antrag sprechen, sondern ich habe als Sprecher der Gesamtverteidigung den Auftrag, über eine andere, eine technische Frage zu sprechen und an den Gerichtshof eine diesbezügliche Frage zu richten. Darf ich das tun?


VORSITZENDER: Ja.


DR. DIX: Es ist den Verteidigern heute früh verboten worden, mit den Angeklagten zu sprechen. Es ist aber eine absolute Notwendigkeit, daß man vor der Sitzung mit dem Angeklagten sprechen kann. Es kommt oft vor, daß man ihn abends nach der Sitzung nicht mehr erreichen kann. Es ist auch leicht möglich, daß man in der Nacht etwas vorbereitet hat, was man vor der Sitzung mit ihm besprechen will. Nach unserer Erfahrung ist es immer erlaubt, daß man mit dem Angeklagten spricht, selbstverständlich vor Beginn der Sitzung. Die Frage des Verkehrs zwischen Verteidiger und Angeklagten während der Sitzung könnte man später noch regeln, bei der Beweisaufnahme. Meine Bitte, die ich also für die Gesamtverteidigung äußere, geht dahin, daß uns gestattet wird, im Saal, [111] in den ja die Angeklagten sehr früh geführt werden, mit unseren Angeklagten sprechen zu dürfen. Wir sind sonst, glaube ich, nicht in der Lage, die Verteidigung sachdienlich führen zu können.


VORSITZENDER: Ich bedauere, aber Sie können sich mit Ihren Klienten im Verhandlungssaale nur schriftlich beraten. Außerhalb des Verhandlungssaals können die Sicherheitsvorschriften durchgeführt werden, und Sie haben im Rahmen dieser Sicherheitsvorschriften jede Möglichkeit, sich mit Ihren Klienten zu beraten. Im Verhandlungssaale müssen Sie sich schriftlich an Ihre Klienten wenden. Nach Beendigung der Verhandlung werden Sie täglich die volle Möglichkeit haben, sich mit ihnen privat zu beraten.


DR. DIX: Ich werde dies mit meinen Kollegen von der Verteidigerbank besprechen und mir erlauben, eventuell noch auf diese Frage zurückzukommen.


DR. THOMA: Ich bitte ums Wort.


VORSITZENDER: Wollen Sie bitte Ihren Namen angeben.


DR. THOMA: Dr. Ralph Thoma. Ich vertrete den Angeklagten Rosenberg. Mein Klient hat mir gestern eine Erklärung überreicht, die er auf die Frage schuldig oder nicht schuldig abgeben will. Ich habe diese Erklärung entgegengenommen und habe ihm versprochen, mit ihm darüber zu reden. Ich hatte weder gestern abend noch heute eine Gelegenheit, mit dem Angeklagten zu sprechen. Ich bin deshalb nicht in der Lage, auch der Klient ist nicht in der Lage, auf die Erklärung schuldig oder nicht schuldig heute eine Erklärung abzugeben. Ich bitte deshalb die Verhandlung zu unterbrechen, damit ich mit meinem Klienten sprechen kann.


VORSITZENDER: Dr. Thoma, der Gerichtshof wird für 15 Minuten unterbrechen, um Ihnen Gelegenheit zu geben, mit Ihrem Klienten zu sprechen.


DR. THOMA: Danke. Ich habe noch eine Erklärung abzugeben. Es haben mir eine Reihe von Kollegen soeben erklärt, daß sie in derselben Lage sind wie ich, insbesondere Herr Dr. Sauter.


VORSITZENDER: Ich wollte zum Ausdruck bringen, daß alle Verteidiger die Gelegenheit haben sollen, sich mit ihren Klienten zu beraten. Doch möchte ich betonen, daß die Verteidiger mehrere Wochen Zeit hatten, sich auf den Prozeß vorzubereiten und daß sie damit rechnen mußten, daß die Bestimmungen des Artikels 24 des Statuts eingehalten werden müssen. Wir schalten nunmehr eine Pause von 15 Minuten ein, in der Sie alle sich mit Ihren Klienten beraten können.


DR. THOMA: Darf ich dazu etwas erklären, Herr Vorsitzender?


VORSITZENDER: Ja.


[112] DR. THOMA: Die Verteidigung hat erst vorgestern erfahren, welche Erklärungen auf die Frage schuldig oder nicht schuldig abzugeben sind. Die Frage ist dahin präzisiert worden: darf auf diese Frage nur erklärt werden »ja« oder »nein«.

Vorgestern sind wir darüber aufgeklärt worden, ob wir auf die Frage schuldig oder nicht schuldig nur erklären dürfen ja oder nein, oder ob eine weitere Erklärung, eine größere Erklärung, abgegeben werden darf. Über diese Frage wissen wir erst seit vorgestern Bescheid, hatten also keine Gelegenheit, längere Zeit mit den Angeklagten darüber zu sprechen.


VORSITZENDER: Einen Augenblick! Diese Frage will ich beantworten, indem ich Artikel 24 des Statuts zitiere, der in Kursivschrift gedruckt ist: »Der Gerichtshof fragt jeden Angeklagten, ob er sich schuldig oder nicht schuldig bekennt.« Danach haben Sie sich jetzt zu richten. Selbstverständlich werden die Angeklagten jede Möglichkeit haben, späterhin, wenn sie als Zeugen aufgerufen werden, selbst und durch ihre Verteidiger alles zu ihrer Verteidigung Notwendige vorzubringen.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Ich rufe nunmehr die Angeklagten auf, um sich zu erklären, ob sie sich im Sinne der Anklage als schuldig oder nicht schuldig bekennen. Sie mögen der Reihe nach vor das Mikrophon in der Anklagebank treten.

Hermann Wilhelm Göring!


HERMANN WILHELM GÖRING: Bevor ich die Frage des Hohen Gerichtshofs beantworte, ob ich mich schuldig oder nicht schuldig bekenne...


VORSITZENDER: Ich habe dem Gerichtshof bekanntgegeben, daß die Angeklagten nicht das Recht haben, eine Erklärung abzugeben. Sie müssen sich schuldig oder nicht schuldig bekennen.


GÖRING: Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig.


VORSITZENDER: Rudolf Heß!


RUDOLF HESS: Nein.


VORSITZENDER: Dies wird als nicht schuldig protokolliert.


[Gelächter.]


VORSITZENDER: Wer die Gerichtsverhandlung stört, hat den Gerichtssaal zu verlassen.

Joachim von Ribbentrop!


JOACHIM VON RIBBENTROP: Ich bekenne mich im Sinne der Anklage für nicht schuldig.


VORSITZENDER: Wilhelm Keitel!


WILHELM KEITEL: Ich bekenne mich nicht schuldig.


[113] VORSITZENDER: Das Verfahren gegen Ernst Kaltenbrunner wird in seiner Abwesenheit durchgeführt werden, doch wird er die Möglichkeit erhalten zu plädieren, wenn er sich soweit erholt hat, um in den Gerichtssaal zurückgebracht zu werden.

Alfred Rosenberg!


ALFRED ROSENBERG: Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht für schuldig.


VORSITZENDER: Hans Frank!


HANS FRANK: Ich bekenne mich nicht für schuldig.


VORSITZENDER: Wilhelm Frick!


WILHELM FRICK: Nicht schuldig.


VORSITZENDER: Julius Streicher!

JULIUS STREICHER: Nicht schuldig.


VORSITZENDER: Walter Funk!


WALTER FUNK: Ich bekenne mich nicht als schuldig.


VORSITZENDER: Hjalmar Schacht!


HJALMAR SCHACHT: Ich bin in keiner Weise schuldig.


VORSITZENDER: Karl Dönitz!


KARL DÖNITZ: Nicht schuldig.


VORSITZENDER: Erich Raeder!


ERICH RAEDER: Ich bekenne mich nicht schuldig.


VORSITZENDER: Baldur von Schirach!


BALDUR VON SCHIRACH: Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig.


VORSITZENDER: Fritz Sauckel!


FRITZ SAUCKEL: Ich bekenne mich im Sinne der Anklage, vor Gott und der Welt und vor allem vor meinem Volke nicht schuldig.


VORSITZENDER: Alfred Jodl!


ALFRED JODL: Nicht schuldig. Was ich getan habe und auch tun mußte, kann ich reinen Gewissens vor Gott, vor der Geschichte und meinem Volke verantworten.


VORSITZENDER: Franz von Papen!


FRANZ VON PAPEN: Keinesfalls schuldig.


VORSITZENDER: Arthur Seyss-Inquart!


ARTHUR SEYSS-INQUART: Ich bekenne mich nicht schuldig.


VORSITZENDER: Albert Speer!


ALBERT SPEER: Nicht schuldig.


VORSITZENDER: Constantin von Neurath!


CONSTANTIN VON NEURATH: Ich beantworte die Frage mit nein.


[114] VORSITZENDER: Hans Fritzsche!


HANS FRITZSCHE: Dieser Anklage gegenüber nicht schuldig.


[Hermann Göring erhebt sich von der Anklagebank und versucht, das Gericht anzureden.]


VORSITZENDER: Sie können jetzt nicht zum Gericht sprechen, außer durch Ihren Verteidiger. Ich wende mich nun an den Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten von Amerika:

JUSTICE JACKSON: Hoher Gerichtshof!

Der Vorzug, eine Gerichtsverhandlung über Verbrechen gegen den Frieden der Welt zu eröffnen, wie sie hier zum erstenmal in der Geschichte abgehalten wird, legt eine ernste Verantwortung auf. Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. Daß vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.

Dieser Gerichtshof, wenn er auch neuartig sein mag und ein Versuch, ist weder aus abstrakter Spekulation entstanden, noch wurde er geschaffen, um irgendwelche rechtswissenschaftlichen Theorien zu rechtfertigen. Mit dieser gerichtlichen Untersuchung wollen vielmehr vier der mächtigen Nationen, unterstützt von weiteren siebzehn Nationen, praktisch das Völkerrecht nutzbar machen, der größten Drohung unserer Zeit entgegenzutreten: dem Angriffskrieg. Die Vernunft der Menschheit verlangt, daß das Gesetz sich nicht genug sein läßt, geringfügige Verbrechen zu bestrafen, die sich kleine Leute zuschulden kommen lassen. Das Gesetz muß auch die Männer erreichen, die eine große Macht an sich reißen und sich ihrer mit Vorsatz und in gemeinsamem Ratschlag bedienen, um ein Unheil hervorzurufen, das kein Heim in der Welt unberührt läßt.

Es ist ein Fall von solcher Schwere, den die Vereinigten Nationen Ihnen, meine Herren Richter, jetzt unterbreiten.

Auf der Anklagebank sitzen einige zwanzig gebrochene Männer, von der Demütigung derer, die sie einmal geführt, fast ebenso bitter geschmäht wie von dem Elend derer, die sie angriffen. Die Möglichkeit, jemals wieder Unheil zu stiften, ist ihnen für immer genommen. Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten, wie sie hier als Gefangene vor uns sind, kaum die Macht vorstellen, mit der sie als Nazi-Führer einst einen großen Teil der Welt beherrscht und fast die ganze Welt in Schrecken gehalten haben.

[115] Als Einzelpersonen gilt der Welt ihr Schicksal wenig. Da die Angeklagten aber unheilvolle Gewalten vertreten, die noch lange in der Welt umherschleichen werden, wenn sie selbst schon zu Staub geworden sind, ist diese Verhandlung von solcher Wichtigkeit. Sie sind, wie wir zeigen werden, lebende Sinnbilder des Rassenhasses, der Herrschaft des Schreckens und der Gewalttätigkeit, der Vermessenheit und Grausamkeit der Macht. Sie sind Sinnbilder eines wilden Nationalismus und Militarismus und all jener ständigen Umtriebe und Kriegstreiberei, die Generationen auf Generationen Europa in Kriege verstrickt, seine Männer vernichtet, seine Heime zerstört und sein Leben arm gemacht haben. Sie haben sich so sehr mit den von ihnen erfundenen Lehren und den von ihnen gelenkten Gewalten gleichgesetzt, daß jede Weichheit ihnen gegenüber gleichbedeutend wäre mit einer triumphierenden Aufmunterung zu all den Schandtaten, die mit ihren Namen verbunden sind. Die Zivilisation kann keine Nachsicht zeigen für diese Kräfte der menschlichen Gesellschaft; sie gewönnen nur von neuem Macht, wenn wir mit den Männern, in denen diese Gewalten lauernd und unsicher noch am Leben sind, zweideutig oder unentschieden verführen.

Wir werden Ihnen geduldig und mit Mäßigung enthüllen, für welche Dinge diese Männer einzustehen haben. Wir werden Ihnen unwiderlegbare Beweise für unglaubliche Vorfälle unterbreiten. In der Liste der Verbrechen wird nichts fehlen, was krankhafte Überhebung, Grausamkeit und Machtlust nur ersinnen konnten. Diese Männer errichteten in Deutschland unter dem »Führerprinzip« eine nationalsozialistische Gewaltherrschaft, der nur die Dynastien der östlichen Antike gleichkommen. Sie nahmen dem deutschen Volk all jene Würde und Freiheiten, die wir als natürliche und unveräußerliche Rechte jedes Menschen erachten. Statt dessen weckten sie im Volke hitzige und billig zu stillende Haßgefühle gegen jene, die als »Sündenböcke« gekennzeichnet wurden. Ihre Widersacher, unter denen Juden, Katholiken und die freie Arbeiterschaft waren, bekämpften die Nazis mit einer Dreistigkeit, einer Grausamkeit und einem Vernichtungswillen, wie die Welt seit den vorchristlichen Zeiten dergleichen nicht mehr gesehen hat. Sie stachelten den deutschen Ehrgeiz auf, sich als eine »Herrenrasse« zu fühlen, was natürlich Sklaventum für die anderen bedeutete. Sie trieben ihr Volk in ein wahnwitziges Spiel um die Herrschaft. Sie boten die sozialen Kräfte und Mittel auf, um eine Kriegsmaschine zu schaffen, die sie für unbesiegbar hielten. Sie überrannten ihre Nachbarn. Damit die »Herrenrasse« den von ihr angezettelten Krieg durchstehen könne, versklavten sie Millionen von Menschen und brachten sie nach Deutschland, wo diese Unglücklichen heute als Verschleppte umherirren. Schließlich aber wurden Bestialität und Treulosigkeit so schlimm, daß sie die schlummernde Kraft der gefährdeten [116] Zivilisation wachrüttelten. Ihre vereinte Anstrengung hat die deutsche Kriegsmaschine in Stücke geschlagen. Der Kampf jedoch hat ein Europa hinterlassen, das zwar befreit ist, aber entkräftet am Boden liegt, und in dem eine zerrüttete Gesellschaft um ihr Leben ringt.

Solches sind die Früchte der finsteren Mächte, die gemeinsam mit diesen Angeklagten hier auf der Anklagebank vor uns sitzen.

Es ist wohl nur recht und billig gegenüber den Völkern und den Männern, die an der Aufstellung und Ausarbeitung dieser Anklage beteiligt sind, wenn ich Sie, meine Herren Richter, auf gewisse Schwierigkeiten und Mängel hinweise, die dem Verfahren anhaften mögen.

Niemals zuvor in der Geschichte des Rechts hat man versucht, in einem einzigen Prozeß die Entwicklung eines Jahrzehnts zu behandeln, eine Entwicklung, die einen ganzen Erdteil, eine Reihe von Staaten und unzählige Einzelpersonen und Ereignisse umfaßt. Obwohl ein solches unternehmen eine schwere Aufgabe stellt, hat die Welt verlangt, daß sofort gehandelt werde. Dieser Forderung mußte entsprochen werden, wenn vielleicht auch auf Kosten handwerklicher Vollkommenheit.

In meinem Lande eröffnen die Gerichte, die dort vertrauten Regeln folgen, sich auf wohlbekannte Entscheidungen stützen und die rechtlichen Folgen örtlich übersehbarer und begrenzter Ereignisse untersuchen, einen Prozeß selten vor Ablauf eines Jahres. Der Gerichtssaal nun, in dem Sie sich jetzt befinden, war vor noch nicht acht Monaten eine feindliche Festung in der Hand deutscher SS-Truppen. Vor noch nicht acht Monaten waren fast alle unsere Zeugen und Akten in Feindeshand. Es gab noch keine gesetzliche Grundlage für dieses Verfahren, eine Prozeßordnung war noch nicht vorhanden, ein Gerichtshof noch nicht errichtet. Das Gebäude hier war noch nicht benutzbar, kein einziges der amtlichen deutschen Schriftstücke, Hunderte von Tonnen, gesichtet. Die Vertreter der Anklage waren noch nicht versammelt, fast alle der jetzigen Angeklagten in Freiheit, und die vier anklagenden Mächte hatten sich noch nicht zusammengefunden, über sie zu Gericht zu sitzen.

Ich bin daher gewiß der letzte, der leugnen wollte, daß dieser Prozeß an einer unvollständigen Durchforschung des Materials leiden und vielleicht nicht das Musterbeispiel beruflicher Arbeit sein mag, das jede der anklagenden Nationen nach ihrem Brauch gern vorlegen würde. Die Last des Ergründeten reicht jedoch völlig aus, das Urteil zu fällen, das wir beantragen werden; alles übrige müssen wir der Geschichtschreibung überlassen.

Bevor ich auf die Einzelheiten des Tatbestandes eingehe, müssen noch einige allgemeine Überlegungen freimütig erwogen werden, die das Ansehen des Prozesses in der Meinung der Welt beeinflussen könnten.

[117] Ankläger und Angeklagter sind in einer sichtlich ungleichen Lage zueinander. Das könnte unsere Arbeit herabsetzen, wenn wir nicht bereit wären, selbst in unbedeutenden Dingen gerecht und gemäßigt zu sein.

Leider bedingt die Art der hier verhandelten Verbrechen, daß in Anklage und Urteil siegreiche Nationen übergeschlagene Feinde zu Gericht sitzen. Die von diesen Männern verübten Angriffe, die eine ganze Welt umfaßten, haben nur wenige wirklich Neutrale hinterlassen. Entweder müssen also die Sieger die Geschlagenen richten, oder sie müssen es den Besiegten überlassen, selbst Recht zu sprechen. Nach dem ersten Weltkrieg haben wir erlebt, wie müßig das letztere Verfahren ist.

Wenn man die einstmals hohe Stellung der Angeklagten bedenkt, wenn man bedenkt, wie offenkundig ihre Handlungen waren, und wie ihr ganzes Verhalten nach Vergeltung ruft, dann fällt es schwer, das Verlangen nach einer gerechten und maßvoll bedachten Wiedergutmachung zu scheiden von dem unbekümmerten Schrei nach Rache, der sich aus der Qual des Krieges erhebt. Unsere Aufgabe ist es jedoch, soweit das menschenmöglich ist, das eine streng abzugrenzen gegen das andere. Denn wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, daß dieser Prozeß einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.

Gleich zu Beginn wollen wir die Behauptung zurückweisen, daß man diesen Männern, indem man sie vor Gericht stelle, ein Unrecht zufüge, das ihnen Anspruch auf ein besonderes Mitgefühl gäbe. Wohl mögen die Angeklagten in einiger Bedrängnis sein, aber sie werden nicht mißbraucht. Denn welche andere Möglichkeit hätten sie als diesen Prozeß?

Der größere Teil der Angeklagten hat sich den Streitkräften der Vereinigten Staaten ergeben oder ist von ihnen aufgestöbert worden. Haben sie von uns erwarten können, daß der Gewahrsam in amerikanischer Hand für unsere Feinde eine Zuflucht würde vor dem gerechten Zorn unserer Verbündeten? Haben wir amerikanische Menschenleben geopfert, sie gefangenzunehmen, nur damit sie vor der Bestrafung bewahrt blieben? Die Moskauer Erklärung verlangt, daß alle, die unter dem Verdacht von Kriegsverbrechen stehen und nicht international abgeurteilt werden, an die einzelnen Regierungen auszuliefern sind, damit sie am Ort der von ihnen begangenen Freveltaten vor ein Gericht gestellt werden können. Wir [118] haben bereits viele Gefangene – und sie trugen geringere Verantwortung und geringere Schuld – aus amerikanischer Obhut an andere Mitglieder der Vereinten Nationen zur Aburteilung übergeben und werden das fortsetzen. Wenn es den Angeklagten hier aus irgendeinem Grund gelingen sollte, der Verurteilung dieses Gerichts zu entgehen, oder wenn sie den Prozeß hindern oder vereiteln, werden sie, soweit sie in amerikanischem Gewahrsam sind, unseren europäischen Verbündeten ausgeliefert werden.

Wir haben jedoch für die Angeklagten einen Internationalen Gerichtshof geschaffen und haben die Bürde auf uns genommen, uns an einem verwickelten Verfahren zu beteiligen, um ihnen ein gerechtes und leidenschaftsloses Verhör zu gewähren. Ein besserer Schutz kann, soviel wir wissen, keinem Menschen gegeben werden, dessen Verteidigung wert ist, angehört zu werden. Sind diese Männer die ersten, die als Kriegsführer einer besiegten Nation sich vor dem Gesetz zu verantworten haben, so sind sie auch die ersten, denen Gelegenheit gegeben wird, im Namen des Rechts ihr Leben zu verteidigen.

Nüchtern betrachtet, ist das Statut dieses Gerichtshofs, der ihnen Gehör schenkt, gleichzeitig der Quell ihrer einzigen Hoffnung. Es mag sein, daß diese Männer mit gequältem Gewissen, die nur den Wunsch haben, die Welt möge sie vergessen, eine solche Verhandlung nicht als eine Gunst ansehen. Sie haben aber hier unleugbar eine würdige Möglichkeit, sich zu verteidigen, – eine Gunst, die sie selbst, als sie die Macht hatten, ihren eigenen Landsleuten selten gewährt haben. Mag auch die öffentliche Meinung ihre Taten bereits verdammen, so glauben wir dennoch, daß ihnen hier an dieser Stelle die Annahme ihrer Schuldlosigkeit zugebilligt werden müsse. Wir nehmen daher die Last auf uns, zu beweisen, daß verbrecherische Taten unter der Verantwortung der Angeklagten begangen worden sind.

Wenn ich sage, daß wir einen Schuldspruch nur für erwiesene Verbrechen verlangen, meine ich nicht eine bloße äußere oder zufällige Verletzung internationaler Abkommen. Wir erheben Anklage wegen eines Verhaltens, das nach Plan und Absicht im moralischen und im rechtlichen Sinne Unrecht bedeutet. Und wir meinen damit nicht, daß die Angeklagten es nach Menschenart nicht immer mit allen Satzungen so genau genommen haben mögen, wie vielleicht viele von uns, wären wir in ihrer Lage gewesen, es nicht anders getan hätten. Nein, nicht weil sie gewöhnlichen menschlichen Schwächen unterlegen sind, klagen wir sie an. Ihr ungewöhnliches und unmenschliches Verhalten bringt sie vor diese Schranken.

[119] Wir werden Sie, meine Herren Richter, nicht auffordern, sich Ihr Urteil über diese Männer nach dem Zeugnis ihrer Feinde zu bilden. Die Anklageschrift enthält nicht einen Punkt, der nicht durch Bücher und Aufzeichnungen belegt werden kann. Die Deutschen waren von jeher peinlich genau in ihren Aktenaufzeichnungen, und die Angeklagten teilten durchaus die teutonische Leidenschaft für Gründlichkeit, Dinge zu Papier zu bringen. Auch waren sie nicht ohne Eitelkeit, und deshalb häufig darauf bedacht, daß das Bild ihr Tun bezeuge. Wir werden Ihnen ihre eigenen Filme zeigen. Sie werden ihr eigenes Gehaben beobachten und ihre eigene Stimme hören, wenn die Angeklagten Ihnen von der Leinwand her noch einmal einige Ereignisse aus dem Verlauf der Verschwörung vorführen werden.

Wir möchten ebenfalls klarstellen, daß wir nicht beabsichtigen, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen. Wir wissen, daß die Nazi-Partei bei der Wahl nicht mit Stimmenmehrheit an die Macht gelangt ist. Wir wissen, daß ein unseliges Bündnis sie an die Macht gebracht hat, ein Bündnis, zu dem sich die Besessenen des wütenten Umsturzwillens unter den Nazi-Revolutionären mit der Hemmungslosigkeit unter den deutschen Reaktionären und der Angriffslust unter den deutschen Militaristen zusammengetan hatten. Wenn die breite Masse des deutschen Volkes das nationalsozialistische Parteiprogramm willig an genommen hätte, wäre in den früheren Zeiten der Partei die SA nicht nötig gewesen, und man hätte auch keine Konzentrationslager und keine Gestapo gebraucht, beides Einrichtungen, die sofort geschaffen wurden, nachdem die Nazis sich des Staates bemächtigt hatten. Erst nachdem sich diese Neuerungen, aller gesetzlichen Bindung ledig, im Innern als erfolgreich erwiesen hatten, wurden sie auch ins Ausland übertragen.

Das deutsche Volk sollte inzwischen erfahren haben, daß das amerikanische Volk ihm ohne Furcht und ohne Haß gegenübersteht. Es ist richtig, daß die Deutschen uns die Schrecken der modernen Kriegführung erst gelehrt haben; aber die Verwüstung vom Rhein bis zur Donau zeigt, daß wir – gleich unseren Verbündeten – nicht ungelehrige Schüler gewesen sind. Wenn uns daher auch die Tapferkeit und die Tüchtigkeit der Deutschen im Kriege nicht in Schrecken versetzen konnten, und wenn wir auch von ihrer politischen Reife nicht überzeugt sind, so haben wir doch Achtung vor ihrer Geschicklichkeit in den Künsten des Friedens, vor ihren technischen Fähigkeiten und vor dem nüchternen Fleiß und der Selbstzucht der Massen des deutschen Volkes.

Im Jahre 1933 sahen wir das deutsche Volk nach dem Rückschlag des letzten Krieges sein Ansehen in Handel, Industrie und Kunst [120] zurückgewinnen. Wir beobachten sein Vorankommen ohne Mißgunst oder Arglist. Das Nazi-Regime hat diesen Aufstieg unterbrochen. Sein Angriff ist zurückgeprallt, und Deutschland liegt in Trümmern. Die Bereitwilligkeit der Nazis, das deutsche Wort ohne Zögern zu verpfänden und es ohne Scham zu brechen, hat die deutsche Diplomatie in einen Ruf der Doppelzüngigkeit gebracht, der ihr auf Jahre hinderlich sein wird. Die Prahlerei mit der »Herrenrasse« ist durch den Dünkel und die Hoffart der Nazis zu einem Hohn geworden, der den Deutschen noch in künftigen Geschlechtern überall in der Welt begegnen wird. Der Alpdruck der Nazi-Zeit hat dem deutschen Namen in der ganzen Welt einen neuen und düsteren Sinn gegeben, der Deutschland um ein Jahrhundert zurückwerfen wird.

Wahrlich, die Deutschen – nicht weniger als die Welt draußen – haben mit den Angeklagten eine Rechnung zu begleichen.

Die Tatsache des Krieges und sein Verlauf, die den Hauptgegenstand unseres Prozesses bilden, sind Geschichte.

Vom 1. September 1939, als die deutschen Armeen die polnische Grenze überschritten, bis zum September 1942, als sie auf den heldenhaften Widerstand bei Stalingrad stießen, schienen die deutschen Waffen unbesiegbar zu sein. Dänemark und Norwegen, Holland und Frankreich, Belgien und Luxemburg, der Balkan und Afrika, Polen, die Baltischen Staaten und Teile Rußlands, sie alle waren mit schnellen, mächtigen und wohlgezielten Schlägen überrumpelt und erobert worden. Dieser Anschlag auf den Frieden der Welt ist das Verbrechen gegen die Gemeinschaft der Völker. Sie unterbreiten daher auch der internationalen Gerichtsbarkeit alle Verbrechen der Beihilfe und Vorbereitung zu diesem Anschlag, die sonst vielleicht nur als innere Angelegenheit angesehen würden. Es war ein Angriffskrieg, und ihn gerade hatten die Völker der Welt geächtet. Es war ein Krieg unter Bruch von Verträgen, die den Frieden der Welt hatten sichern sollen.

Dieser Krieg kam nicht von ungefähr; er wurde über eine lange Zeitspanne mit nicht wenig Geschick und List geplant und vorbereitet. Die Welt hat vielleicht noch niemals ein solches Zusammentreffen und Aufpeitschen der Kräfte und Leistungen eines Volkes gesehen. Deutschland, das zwanzig Jahre zuvor niedergeworfen, entwaffnet und verstümmelt worden war, ist denn ja auch der Verwirklichung seines Planes, Europa zu beherrschen, so nahe gekommen. Was man auch sonst über die Urheber dieses Krieges sagen mag, an Kraft der Organisation haben sie gewiß Erstaunliches geleistet.

Zuerst müssen wir daher untersuchen, wie die Angeklagten und ihre Mitverschworenen Deutschland zum Kriege vorbereitet und angetrieben haben.

[121] Ganz allgemein gesehen, wird unsere Beweisführung ergeben, daß sich die Angeklagten alle zu irgendeiner Zeit gemeinsam mit der Nazi-Partei zu einem Plan zusammengetan hatten, von dem sie wohl wußten, daß er nur durch den Ausbruch eines Krieges in Europa verwirklicht werden konnte. Als sie sich des deutschen Staates bemächtigten, das deutsche Volk unterjochten, eine Schreckensherrschaft errichteten und die Andersdenkenden ausrotteten, als sie den Krieg planten und begannen, als sie ihn mit bewußter Unbarmherzigkeit führten und mit den besiegten Völkern nach dem Vorsatz ihres Verbrechens verfuhren, – immer handelten sie gemeinsam. Und alles in seinen einzelnen Stufen gehört zu ihrer Verschwörung, einer Verschwörung, die sich, kaum daß eine Sache erreicht war, sofort ein neues Ziel von noch größerem Ehrgeiz setzte: Wir werden vor Ihnen auch das verwickelte Gewebe von Organisationen aufdecken, die diese Männer schufen und benutzten, um ihre Ziele zu erreichen. Wir werden beweisen, wie alle diese Ämter und Amtsträger sich zu verbrecherischen Zwecken verbrecherischer Mittel bedienen sollten, ersonnen von den Angeklagten und ihren Mitverschwörern, von denen das Kriegsschicksal oder die eigene Hand viele unserem Zugriff entzogen haben.

Ich möchte die Beweisführung-besonders zu Punkt Eins der Anklageschrift – eröffnen und mich mit dem gemeinsamen Plan oder der Verschwörung beschäftigen, deren Ziele nur durch Verbrechen gegen den Frieden, durch Kriegsverbrechen und durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreichbar waren. Ich werde dabei das Hauptgewicht nicht auf einzelne rohe oder entartete Ausschreitungen legen, die sich unabhängig von einem gemeinsamen Plan zugetragen haben mögen. Denn der Prozeß soll nicht durch umständliche Einzelheiten besonderer Untaten in die Länge gezogen werden, so daß wir uns in einem »Dickicht von Einzelfällen« verlören. Ich werde daher auch die persönliche Tätigkeit der Angeklagten nur dann berühren, wenn dadurch etwa der gemeinsame Plan um so sichtbarer würde.

Die Anklage, die von den Vereinigten Staaten vorgetragen wird, gilt denen, die all diese Verbrechen erdacht und angeordnet haben. Diese Angeklagten waren Männer von Rang und Stand. Sie haben ihre Hände nicht mit Blut besudelt, sondern es verstanden, sich kleinere Leute als Werkzeuge zu verschaffen. Wir aber wollen die treffen, die, zu allen Ränken bereit, am Plan gearbeitet haben, die Anstifter und Rädelsführer, ohne deren böses Treiben die Welt nicht so lange Zeit unter der Geißel von Gewalttat und Rechtlosigkeit und in der Qual wühlender Schmerzen gelitten hätte in diesem furchtbaren Krieg.


Der gesetzlose Weg zur Macht.

[122] Zunächst wünsche ich den gesetzlosen Weg zu beschreiben, den diese Männer einschlugen, um die Gewalt in ihre Hände zu bekommen, die sie später so benützten.

Plan und Handlung waren begründet und verwachsen in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, in der sogenannten Nazi-Partei. Einige der Angeklagten gehörten ihr seit der Gründung an, andere traten ihr erst bei, als der Erfolg sie vor dem Gesetz bestätigt oder die Macht sie vor dem Zugriff des Gesetzes geschützt hatte. Im Jahre 1921 wurde Adolf Hitler ihr oberster Leiter oder »Führer«.

Am 24. Februar 1920 hatte die Partei in München öffentlich ihr Programm verkündet (1708-PS).

Einige ihrer Ziele würden wohl vielen guten Staatsbürgern einleuchten, etwa die Forderung einer »Gewinnbeteiligung an Großbetrieben«, eines »großzügigen Ausbaus der Altersversorgung«, der »Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seiner Erhaltung«, einer »unseren nationalen Bedürfnissen angepaßten Bodenreform«, und einer »Hebung der Volksgesundheit«. Sie beschwor auch eindringlich jene Art von Nationalismus, die jeder bei sich selbst als Vaterlandsliebe, beim Gegner als Chauvinismus empfindet. Sie forderte »die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen, Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und Saint Germain«. Sie forderte den »Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu einem Großdeutschland«. Sie forderte »Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses«. Natürlich waren das alles Ziele, die rechtlich unantastbar waren, solange sie ohne einen Angriffskrieg erreicht werden sollten.

Die Nazi-Partei sann jedoch von allem Anfang an auf Krieg. In ihrer Münchener Deklaration von 1920 forderte sie »die Abschaffung der Söldnertruppe und die Bildung eines Volksheeres«. Sie verkündete:

»Im Hinblick auf die ungeheuren Opfer an Gut und Blut, die jeder Krieg vom Volke fordert, muß die persönliche Bereicherung durch den Krieg als Verbrechen am Volke bezeichnet werden. Wir fordern daher restlose Einziehung aller Kriegsgewinne.«

Ich kritisiere diese Politik nicht, ich wünschte, sie wäre allgemein anerkannt. Ich möchte nur feststellen, daß in Friedenszeiten, im Jahre 1920, die Partei sich hauptsächlich mit dem Krieg beschäftigte und damit begann, der Masse des Volkes den Gedanken an einen Krieg als weniger arg oder anstößig erscheinen zu lassen. Gleichzeitig [123] befürwortete sie die körperliche Ertüchtigung und Förderung des Sports unter der Jugend, aber es wird sich zeigen, daß sich dahinter ein geheimer Plan militärischer Ausbildung verbarg.

Das Programm der Nazi-Partei verpflichtete die Mitglieder auch zu judenfeindlichen Forderungen. Es erklärte, ein Jude oder eine Person nichtdeutschen Blutes könne nicht Volksgenosse sein. Solchen Personen solle das Staatsbürgerrecht aberkannt werden, sie sollten kein öffentliches Amt bekleiden dürfen, sollten unter Fremdengesetzgebung stehen und ein Anrecht auf eine Erwerbs- und Lebensmöglichkeit erst nach den Staatsbürgern haben. Alle, die nach dem 2. August 1914 nach Deutschland eingewandert seien, sollten sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden, und jede weitere Einwanderung Nichtdeutscher solle verboten werden.

Die Partei bekannte sich schon damals zu dem Grundgedanken eines autoritären und totalitären Programms für Deutschland. Sie verlangte die Schaffung einer starken Zentralgewalt mit unbedingter Autorität, die Verstaatlichung aller bereits »amalgamierten« Betriebe und einen »Ausbau« des gesamten Volksbildungswesens, wobei »das Erfassen des Staatsgedankens bereits mit Beginn des Verständnisses durch die Schule (Staatsbürgerkunde) erzielt werden muß«. Sie verkündete ihre feindselige Mißachtung staatsbürgerlicher Freiheiten und der Pressefreiheit ausdrücklich mit folgenden Worten:

»Zeitungen, die gegen das Gemeinwohl verstoßen, sind zu verbieten. Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen eine Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluß auf unser nationales Leben ausübt, und die Schließung von Veranstaltungen, die gegen vorstehende Forderungen verstoßen.«

Die Ankündigung religiöser Verfolgung war in die Sprache religiöser Freiheit gekleidet. Das Nazi-Programm erklärte:

»Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat«, aber es folgte die Einschränkung: »soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen.«

Das Parteiprogramm warf auch die Schatten künftigen Schreckens voraus. Es verkündete:

»Wir fordern den rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemeininteresse schädigen«,

und verlangte, daß darauf die Todesstrafe gesetzt werde.

Es ist bezeichnend, daß die Führer der Partei dieses Programm als eine Kampfansage betrachteten, die bestimmt einen Zusammenstoß beschleunigen werde. Seine Schlußformel lautete: »Die Führer versprechen, wenn nötig unter Einsatz ihres eigenen Lebens, für die [124] Durchführung der vorstehenden Punkte rücksichtslos einzutreten.« Dieses Führerkorps der Partei-nicht ihre sämtlichen Mitglieder- steht als eine verbrecherische Organisation unter Anklage.

Wie haben nun die Führer der Partei ihr Versprechen eingelöst, rücksichtslos für ihr Programm einzutreten?

Die Ziele ihrer Außenpolitik, internationale Verträge aufzukündigen und fremde Gebietsteile unter ihre Hoheit zu bringen, waren wie die meisten Punkte ihres innerpolitischen Programms offensichtlich nur zu verwirklichen, wenn sie über die deutsche Staatsgewalt verfügen konnten. Sie versuchten daher zunächst, die Weimarer Republik durch eine Revolution gewaltsam zu stürzen. Ein Putsch in München im Jahre 1923 mißglückte und brachte viele von ihnen ins Gefängnis. In der Zeit des Nachgrübelns, die darauf folgte, entstand das Buch »Mein Kampf«, aus dem nun fortan die Anhänger der Partei ihren Glauben und der Führer der Partei beträchtliche Einnahmen schöpften. Der ursprüngliche Plan der Nazis, die schwache Republik mit Gewalt zu beseitigen, wandelte sich; sie sollte jetzt von innen erobert werden.

Es wäre ein grober Irrtum, sich unter der Nazi-Partei eine jener Vereinigungen freien Zusammenschlusses vorzustellen, die wir in den westlichen Demokratien »politische Parteien« nennen. Nach ihrer Disziplin, ihrer Struktur und ihrer Methode war die Nazi-Partei nicht für den demokratischen Prozeß der Überredung geeignet. Sie war ein Instrument der Verschwörung und des Zwanges. Sie wurde nicht gebildet, um die Unterstützung der Mehrheit des deutschen Volkes zu erringen und darauf die Macht im Deutschen Reiche zu übernehmen. Sie wurde gebildet, um die Macht gegen den Willen des Volkes an sich zu reißen.

Die Nazi-Partei wurde durch das »Führerprinzip« in eiserner Disziplin zusammengehalten. Sie glich einer Pyramide, deren Spitze Adolf Hitler war, eine Spitze, die sich in zahlreiche Führerkorps verbreitete, zusammengesetzt aus Führern einer sehr ausgebreiteten Parteimitgliedschaft als Basis. Dabei waren durchaus nicht alle, die in einer oder der anderen Form die Bewegung unterstützt haben mögen, tatsächlich Mitglieder der Partei. Die Mitgliedschaft erforderte den Parteieid, einen Treueschwur, der einem Verzicht auf eigenes Denken oder das Gefühl moralischer Verantwortlichkeit gleichkam. Er lautet: »Ich gelobe meinem Führer Adolf Hitler Treue. Ich verspreche, ihm und den Führern, die er mir bestimmt, jederzeit Achtung und Gehorsam entgegenzubringen.« In ihrem täglichen Leben trieben die Anhänger mit ihren Führern einen Götzendienst und folgten ihnen mit einer Selbstaufgabe, wie sie eher orientalisch als abendländisch anmutet.

Über die inneren Triebkräfte oder das Ziel der Nazi-Partei sind wir nicht auf Mutmaßungen angewiesen. Zunächst wollte sie die [125] Weimarer Republik untergraben. Der Befehl an alle Parteimitglieder, darauf hinzuarbeiten, wurde in einem Brief Hitlers an den Angeklagten Rosenberg vom 24. August 1931 gegeben; wir wollen ihn im Original vorlegen. Hitler schrieb:

»Ich lese gerade im Völkischen Beobachter, Ausgabe 235/236 auf Seite 1 einen Artikel, der die Überschrift trägt ›Will Wirth überlaufen?‹ Die Tendenz des Artikels geht dahin, zu unserem Teil einen Zerfall der gegenwärtigen Regierung zu verhüten. Ich selbst reise in ganz Deutschland herum, um genau das Gegenteil zu erzielen. Deshalb möchte ich bitten, daß meine eigene Zeitung mir nicht mit einem taktisch unklugen Artikel einen Dolchstoß in den Rücken versetzt...« (047-PS).

In einem erbeuteten Filmstreifen wird Ihnen der Angeklagte Alfred Rosenberg von der Leinwand her die Geschichte selbst erzählen. Die SA störte gewaltsam den Wahlkampf, und in Berichten des SD, die uns vorliegen, wird im einzelnen geschildert, wie später die Angehörigen des Sicherheitsdienstes das Wahlgeheimnis verletzten, um die Gegner aufzuspüren. Einer der Berichte enthält die folgende Erklärung:

»... Die Kontrolle wurde derart durchgeführt, daß einige Personen des Wahlausschusses vorher sämtliche Stimmzettel mit Nummern versehen haben. Bei der Wahl selbst wurde dann eine Liste geführt. Da die Scheine den Nummern folgend ausgegeben wurden, war es nachher an Hand der geführten Liste möglich, die Personen herauszufinden, die eine ungültige oder Nein-Stimme abgegeben hatten.. Ein Exemplar dieser gezeichneten Scheine ist beigefügt. Die Kenntlichmachung erfolgte mit Hilfe entrahmter Milch auf der Rückseite....«

Das Auftreten der Partei kam allmählich, neben den allgemein üblichen Erscheinungsformen politischer Auseinandersetzung, einer Probe für den Kriegsfall gleich. Benutzt wurde dazu eine Gliederung der Partei, die »Sturmabteilungen«, gewöhnlich SA genannt. Dies war eine freiwillige Organisation jugendlicher und fanatischer Nazis, die in der Gewaltanwendung unter einer halbmilitärischen Disziplin ausgebildet wurden. Ihre Mitglieder waren ursprünglich zum persönlichen Schutz der Nazi-Führer bestimmt, entwickelten sich aber sehr bald von einem Verteidigungs-zu einem Angriffstrupp. Sie sprengten als ein geübter Haufen von Raufbolden Versammlungen der anderen Parteien und terrorisierten ihre Gegner.

Sie brüsteten sich damit, daß es ihre Aufgabe sei, die Nazi-Partei zum »Herrn der Straße« zu machen.

Aus der SA ging eine Reihe anderer Organisationen hervor. Dazu gehören die »Schutzstaffeln«, gewöhnlich SS genannt, die im [126] Jahre 1925 aufgestellt wurden und sich durch die Bedenkenlosigkeit und Grausamkeit ihrer Mitglieder auszeichneten; ferner der »Sicherheitsdienst«, gewöhnlich SD genannt, und die »Geheime Staatspolizei«, die berüchtigte Gestapo, die im Jahre 1934 nach dem Aufstieg der Nazis zur Macht gegründet wurde.

Ein Blick auf eine Karte der Nazi-Organisation genügt, um zu zeigen, wie vollkommen sie sich von politischen Parteien unterschied, wie wir sie kennen. Ihr Gesetzgeber war der Führer mit seinen Unterführern. Sie hatte eigene Gerichte und eine eigene Polizei. Die Verschwörer errichteten in der Partei ihre eigene Hoheit und konnten so – außerhalb des Gesetzes – Anordnungen erlassen oder Strafen verhängen, wie sonst nur der rechtmäßige Staat, und in vielen Fällen nicht einmal er. Die Befehlsgewalt in der Partei war militärisch aufgebaut. Ihre Gliederungen waren soldatisch nach Namen und Aufgabe; so die Stürme, in denen Waffenausbildung getrieben wurde, das Kraftfahrkorps, das Fliegerkorps und die berüchtigten »Totenkopf verbände«, die ihren Namen nicht zu unrecht trugen.

Die Partei hatte eine eigene Geheimpolizei, eigene Schutzabteilungen, hatte einen Nachrichtendienst und einen Abwehrdienst, hatte ihre Rollkommandos und ihre Jugendgliederungen. Sie errichtete einen sorgfältig ausgearbeiteten Verwaltungsapparat, um Spione und Spitzel ausfindig zu machen und zu beseitigen, Konzentrationslager einzurichten, Todeswagen arbeiten zu lassen, oder Gelder für die Bewegung aufzubringen. Durch dieses planmäßig ausgelegte Netz hat die Nazi-Partei, wie sich ihre Führer später rühmten, allmählich mit ihrer Aufsicht jede Einzelheit und jeden Winkel des deutschen Lebens beherrscht. Vorangegangen aber war ein bitterer innerer Kampf, gekennzeichnet durch Brutalität und Verbrechen, die wir hier anklagen. Um ihn vorzubereiten, hatte sich die Partei eine eigene Polizeiorganisation geschaffen. Sie wurde das Muster und das Werkzeug des Polizeistaates, der das erste Ziel in dem Gesamtplan war.

Die Gliederungen der Partei, unter ihnen das Korps der Politischen Leiter, der SD, die SS, die SA und die berüchtigte Gestapo, – sie alle werden vor Ihnen, meine Herren Richter, als verbrecherische Organisationen angeklagt. In ihnen hatten sich, wie wir aus ihren eigenen Dokumenten beweisen werden, nur bedenkenlos ergebene Nazis zusammengefunden, die aus Überzeugung und Veranlagung zu den größten Gewalttaten bereit waren, um das gemeinsame Programm zu fördern. Sie knüttelten jeden demokratischen Widerstand nieder und brachten ihre Gegner zum Schweigen. Am Ende glückte ihnen dann das Bündnis mit Opportunisten, Militaristen, Industriellen, Monarchisten und politischen Reaktionären.

[127] Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Kanzler der deutschen Republik ernannt. Einer schlimmen Brüderschaft – ihre hervorragendsten Glieder, soweit sie am Leben sind, sitzen hier auf der Anklagebank – war es gelungen, sich des Staates zu bemächtigen. Hinter dem Schutz des neuen Hauses, in das sie eingezogen waren, gingen sie nun daran, den Eroberungskrieg, den sie sich heimlich schon seit langer Zeit in ihren Plänen zurechtgelegt hatten, in Szene zu setzen.

Der zweite Abschnitt der Verschwörung hatte begonnen.


Die Befestigung der Nazi-Macht.

Wir wollen nun untersuchen, wie die Verschwörer, Schritt für Schritt und unter scheußlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ihre Macht im Staate ausbauten; um Deutschland für den Angriffskrieg bereit zu machen, der nicht zu umgehen war, wollten sie ihre Ziele erreichen.

Die Deutschen der zwanziger Jahre waren ein durch Niederlage und Zerfall ihrer überlieferten politischen Anschauungen enttäuschtes und verwirrtes Volk. Die demokratischen Teile dieses Volkes, die an der Entwicklung des neuerrichteten und schwächlichen Staatsgebildes der Weimarer Republik arbeiteten, wurden von den demokratischen Kräften der übrigen Welt, einschließlich meines eigenen Landes, nur unzureichend unterstützt. Man kann nicht leugnen, daß Deutschland, als eine allgemeine Krise in der Welt seine Schwierigkeiten noch vermehrte, sich in seinem wirtschaftlichen und politischen Leben einem so starken und verworrenen Druck ausgesetzt sah, daß kühne Maßnahmen notwendig waren.

Nun ist es gewiß jedem Volk freigestellt, seine inneren Fragen nach eigenem Ermessen zu lösen. Das Programm der Nazis war aber sofort als ein Verzweiflungsruf zu erkennen, bestimmt für ein Volk, das noch unter den Wirkungen eines verlorenen Krieges litt. Die Ziele der von den Nazis verkündeten Politik waren offensichtlich in Europa nur erreichbar, wenn der Krieg von neuem ausbrach und erfolgreicher endete. Denn die Antwort der Verschwörer auf die deutschen Fragen war der Plan, die im ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zurückzugewinnen und andere fruchtbare Landstriche Mitteleuropas durch Enteignung oder Ausrottung ihrer Einwohner zu erwerben. Sie erwogen auch, alle anderen Nachbarvölker zu vernichten oder dauernd zu schwächen, um die eigentliche Herrschaft über Europa und wahrscheinlich die Welt zu erlangen. Die genauen Grenzen ihres Ehrgeizes brauchen wir nicht zu umschreiben, denn ein Angriffskrieg war und ist gegen Vertrag [128] und Gesetz; gleichgültig ob es um einen großen oder einen kleinen Einsatz geht.

Es gab nun damals zwei Regierungen in Deutschland, – die wirkliche und die scheinbare. Die Formen der deutschen Republik wurden eine Zeitlang aufrechterhalten; sie war die nach außen sichtbare Regierung. Aber die wirkliche Macht im Staate war außer und über dem Gesetz, sie ruhte im Führerkorps der Nazi-Partei.

Am 27. Februar 1933, kaum einen Monat nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, wurde das Reichstagsgebäude in Brand gesetzt. Daß dieses Symbol einer freien parlamentarischen Regierung in Flammen stand, kam den Nazis sehr gelegen, so daß man glaubte, sie hätten das Feuer selbst gelegt. Wenn wir die Liste ihrer Verbrechen, die bekannt geworden sind, überdenken, können wir gewiß nicht annehmen, daß sie vor einfacher Brandstiftung zurückschrecken würden. Es ist jedoch nicht notwendig, die Streitfrage zu entscheiden, wer das Feuer angelegt habe. Wichtig ist allein, wer Nutzen aus dem Brande gezogen und welche Wirkung dieser Brand in der öffentlichen Meinung hervorgerufen hat. Die Nazis beschuldigten sofort die Kommunistische Partei, das Verbrechen angestiftet und ausgeführt zu haben, und waren sehr eifrig darauf bedacht, diese vereinzelte Brandstiftung als den Beginn einer kommunistischen Revolution auszugeben. Sie nutzten die entfachte Bestürzung aus und begegneten der angeblichen Revolution mit einer wirklichen. Das Reichsgericht hat zwar in dem darauf folgenden Dezember mit Mut und Unabhängigkeit, wie anerkannt werden muß, die angeklagten Kommunisten freigesprochen, aber die verhängnisvolle Entwicklung der Dinge, die die Nazi-Verschwörer so stürmisch vorangetrieben hatte, ließ sich nicht mehr ändern.

Am Morgen nach dem Reichstagsbrand erhielt Hitler von dem alten und kränkelnden Reichspräsidenten von Hindenburg die Unterschrift zu einer Verordnung, die weitgehende Rechte persönlicher Freiheit, wie sie in der Weimarer Verfassung enthalten waren, außer Kraft setzte.

Die Verordnung sah vor: die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins-und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen, sowie Beschränkungen des Eigentums, auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig (1390-PS).

[129] Das Ausmaß der Beschränkung der persönlichen Freiheit nach der Verordnung vom 28. Februar 1933 kann man am besten verstehen, wenn man sich die Rechte nach der Weimarer Verfassung, die aufgehoben worden waren, vergegenwärtigt:

»Artikel 114. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig.

Personen, denen die Freiheit entzogen wird, sind spätestens am darauffolgenden Tage in Kenntnis zu setzen, von welcher Behörde und aus welchen Gründen die Entziehung der Freiheit angeordnet worden ist; unverzüglich soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen.

Artikel 115. Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich. Ausnahmen sind nur auf Grund von Gesetzen zulässig.

Artikel 117. Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind unverletzlich. Ausnahmen können nur durch Reichsgesetz zugelassen werden. Artikel 118. Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.

Artikel 123. Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis fried lich und unbewaffnet zu versammeln. Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.

Artikel 124. Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine oder Gesellschaften zu bilden. Dies Recht kann nicht durch Vorbeugungsmaßregeln beschränkt werden. Für religiöse Vereine und Gesellschaften gelten dieselben Bestimmungen. Der Erwerb der Rechtsfähigkeit steht jedem Verein gemäß den Vorschriften des bürgerlichen Rechts frei. Er darf einem Verein nicht aus dem Grunde versagt werden, daß er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt.

Artikel 153. Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen.

[130] Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. Wegen der Höhe der Entschädigung ist im Streitfalle der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offenzuhalten, soweit Reichsgesetze nichts anderes bestimmen. Enteignung durch das Reich gegenüber Ländern, Gemeinden und gemeinnützigen Verbänden kann nur gegen Entschädigung erfolgen.

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.« (2050-PS.)

Man muß allerdings aus Billigkeit gegenüber Hindenburg hinzufügen, daß die Verfassung selbst ihn ermächtigte, diese Grundrechte vorübergehend außer Kraft zu setzen, »wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird«. Es muß auch zugegeben werden, daß Reichspräsident Ebert bereits früher dieses Recht ausgeübt hatte.

Der nationalsozialistische Staatsstreich wurde aber dadurch möglich, daß sich die Bestimmungen der von Hitler und Hindenburg erlassenen Verordnung von allen früheren Verordnungen ähnlicher Art unterschieden. Wenn Ebert die Bestimmungen der Verfassung über die Rechte des Einzelnen außer Kraft gesetzt hatte, war in seiner Verordnung ausdrücklich ein Schutzhaftgesetz, das der Reichstag während des vorigen Krieges im Jahre 1916 angenommen hatte, wieder für gültig erklärt worden. Dieses Gesetz bestimmte Vorführung vor den Richter innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der Verhaftung, gab das Recht auf einen Verteidiger und auf Einsicht in die Akten, gestand die Berufung zu und sah bei ungerechtfertigter Verhaftung einen Entschädigungsanspruch aus der Staatskasse vor.

Die von Hitler und Hindenburg erlassene Verordnung vom 28. Februar 1933 enthielt solche Sicherungen nicht. Daß sie fortgelassen waren, mag Hindenburg nicht bemerkt haben; bestimmt hat er die Folgen nicht vorausgesehen. Die Nazi-Polizei und die Parteigliederungen, die ja bereits unter Hitler bestanden und gearbeitet hatten, waren nun nach der Herausgabe dieser Verordnung völlig ungehemmt und nicht gebunden an irgendwelche Verantwortlichkeit. Jemanden im geheimen verhaften und auf unbestimmte Zeit festhalten zu können, ohne Anklage, ohne Beweismaterial, ohne Verhör und ohne Rechtsbeistand, hieß, jeden einer unmenschlichen Bestrafung auszusetzen, der der Nazi-Polizei verdächtig oder mißliebig war. Kein Gericht konnte dagegen Einspruch erheben oder die Entlassung aus der Haft verfügen oder Einsicht in die Akten zur Nachprüfung verlangen. Das deutsche Volk war in [131] den Händen der Polizei, die Polizei in den Händen der Nazi-Partei und die Partei in den Händen einer Gruppe von Übeltätern, als deren überlebende und maßgebende Führer die Angeklagten hier vor Ihnen sind.

Die Nazi-Verschwörung wollte, wie wir zeigen werden, nicht nur den Widerstand ihrer Gegner überwinden; sie war vielmehr stets darauf aus, die Kräfte zu vernichten, die mit ihrer Staatslehre nicht versöhnt werden konnten. Sie wollte nicht nur die sogenannte »Neue Ordnung« errichten, sondern auch ihre Macht, wie Hitler voraussagte, »auf tausend Jahre« sichern.

Die Nazis waren sich nun niemals im Zweifel oder uneinig darüber, wer diese Widerstrebenden seien. Einer der ihren, Generaloberst von Fritsch, umschrieb sie am 11. Dezember 1938 in knapper Zusammenfassung mit folgenden Worten – und ich hebe sie nachdrücklich hervor, weil sie den Vernichtungsplan des Nazi-Programms so deutlich identifizieren –:

»Kurz nach dem Weltkrieg kam ich zu dem Schluß, daß wir in drei Schlachten siegen müßten, wenn Deutschland wieder mächtig werden sollte: erstens im Kampf gegen die Arbeiterschaft – Hitler hat diesen Kampf gewonnen, zweitens gegen die katholische Kirche, vielleicht besser gesagt: gegen den Ultramontanismus, und drittens gegen die Juden« (1947-PS).

Der Kampf gegen diese Gruppen wurde nie unterbrochen. Er wurde aber im Innern nur als ein Übungsgefecht geführt zur Vorbereitung des Feldzuges gegen die gleichen Kräfte in der ganzen Welt. Wohl lassen sich geographisch und zeitlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenfassen und unterscheiden: einmal innerhalb Deutschlands vor und im Kriege, und zum anderen in den besetzten Gebieten während des Krieges. In den Plänen der Nazis aber waren sie nicht voneinander getrennt. Sie gehören zu dem einheitlichen und fortlaufend betriebenen Plan, Völker und Einrichtungen auszurotten, von denen einmal der Sturz ihrer »neuen Weltordnung« ausgehen könnte.

Wir betrachten daher in unseren Darlegungen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Ausdruck eines einheitlichen Planes der Nazis und halten uns bei ihrer Untersuchung im einzelnen an die Einteilung des Generalobersten v. Fritsch:


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 2, S. 111-132.
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