Schauen

[1380] Schauen, verb. reg. act. et neutr. welches das Hülfswort haben erfordert, und mit sehen einerley Abstammung und Bedeutung hat, nur daß es der Oberdeutschen Mundart, in welcher es eigentlich einheimisch ist, mehr angemessen ist, als den übrigen, welches so wohl aus dem stärkern Zischer, als auch aus dem hohen Doppellaute an erhellet. 1) Mit scharfer Aufmerksamkeit sehen, genau sehen, ingleichen besichtigen; in welcher Bedeutung es eigentlich ein Intensivum von sehen ist, welche Intension von dem stärkern Zischlaute sch herrühret. In dieser Bedeutung ist es besonders in einigen Fällen im Oberdeutschen üblich. Das Fleisch schauen, es besichtigen. Das Brot schauen, besichtigen. In den Niederdeutschen Marschländern hält man ein Schauen, wenn die Deiche von der dazu gesetzten Obrigkeit besichtiget werden. S. auch Schau. 2) In weiterer Bedeutung wird es im Oberdeutschen durchgehends für das Zeitwort sehen gebraucht, es sey nun ein Neutrum oder ein Activum. Ich habe es geschauet, gesehen. Schau, siehe. Abraham wandte sein Angesicht gegen Sodom – und schauete, und siehe, da ging ein Rauch auf, 1. Mos. 19, 28. Schaue gen Himmel, und siehe, und schaue an die Wolken, Hiob 35, 5. Schaut, daß ihr sie bewegt, Opitz; sehet zu.


Die Alten wollten nicht verstehn

Die Wunder im Ägyptenlande,

So sie geschaut durch dich ergehn,

Opitz. Ps. 106.


[1380] In der gemeinen Sprechart der Hochdeutschen ist es in keiner von beyden Bedeutungen üblich, wohl aber in der höhern, besonders poetischen, wo es sehr häufig für sehen gebraucht wird.


Auf seinen Wangen ist zu schaun

Anstatt der Jugend Milch, ein lebhaft männlich Braun,

Haged.


Eine bloß biblische, vermuthlich auf eine Morgenländische Figur gegründete Bedeutung ist es, wenn dieses Wort für vorher sehen und vorher verkündigen, weißagen, gebraucht wird. Ihr sollt uns nicht schauen die rechte Lehre, Es. 30, 10. Schauet uns Täuscherey, ebend. Daher Luther auch die Propheten so wohl Schauer als Seher nennet, weil sie gleichsam in die Zukunft schauen oder sehen. Daher das Schauen, und die Schauung, welches letztere doch nur in Zusammensetzungen üblich ist.

Anm. Schon bey dem Kero, Ottfried u.s.f. scouuon, bey dem Willeram skouuen, im Nieders. doch nur in einigen aus dem Oberdeutschen entlehnten Fällen, schauen, im Schwed. mit einem intensiven Endlaute skåda, im Hebr. שעה, im Griech. mit dem gleichbedeutenden th, θεαειν. Kero gebraucht es noch in der ersten intensiven Bedeutung, denn bey ihm ist scauuon forschen. Im Angels. ist sceavian, und im Engl. to shew, factitive, sehen machen, d.i. zeigen.

Die Bedeutung des Sehens ist nur eine von den vielen, welche diesem Zeitworte, wenn es in seiner ursprünglichen Bedeutung und in seinem ganzen Umfange betrachtet wird, zukommt. Der stärkere und schwächere Sibilus s und sch sind in der Natur gegründete Ausdrücke eines zischenden Lautes und der damit verbundenen, gemeiniglich schnellen und gelinden Bewegung, und vermittelst der Endung -en, entstehen daraus die Zeitwörter schaen, scheen, schauen, saen, seen u.s.f. welche ursprünglich gewisse mit diesem Laute verbundene Bewegungen bedeuten und in allen Sprachen noch eine große Menge Nachkommen hinterlassen haben. Davon stammen denn See, Schau, eine Flagge, so, schehen in geschehen u. a. m. her. Mit den gewöhnlichen intensiven und frequentativen Endungen bezeichnen schauern, schaudern, scheuern, schütten, schütteln u.s.f. allerley Abänderungen dieser Bewegung.

Die Bedeutung des Lichtes ist in allen Sprachen eine Figur der schnellen Bewegung, daher kommt bey den Schwäbischen Dichtern noch schowe für Gestalt, Aussehen, eigentlich Schein vor, welches letztere selbst hierher gehöret, indem es so mit Sonne, Sol, Schemen, Schatten, schier u.s.f. sich nur im Endlaute unterscheidet. Die Bedeutung des Scheines, Leuchtens, gehet sehr leicht in die Bedeutung des Sehens über, welches doch nichts anders ist, als das Scheinen empfinden, und so bekommen wir unser sehen und dessen Oberdeutsches Intensivum schauen, nebst dem Engl. Factitivo to shew, zeigen.

Alle Zeitwörter, welche eine schnelle Bewegung bedeuten, bezeichnen sie auch in engerm Verstande nach verschiedenen Richtungen. So fern schauen auch diese Bewegung in die Tiefe, oder in einem hohlen Raume bedeutet, stammet daher die Bedeutung eines Behältnisses, Gefäßes, einer Bedeckung u.s.f. Daher das veraltete Schauer, ein Becher, Schauer, ein bedeckter Ort, unser Scheuer oder Scheure, und mit verschiedenen Endlauten Schaube, Schutz, Schaff, Schaufel u.s.f.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 1380-1381.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika