Homer

[214] Homer, einer der ältesten und zugleich der berühmtste Griechische Dichter. Sein Vaterland, Geburtsort, Bildung, Schicksale und Tod – alles ist zweifelhaft und durch Mährchen und Volkssagen von den frühesten Zeiten an so entstellt, daß es beinahe unmöglich wird, hierin zu einiger Gewißheit zu kommen. Wahrscheinlich ist die Zeit seiner Blüthe in dem zehnten Jahrhunderte vor Chr. Geb. und seine Vaterstadt in Jonien zu suchen. Die Sage von seiner Blindheit ist eben so verdächtig, als die Erzählungen von seiner Gelehrsamkeit und großen Reisen zweifelhaft sind. Als herumziehender Barde, der bei öffentlichen Gastmählern und andern Festlichkeiten Gedichte absang, hatte Homer viele Kleinasiatische Städte durchwandert, und als freier und sorgfältiger Beobachter der Natur auf diesen Reisen seinen Geist gebildet und seine natürlichen Anlagen zur Dichtkunst veredelt und erhöht. Da die Griechen in jenem Zeitalter, so wie jedes Volk in den frühern Perioden seines Daseins, viel Geschmack an der Erzählung der Thaten ihrer Vorfahren, ihrer Kriege und kühnen Unternehmungen fanden; so benutzte der Dichter diese allgemeine Stimmung, und nahm den Stoff zu seinen Gedichten aus dem alten Helden-Zeitalter, worin Götter und Menschen in vertrautem Umgange standen, und die letztern die zürnende Rache oder den wohlthätigen Schutz der erstern unmittelbar empfanden. In dem einen Gedichte, welches den Namen der Ilias führt, besang er eine Handlung aus der berühmten Unternehmung der Griechen gegen Troja, und in dem andern, der Odyssee, die Abenteuer, welche der Held Ulysses auf der Rückkehr in sein Vaterland zu bestehen hatte. Beide Gedichte sind auf unsere Zeiten gekommen; ob in ihrer ursprünglichen Form? – darüber sind die Meinungen der größten Kritiker von jeher getheilt gewesen. Am scharfsinnigsten hat der gelehrte Wolf in Halle [214] diese Frage in neuern Zeiten erörtert und sich zu zeigen bemüht, daß die einzelnen Gesänge der Ilias und Odyssee nicht alle von Homer herrühren, sondern mehrere Verfasser haben und in spätern Zeiten in die jetzige Ordnung gebracht worden sind. Da es beinahe als gewiß anzunehmen ist, daß Homer seine Gedichte nicht aufgeschrieben, sondern durch mündliche Ueberlieferung auf die Nachwelt gebracht hat; so bekommt diese Hypothese dadurch viel Wahrscheinlichkeit. So schwankend aber auch die Meinungen der Gelehrten hierüber sind, so gewiß ist doch der Werth dieser Gedichte an sich entschieden. Aeltere und neuere Kunstrichter stimmen darin überein, daß man in der epischen Gattung nichts Vollendeteres lesen könne als die Ilias und Odyssee. Unter den Uebersetzungen, die man in allen Sprachen davon veranstaltet hat, zeichnet sich keine so vortheilhaft aus, als die Deutsche von Voß, welcher mit der sorgfältigsten Genauigkeit sich an das Original gehalten und die Eigenthümlichkeiten der Griechischen Sprache so viel als möglich in die Deutsche übergetragen hat.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 214-215.
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