Liebmann, Otto

[409] Liebmann, Otto, geb. 1840 in Löwenberg (Schlesien), Prof. in Straßburg, seit. 1882 in Jena.

L. gehört zu den Neukantianern, ist aber auch von Plato, Aristoteles,[409] Spinoza, Leibniz u. a. beeinflußt und wird auch zu den »Halbkantianern« gerechnet. In seiner ersten Schrift »Kant und die Epigonen« (1865) wird wiederholt gefordert, es müsse »auf Kant zurückgegangen« werden. Wenn auch Einzelheiten der Kantschen Vernunftkritik nicht haltbar sind. so ist nach L. die Transzendentalphilosophie, der kritische Idealismus und Phänomenalismus bleibend. Das »Ding an sich« freilich ist ein »Unding«, ein »hölzernes Eisen«, Dinge gibt es nur als Erscheinungen, wenn auch den Objekten ein x, dem Subjekte ein y an sich zugrunde liegt. Die Außenwelt als solche ist ein durch die apriorischen Anschauungs- und Denkformen bedingtes »kephalozentrisches Phänomen«. Erst durch »Translokation« der Empfindungen in den Raum und durch unbewußte Beziehung derselben auf eine Ursache ersteht die Welt äußerer Objekte. Die Außenwelt ist als solche »nur ein Phänomen innerhalb unserer wahrnehmenden Intelligenz und daher den Gesetzen derselben unterworfen«. Aber die Ordnung der Wirklichkeit selbst zwingt uns, die Dinge und ihre Verhältnisse in bestimmter Weise aufzufassen, und zwar so, wie es jede uns gleichartige Intelligenz tut.

Es gibt verschiedene Arten und Schichten des A priori: relative Apriorität haben auch die Sinnesqualitäten. Apriorität ist aber nicht psychologische Subjektivität, sondern das A priori ist »metakosmisch«, das Gesetz für jede Intelligenz, das streng Allgemeine und Notwendige, die Grundform und Norm des Erkennens, das logische Prius von Körper und Seele, das Transzendentale. Eine »reine« Erfahrung wäre nur ein Chaos von Eindrücken, keine Erkenntnis. Eine solche ist nicht ohne Anwendung von Interpolationsmaximen möglich. durch welche das lückenhafte Wahrnehmungsmaterial zu einem zusammenhängenden Erfahrungsbestand durch Einschaltung der fehlenden Zwischenglieder ergänzt wird, und zwar durch das Prinzip der realen Identität, der Kontinuität der Existenz, der Kausalität, der Kontinuität des Geschehens. Raum und Zeit sind ideell (subjektiv), ein Produkt unserer Intelligenz, apriorische Anschauungsformen. Von der logischen Notwendigkeit ist die »Anschauungsnotwendigkeit« des euklidischen Raumes und der auf ihm basierenden geometrischen Axiome zu unterscheiden. Der gesehene Raum ist nur ein Bewußtseinsphänomen, aber in der absoluten Weltordnung besteht ein Grund für die Bestimmtheit unserer Raumvorstellungen. Ebenso für die Zeitvorstellung, die durch das identische Ich bedingt ist. Möglich ist die Existenz einer unendlichen »absoluten Intelligenz.«, welche über Raum und Zeit erhaben ist und den Grund des Seins darstellt. Erkennbar ist sie aber nicht.

Alle Metaphysik kann nur hypothetische, kritische Metaphysik sein, welche den Weltzusammenhang von unserem Standpunkt aus erfaßt, als »hypothetische Erörterung menschlicher Vorstellungen über Wesen, Grund und Zusammenhang der Dinge«. Das Universum läßt eine Ideen-Ordnung erkennen. Die Ideen, die unveränderlichen Grundlagen der Entwicklung, sind »Gesetzeskomplikationen«, denen gemäß bei einem bestimmten Zustand der Materie ein Mensch oder ein Individuum entspringen muß. Im Organismus tritt zum Mechanismus und Chemismus ein »rätselhaftes Plus« hinzu. Eine »Entelechie« ist hier unentbehrlich, der »idiotypische« Charakter des Organismus[410] nötigt zur Annahme einer solchen. »Das organische Leben ist mehr als ungebundenes Spiel physikalischer und chemischer Prozesse.« Ein »gestaltbildender Faktor«, der die Kräfte der anorganischen Natur als Mittel und Werkzeug braucht, ist anzunehmen. Der Mechanismus schließt die Teleologie nicht aus; der Zweck ist zwar kein konstitutiver Begriff, keine Kategorie, aber doch eine vernunftnotwendige Betrachtungsweise. – Das Bewußtsein ist eine Urtatsache, das Psychische nicht aus dem Physischen abzuleiten. Gegen einen strengen psychophysischen Parallelismus sprechen die Einheit des Ichs, die Freiheit des Denkens, der logische Charakter des Geisteslebens, während im Physischen alles mechanisch, nach physikalisch-chemischen Gesetzen erfolgt. In der Natur muß es aber eine objektive Vernunft (eine »Logik der Tatsachen«) geben. – Im menschlichen Leben wirken Werturteile als Wirklichkeitsfaktoren. Der Wert ist eine Relation des Objekts zum. urteilenden Subjekt, vermöge welcher es anderen Objekten derselben Gattung vorgezogen wird. Das Ja und Nein, als ursprüngliche Funktionen des Subjekts, setzt die Werte. Objektive Werte sind »objektivierte Bejahungen«. Ethik und Ästhetik sind Normwissenschaften, gehen auf das Sollen, auf objektive Werte. Die sittlichen Ideale haben absoluten Wert, sie sind Selbstzweck.

SCHRIFTEN: Kant und die Epigonen, 1865. – Über den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens, 1868. – Über den objektiven Anblick, 1869. – Zur Analysis der Wirklichkeit, 1876; 4. A. 1911. – Über philos. Tradition, 1883. – Gedanken und Tatsachen, 1882 ff. (2. A. 1904). – Die Klimax der Theorien, 1884. – Weltwanderung. philos. Gedichte, 1899. – Vgl. VAIHINGER und BAUCH, Zum 70. Geburtstag O. L.s, Festschrift der Kantstudien, 1910 (verschiedene Mitarbeiter).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 409-411.
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