Meinong, Alexius von Handschuchsheim

[461] Meinong, Alexius von Handschuchsheim, geb. 1853 in Lemberg, Prof. in Graz, Begründer des ersten psychologischen Instituts in Österreich (1894).

M., der von Brentano ausgegangen ist, aber dann eine eigene Schule begründet hat, galt erst als Vertreter des Psychologismus, ist aber jetzt, obwohl er immer noch der Psychologie eine fundamentale Bedeutung beimißt, durch seine »gegenstandstheoretische« Betrachtungsweise der Erkenntnis über den Psychologismus hinaus zu einer Art des Objektivismus (und Apriorismus, aber[461] nicht im Kantschen Sinne) fortgeschritten. Die Erkenntnistheorie basiert zwar auf Psychologie, ist aber kein Teil derselben und ebenso ist die Logik nicht bloße Psychologie, wenn sie auch eine psychologische Seite hat. Beide Disziplinen sind auch »gegenstandstheoretisch« zu fundieren.

Unter der Gegenstandstheorie versteht M. die Theorie dessen, was »aus der Natur eines Gegenstandes, also a priori, in betreff dieses Gegenstandes erkannt werden kann«. Sie ist die Lehre vom Gegenständlichen überhaupt, von den Gegenständen der Empfindungen, Vorstellungen, Begriffe und der Urteile, von den Objekten und »Objektiven«. Es gibt eine allgemeine und besondere Gegenstandstheorie (für die Mathematik, Psychologie, Logik usw.). Auch mit nicht existierenden und unmöglichen Gegenständen hat sie es zu tun, denn ihre Betrachtungsweise ist »daseinsfrei«, abstrakt, um die Realität des Gegenständlichen ist sie nicht bekümmert. Die Relationen der Gegenstände (Gleichheit, Verschiedenheit, Zählbarkeit usw.), welche a priori, unmittelbar und notwendig, mit Evidenz an ihnen einleuchten, fallen der Gegenstandstheorie zu (vgl. schon Leibniz, Hume, Wolff u. a.). Unabhängig von der Erfahrung lassen sich aus der Einsicht in die Merkmale und Relationen der Denkobjekte, auch solcher, denen nichts Reales entspricht, Erkenntnisse allgemeiner und spezieller Art gewinnen. Die gegenstandstheoretische Betrachtungsweise ist daher für alle Wissenschaften fruchtbar. »Gegenständlichkeit« ist die Fähigkeit der Vorstellung, Grundlage zu einer affirmativen Annahme abzugeben. Die Vorstellung hat einen »Inhalt« und ist auf einen Gegenstand gerichtet, der aber nicht reale Existenz haben muß (z.B. das runde Viereck). Die »Gegenstände« zerfallen in »Objekte« und »Objektive« (Urteilsgegenstände), d.h. gemeinte Sachverhalte (z.B. die Erde existiert, die Erde ist ein Planet), und zwar Seins- und Soseins-Objektive, auf welche die Prädikate: wahr, falsch usw. Anwendung finden. »Wahr« ist ein Urteil, sofern es ein seiendes Objektiv erfaßt, ein Urteil, dessen Objekt eine Tatsache ist; nicht der Urteilsakt ist wahr, sondern der Urteilsgegenstand, das »Objektiv«. Gegenstände »höherer Ordnung« sind die Relationen und Komplexionen; sie sind »Superiora«, die durch »Inferiora« fundiert sind. Die »Gestaltqualitäten« z.B. (vgl. Ehrenfels) sind nach M. »fundierte Gegenstände«. Die verglichenen Vorstellungsinhalte sind das »fundamentum relationis«. Zu unterscheiden sind Vergleichungs- und Verträglichkeitsrelationen. Apriorische Relationen (z.B. Weiß ist nicht Schwarz) werden daseinsfrei mit Evidenz erfaßt; apriorische Erkenntnisse sind »in der Natur ihrer Gegenstände begründet, haben Evidenz für Gewißheit und gelten mit Notwendigkeit ohne Rücksicht darauf, ob ihre Objekte existieren oder nicht«. Die Erkenntnis ist ein Urteil, das von innen heraus wahr ist, d.h. das ein Seiendes objektiv erfaßt; sie ist eine »Doppeltatsache«. Die Erfahrung als Wahrnehmung ist nicht bloß Vorstellung, sondern ein Existentialurteil mit positivem Objektiv, realen Objekten und Evidenz ohne Notwendigkeit. Der Gegenstand der inneren Wahrnehmung ist unmittelbar ein real Existierendes. Die Metaphysik beruht auf Erfahrung, über die sie aber hinausgeht.

Die psychischen Grundvorgänge sind nach M. Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Begehren. Für das Gefühl ist die Vorstellung eine psychologische Voraussetzung,[462] das Urteil nicht selten eine Mit-Voraussetzung. Es gibt Vorstellungs- und Urteilsgefühle. Das Urteil hat nicht nur eine »thetische« Funktion (Seinsurteil), sondern auch eine synthetische Funktion, welche das So-sein bestimmte Jedem Urteil kommt eine Überzeugtheit, ein Glaube an dessen Wahrheit zu. Ein Zwischengebiet zwischen Vorstellung und Urteil ist das Gebiet der Annahmen. »Annahme ist Urteil ohne Überzeugung.« »Urteil ist Annahme unter Hinzutritt der Überzeugung.« Die »Annahmen« spielen eine große Rolle in den Tätigkeiten der Phantasie, des Spieles, der Kunst, der Hypothese, der wissenschaftlichen Fiktionen usw., auch gegenüber unanschaulichen Gegenständen. Die Annahmen vertreten Urteile, sind »Phantasieurteile«, analog den. »Phantasiegefühlen« und »Phantasiebegehrungen«.

Die »Urteilsgefühle« sind entweder »Wissensgefühle«, die sich an den Urteilsakt knüpfen, oder Gefühle, die sich auf ein »Objektiv« beziehen, »Wertgefühle«. Diese entspringen einem Urteil über Existenz oder Nichtexistenz eines Objektes. »Werthaltung« ist »Existenzgefühl«, nämlich »das durch die Überzeugung vom Dasein oder Nichtdasein eines Objekts ausgelöste Gefühl«. Das »Bewerten« ist das Werturteil. Das »Werten« ist das Verhalten desjenigen, der auf die Annahme von der Existenz eines Objektes mit dem Phantasiegefühl reagiert. Ein Gegenstand hat Wert, »sofern er die Fähigkeit besitzt, für den ausreichend Orientierten, falls dieser normal veranlagt ist, die tatsächliche Grundlage für ein Wertgefühl abzugeben«. Jeder Wert schließt die Beziehung auf ein Subjekt ein, aber es gibt wahre, objektiv fundierte, und eingebildete Werte. Die Werttheorie ist auch die Grundlage der Ethik, welche normativ ist, es mit dein zu tun hat, wie die Menschen ein Tun und Lassen werthalten. Das eigentlich Wertgehaltene ist hier die Gesinnung, aber auch der Erfolg ist von Wert. Sittliches Wertobjekt ist »der durch die betreffende Wollung betätigte unpersönliche Anteil am Wohl und Wehe der Mitmenschen«.

Schüler Meinongs sind Martinak, Witasek, Zindler, V. Benussi, R. Ameseder, W. Frankl, E. Mally, R. Saxinger, W. v. Biel u. a., von ihm beeinflußt sind auch Höfler, Ehrenfels, Kreibig, Oelzelt-Newin, H. Pichler u. a.

SCHRIFTEN: Hume-Studien: I. Zur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismuns, 1877. II. Zur Relationstheorie, 1882. – Über philosophische Wissenschaft, 1885. – Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des Gedächtnisses, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos., 10. Bd., 1886. – Phantasievorstellung und Phantasie, Zeitschr. für Philos. u. philos. Kritik, Bd. 95, 1889. – Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen, Zeitschr. f. Psychol. der Sinnesorgane II, 1891. – Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse, ib. VI, 1893. – Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894. – Über Werthaltung und Wert, Archiv für systemat. Philos. I, 1895. – Über die Bedeutung des Weberschen Gesetzes, Zeitschr. für Psychol. d. Sinnesorgane, XI, 1896. – Über Gegenstände höherer Ordnung, ib. XXI, 1899. – Abstrahieren und Vergleichen, ib. XXIV, 1900. – Über Annahmen, 1902; 2. A. 1910. – Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, 1904. – Urteilsgefühle, 1905. – Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, 1906. – Die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, 1907, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 461-464.
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